Freitag, 16. September 2016

Was die Wissenschaft weiß und was sie glaubt.

aus nzz.ch, 15.9.2016, 05:30 Uhr                                    Inhalt eines portablen Laboratoriums von J. J. Becher (17. Jahrhundert)

Wissenschaftskritik
Was die Wissenschaft weiß und was sie glaubt
Ist Geld neutral? Sind die Menschen an der Erderwärmung tatsächlich schuld? – Wie viel Glaube steckt in der Wissenschaft?

von
Mathias Binswanger


Im Normalfall stellen wir uns Wissenschaft und Religion als gegensätzliche Welterklärungen vor. In der Wissenschaft geht es um objektives Wissen und in der Religion um subjektiven Glauben. Das ist aber eine äusserst naive Vorstellung. Auch in der Wissenschaft spielt der Glaube eine zentrale Rolle, und nicht selten wird am Glauben an bestimmte Theorien oder Paradigmen wider besseres Wissen festgehalten. Man «weiss» das, was man wissen möchte und woran man glaubt.

In dieser Hinsicht tickt die Wissenschaft ganz ähnlich wie die Religion – heute nicht anders als damals.

Wissen wird wieder zu Glauben, sobald es seinen selbstevidenten Charakter einbüsst.

Als Christ wusste man in früheren Zeiten, dass Gott existierte. Der Glaube an ihn war dermassen selbstevident, dass er allgemein akzeptiertes Wissen darstellte. Doch wie der polnische Aphoristiker Stanislaw Jerzy Lec brillant formulierte: «Alle Götter waren unsterblich.» Wissen wird wieder zu Glauben, sobald es seinen selbstevidenten Charakter einbüsst. Die Aufklärung und die darauffolgende Säkularisierung nahmen dem Glauben seine Selbstverständlichkeit, und Nietzsche erklärte Gott im 19. Jahrhundert final für tot. Also sind überzeugte Christen heute gläubiger als früher, da sie wieder in echtem Sinne glauben, ohne zu wissen, ob Gott wirklich existiert.

Doch nicht nur der Tod Gottes wurde konstatiert, sondern auch jener vieler wissenschaftlicher Theorien, die früher allgemein akzeptiertes Wissen darstellten. Ein Beispiel dafür ist die im 18. Jahrhundert in der Chemie dominierende Phlogistontheorie. Gemäss dieser Auffassung enthalten alle brennbaren Körper einen Stoff, das sogenannte Phlogiston, der ihnen die Eigenschaft der Brennbarkeit verleiht. Die Existenz von Phlogiston schien in dieser Zeit bewiesen, und ein echter Chemiker «wusste» damals, dass sich Brennvorgänge nur so erklären liessen. Später, gegen Ende des 18. Jahrhunderts, wurde immer deutlicher, dass dieses Wissen in Wirklichkeit einem Irrglauben entsprach. Phlogiston entpuppte sich als Hirngespinst. 


Oder nehmen wir die Geschichte der Medizin. Bis ins 18. Jahrhundert «wussten» Ärzte, dass man durch das Betrachten von Urin (Harnschau) Krankheiten diagnostizieren konnte, da alle Zustände des menschlichen Körpers im Harnglas wie in einem Spiegel zu sehen waren. Folgerichtig entwickelte sich die Harnschau im Mittelalter zu einem eigentlichen Kult unter Ärzten, und das kolbenförmige Harnglas, die Matula, wurde zu ihrem Standessymbol. Dieses Vorgehen wurde zwar bereits vom berühmten Paracelsus im 16. Jahrhundert kritisiert, aber die Mehrheit der Ärzte sah in ihm einen Häretiker, dessen Abweichen von der richtigen Lehre mit aller Entschiedenheit bekämpft werden musste. Heute allerdings wissen wir: Paracelsus hatte recht. Die Diagnose von Krankheiten durch das Harnglas erwies sich als Aberglaube.

Geld ist nicht unschuldig

Nun gut, wird sich vielleicht mancher Leser sagen, das mag früher so gewesen sein, als die Wissenschaft noch in den Kinderschuhen steckte. Aber, so mag er weiter denken, die moderne Wissenschaft hat sich längst von solchen Glaubensbekenntnissen gelöst und ist nur noch der objektiven Erkenntnis verpflichtet. Doch das ist nicht der Fall.

Auch heute spielt der Glaube in den Wissenschaften eine prominente Rolle, etwa in der Ökonomie. Ein dort vehement vertretenes Glaubensbekenntnis betrifft die sogenannte Neutralität des Geldes. Geld darf zumindest langfristig keinen Einfluss auf das Wirtschaftsgeschehen haben, und die Wirtschaft lässt sich deshalb ohne Geld wie eine Tauschwirtschaft beschreiben. Dieses «Wissen» unterscheidet die eingeweihten Ökonomen von dem «dummen» Rest der Welt, der unter Geldillusion leidet und fälschlicherweise glaubt, die Schaffung von mehr Geld könne die Wirtschaft längerfristig beeinflussen.

In Wirklichkeit ist der Glaube an die Neutralität des Geldes indes selbst eine Illusion. Sobald man Investitionen mit neugeschaffenem Geld finanziert und die Wirtschaft durch neue Verfahren oder Produkte verändert, hat eine Erhöhung der Geldmenge reale Auswirkungen, die sich nicht mehr rückgängig machen lassen.
Wäre Geld nicht neutral, dann verlöre die heute gelehrte 

Warum ist dann der Glaube an die langfristige Neutralität des Geldes bis heute trotzdem sakrosankt? Die Antwort lässt sich leicht finden. Wäre Geld nicht neutral, dann verlöre die heute gelehrte ökonomische Standardtheorie ihre Grundlage. Die Wirtschaft liesse sich dann nicht mehr als ein System von Tauschprozessen beschreiben, bei dem alle Konsum- und Produktionsentscheide gleichzeitig optimiert werden (allgemeine Gleichgewichtstheorie). Doch gerade diese gleichzeitige Optimierung ist das Herzstück der modernen ökonomischen Theorie, welche zeigt, dass ein perfekt funktionierender Markt stets zu einer optimalen Allokation von Gütern führt. Dieses Beispiel zeigt exemplarisch auf, dass sich in der Ökonomie oder in Sozialwissenschaften allgemeingültige Gesetze oft nur unter Zuhilfenahme von Glaubensgrundsätzen aufstellen lassen.

Weil das Wissen in vielen Sozialwissenschaften wesentlich auf Glaubenssätzen beruht, trennt man sich auch nur sehr ungern wieder von ihnen, selbst wenn sie aufgrund vernünftiger Überlegungen nicht mehr haltbar sind. Doch Vernunft ist auch in Wissenschaften ein äusserst dehnbarer Begriff. Wenn die dialektische Spannung zwischen Glaubensbekenntnis und Realität immer grösser wird, verwenden Wissenschafter auch verstärkt darauf Energie, das herrschende Glaubensbekenntnis zu verteidigen, was sich oft über lange Zeit als erfolgreich erweist. – Doch halt! Basieren moderne Wissenschaften und insbesondere Sozialwissenschaften nicht auf empirischer Evidenz? Lassen sich deshalb Fragen wie diejenige nach der Auswirkung von Geldmengenerhöhungen auf die reale Wirtschaft nicht einfach mit empirischen Untersuchungen beantworten? Leider nein! Der Glaube an die Möglichkeit der Falsifizierung oder Bestätigung von wissenschaftlichen Theorien und Hypothesen mithilfe von Datenanalysen ist heute zwar zentraler Bestandteil fast aller Wissenschaften, aber in Wirklichkeit selbst ein Irrglaube. Immer komplexer werdende statistische Verfahren und Methoden liefern auch eine immer komplexere Vielfalt von Resultaten, die alles andere als eindeutig, mithin interpretationsbedürftig sind. Durch «geeignete» Auswahl der Daten und des Zeitraums, durch «geeignete» Manipulation der Daten, durch die Auswahl «geeigneter» statistischer Verfahren und durch die Nichtpublikation von Resultaten, die der eigenen Position widersprechen, lassen sich viele postulierte Hypothesen oder Theorien je nach Interesse der Forscher bestätigen oder falsifizieren.

Das gilt beispielsweise für die oben angesprochene Frage nach der Neutralität des Geldes. Dazu gibt es mittlerweile unzählige empirische Studien, die in Hunderten von Fällen die Neutralität eher bestätigen und in Hunderten von Fällen sie eher widerlegen. Genauso ist es auch in der Medizin. Sorgen gesättigte Fettsäuren für ein erhöhtes Herz-Kreislauf-Risiko? Die Antwort lautet je nach Studie Ja oder Nein, und man kann sich das Resultat aussuchen, das mit der eigenen Überzeugung übereinstimmt.

Und die Erderwärmung?

Selbst ein heute so wichtiges Thema wie die Frage nach der Erderwärmung durch Treibhausgase lässt sich durch empirisch gestützte Untersuchungen letztlich nicht entscheiden. Gemäss dem letzten Klimareport des IPCC ist es «zu 95 Prozent sicher», dass die Erderwärmung überwiegend menschengemacht ist. Grundlage dieser Schlussfolgerung sind computergestützte Klimamodelle, welche die zukünftige Erderwärmung abschätzen. Nur leider sind die Ergebnisse je nach Modell und verwendeten Daten völlig unterschiedlich. Die Voraussagen variieren zwischen 0 und 10 Grad, und als wahrscheinlich gelten jetzt 1,5 Grad.

Die immer «exakter» und «raffinierter» werdenden Methoden dienen so am Schluss dazu, jeder vorgefassten Meinung einen passenden «Beweis» zu liefern.

Doch dann geht die Fragerei weiter. Sind diese 1,5 Grad tatsächlich auf menschliche Aktivitäten zurückzuführen, oder sind sie das Resultat natürlicher Klimaschwankungen? Für alle Hypothesen gibt es entsprechende Daten und damit wissenschaftliche Belege.

Die immer «exakter» und «raffinierter» werdenden Methoden dienen so am Schluss dazu, jeder vorgefassten Meinung einen passenden «Beweis» zu liefern. Denn je mehr Daten analysiert werden und je umfangreicher die Modelle werden, umso breiter ist auch die Angebotspalette an unterschiedlichen, aber allesamt «empirisch gestützten» Resultaten. Sowohl der Klimaschützer als auch der Klimaskeptiker finden heute ihnen genehme Forschungsergebnisse, die ihr «Wissen» bestätigen. Und so bestimmt am Schluss wie bei der Religion der Glaube, was wirklich gilt.

Halten wir also fest: Auch in der Wissenschaft hat der Glaube grosse Bedeutung. Was wir als Wissen bezeichnen, ist oft nur ein besonders intensiver und allgemein akzeptierter Glaube an Theorien oder Resultate. Damit soll keineswegs gesagt werden, dass es überhaupt kein Wissen gibt und letztlich alle Wissenschaft auf Glauben beruht. Aber es gibt weniger Wissen und mehr Glauben in der Wissenschaft, als uns die Wissenschaft glauben machen will.

Mathias Binswanger ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Fachhochschule Nordwestschweiz und Autor u. a. von «Geld aus dem Nichts» (2015) und «Sinnlose Wettbewerbe» (2012).


Nota. - Es ist löblich, dass Prof. Binswanger so einen Artikel schreibt und dass die Neue Zürcher ihn druckt. Doch Neues ist nicht darin. Für Wissenschaftlichkeit gibt es keinen Lackmus-Test, sie ist keine Ingredienz, die man ihrerseits wissenschaftlich nachweisen könnte. Was Wissenschaft ist und was nicht, erweist sich im wissenschaftlichen Betrieb. Wissenschaft ist eine gesellschaftliche Instanz, ihr Medium ist Öffentlichkeit. Sie steht - ähnlich wie ihre Schwester, die Kunst - am Rande der bürgerlichen Gesellschaft, Öffentlichkeit sichert ihre Distanz zu den Einzelinteressen; denn in der Wissenschaft selber konkurrieren Interessen, unter unter den Bedingungen der Öffentllichkeit blaibt es nicht aus, dass die Interessierten mit den Fingern auf einander zeigen. Und das reinigt.

Distanz heißt aber nicht Autonomie. Mögen die Wissenschaften als Instanz auch kritisch am Rande der Gesellschaft stehen - die Wissenschaftler ihrerseits leben mittendrin. Im wissenschaftlichen Betrieb konkurrieren die Interessen - Karriere und Renommé - von Individuen und überschaubaren Klüngeln; doch in der Gesellschaft gehören auch die Wissenschaftler großen Gruppen an, und deren Interessen sprechen sich weniger in Theorien und Lehrmeinungen aus, als in Ideologien. Die sind kein spezifisch wissenschaftliches, sondern vielmehr ein politisches Problem: Da mag ein ganzer Wissenszweig als Wissenschaft längst in Grund und Boden kritisiert worden sein; wenn die Interessen, denen er dient, mächtig genug sind, wird er noch Jhrhunderte forleben, obwohl er noch nie gekonnt hat, was angeblich der Wissenschaft vornehmste Aufgabe ist: Vorhersagen möglich zu machen.

Soviel zur Volkswirtschaftslehre und der "Neutralität des Geldes"; sie dient unmittelbar der Legitimierung des einen oder andern Regierungshandelns. Dass es sie gibt, ist ein Politikum, wissenschaftlich ist es ohne Belang. Das einzige, was an der Politischen Ökonomie wissenschaftlich sein kann, ist ihre Kritik

Dass Binswanger den Streit um die Erderwärmung damit auf dieselbe Stufe stellt, zeigt nur, dass er das Problem nicht wirklich verstanden hat. Dass geldwerte Interessen im Spiel sind, ist offenkundig, aber die lassen sich nicht restlos indentifizieren, solange die empirischen Befunde noch so widersprüchlich sind. Die Masse der Daten reicht noch lange nicht aus - und wohl auch die Kapazität der Rechner nicht -, um wirklich aussagekräftige Modelle zu entwickeln. Es ist nicht einmal sicher, ob solche Modelle für das globale Klimageschehen theoretisch überhaupt möglich sind. 

Bei den Wirtschaftswissenschaften ist es anders: Da weiß man, da sollte man wissen, dass Modelle schlechterdings nicht möglich sind, jedenfalls nicht für das, was noch geschehen soll, sondern nur für Dinge, die längst geschehen sind. Warum? Weil die Wirtschaft kein Teil der Natur, sondern Teil unserer Geschichte ist, die gehorcht keinem Gesetz. sondern wir machen sie, wennauch unter nicht selbst gewählten Bedingungen, immer noch selber. und wie, das ist uinwägbar. Es hängt auch ein bisschen von den Ideologien ab, die in den Köpfen von Laien und Wissenschaftlern herrschen.
JE


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