Freitag, 19. September 2014

«Paradigmenwechsel».

aus nzz.ch, 19.9.2014, 11:30 Uhr



Seit alters wechseln die vier Jahreszeiten, die vier Mondphasen und die sieben Wochentage, buchstäblich ja «Wechseltage», und seit neuestem wechseln nicht so regelmässig, aber immer öfter auch die «Paradigmen». Im 5. Jahrhundert v. Chr. war das Wort bei dem griechischen Historiker Herodot, dem «Vater der Geschichtsschreibung», in das Licht der Wortgeschichte eingetreten, und vor einem halben Jahrhundert hat der amerikanische Wissenschaftstheoretiker Thomas S. Kuhn als Erster in einem sehr speziellen Sinn von einem «Paradigmenwechsel» gesprochen. Seitdem ist die prächtige Prägung von den Höhen der Wissenschaftstheorie in die alltägliche globale und lokale Politik übergewechselt; das jüngste Beispiel betrifft die Krankenversicherung, und mit dem «Beispiel» sind wir der Sache schon ganz nahe.

Das griechische parádeigma – so der originale, im modernen Euro-Wortschatz fast prägefrisch erhaltene Singular – hat Kopf, Rumpf und Schwanz, und das säuberlich geschieden: Vorneweg geht da das Präfix para-, «neben-, nebenbei-, nebenher-», wie in den nebenher laufenden «Parallelen» oder den neben den Text geschriebenen «Paragrafen»; darauf folgt der Verbstamm deik-, vor dem weichen Folgelaut deig-, sprachver- wandt mit unserem «zeigen» und in ebendieser Bedeutung; und hinterdrein kommt das verdinglichende Suffix -ma wie im «Trauma», der «Verletzung», oder im «Klima», der «Neigung» der Erdoberfläche gegenüber der Sonneneinstrahlung. Ein parádeigma: das ist, wortwörtlich verdolmetscht, ein «Nebenbei-Gezeigtes». Das Wort führt uns zunächst in die Werkstätten der Handwerker und die Ateliers der Bildhauer und Maler. Seinen ersten Auftritt hat es in der makabren Schilderung, in der Herodot die hohe Kunst der ägyptischen Einbalsamierer beschreibt: «Wenn denen ein Leichnam gebracht wird, zeigen sie – deiknyousi – denen, die ihn bringen, hölzerne, bemalte Muster – paradeígmata – einbalsamierter Leichname . . .» Da wird das Wort zum Bild: hier der zur Mumifizierung hergebrachte Tote und «daneben» zur Auswahl die drei hölzernen «Zeigestücke» der aufwendigsten und teuersten, einer billigeren und der billigsten Ausführung. Ein andermal, wieder bei Herodot, bezeichnet das parádeigma das – doch wohl auch hölzerne – Modell des alten Tempels in Delphi.

Im 4. Jahrhundert v. Chr. finden wir das Wort auf die leibhaftigen Modelle der Bildhauer und Maler bezogen und weiter in bildlicher Sprache, im Sinne eines «Vorbilds», auf die platonischen Ideen: In seinem utopischen «Staat» erklärt Platon, eine Polis-Gemeinschaft könne niemals anders zu einer glücklichen Verfassung kommen, als wenn die «Maler» – die Gesetzgeber – ein «göttliches parádeigma» vor Augen hätten, sie davon abzumalen. Und wie der Staat, so das All: Einzig im Hinschauen auf ein «ewiges parádeigma», heisst es entsprechend in Platons «Timaios», könne der göttliche Baumeister des Alls diesen Kosmos, «den schönsten von allem Gewordenen», erschaffen haben.

Seinen Weg in den Euro-Wortschatz hat das «Paradigma» aber nicht auf diesen Höhenflügen gefunden, sondern per pedes: auf der viele Jahrhunderte langen staubigen Landstrasse des grammatischen Schulunterrichts. Seit der Spätantike bezeichnete das parádeigma alias – lateinisch – paradígma das Deklinations- oder Konjugations-«Beispiel» für die nach diesem Muster deklinierten oder konjugierten Nomina und Verben. Wie der Bildhauer im Atelier auf sein parádeigma von Fleisch und Blut schaute, um seine marmorne Venus zu schaffen, so schaute nun der Lateinschüler im Schulzimmer auf das Paradigma amo, amas, amat . . ., um nach diesem «Schulbeispiel» die übrigen Verben der a-Konjugation durch alle Tempora und Modi durchzukonjugieren.

In jüngster Zeit ist das «Paradigma» in Gestalt jenes wissenschaftstheoretischen «Paradigmenwechsels» aus der lateinischen in die politische Grammatik übergesprungen und zum gewichtigen Hieb- und Stichwort im politischen Diskurs geworden. Die Paradigmen verwechseln und dann falsch deklinieren oder konjugieren, das sollte hier bedeuten: die Bezugssysteme verwechseln und dann zu falschen Schlussfolgerungen und Entscheidungen kommen. Mittlerweile ist das Wort auch für weniger tiefgreifende Politikwechsel in Mode gekommen. Greek is beautiful, Wechsel ist gefährlich; und mit dem schicken, rätselhaften Vortrab dieses «Paradigmen-» fällt der mahnende Einspruch gegen den Wechsel gleich viel edler ins Ohr.



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