Mittwoch, 30. Juli 2014

"Religion ohne Gott"?

Ist religiös, wer den Carina-Nebel schön findet? Ronald Dworkin glaubte es.
aus nzz.ch, 30. Juli 2014, 05:30                                                                                                    Carina-Nebel


Ronald Dworkins «Religion ohne Gott»
Die leuchtende Schönheit des Universums



Nicht wenige Philosophen wenden sich, wenn sie ein gewisses Alter erreicht haben, den «letzten Dingen» zu. Ist das verwunderlich? Nein, denn erstens sind Philosophen auch nur Menschen, und zweitens entzündet sich philosophisches Denken ohnehin an der staunenswerten Tatsache, dass es etwas gibt und nicht vielmehr nichts – ebenso wie an der herausfordernden Erfahrung, dass das, was entsteht, auch wieder vergeht. Auch der eminente amerikanische Moral- und Rechtsphilosoph Ronald Dworkin, den niemand mit dem Evolutionsbiologen und fundamentalistischen Atheisten Richard Dawkins verwechseln wird, hat sich in den letzten Jahren seines Lebens verstärkt mit Fragen der Religion und der Theologie befasst. Davon zeugt sein letztes Buch: «Religion without God», das vergangenes Jahr, wenige Monate nach seinem Tod, erschienen und seit kurzem auch in deutscher Übersetzung zu haben ist. Es gibt den – vom Autor noch selbst überarbeiteten – Text wieder, der die Grundlage für die «Einstein Lectures» bildete, die Dworkin im Dezember 2011 an der Universität Bern hielt.

Eine «Macht»

Der Titel nimmt die Pointe vorweg: Religion ist für Dworkin etwas, das keines Gottes – keiner Gottesvorstellung und keines Gottesglaubens – bedarf. Auch Atheisten können mithin religiös sein, und nach des Autors Auffassung sind es viele auch – diejenigen nämlich, die, obgleich sie an keinen Gott glaubten, dennoch überzeugt seien, es gebe im Universum so etwas wie eine «Macht», die «grösser als wir» sei. Religion, so definiert Dworkin eingangs und vorläufig, sei eine umfassende Weltsicht, getragen von der Überzeugung, dass allem ein «objektiver Wert» innewohne, dass «das Universum und seine Geschöpfe Ehrfurcht gebieten, dass das menschliche Leben einen Sinn und das Universum eine Ordnung hat». Später kommen noch die empfundene Schönheit dieser Ordnung und eine angesichts all dessen verspürte «unausweichliche Verantwortung» hinzu, das eigene Leben «auf gute Weise zu führen» und dasjenige anderer «entsprechend zu achten».

Dworkin nennt, was er vor Augen hat, «religiösen Atheismus» oder «gottlose Religiosität» – und ebendas verleiht seiner These, der Glaube an einen Gott sei nur eine der «möglichen Manifestationen oder Konsequenzen» dieser Weltauffassung, einen reizvollen Schwung: Gottesglaube als variierende Fortsetzung oder Ausschmückung einer an sich «gottlosen» Bewunderung des Alls und einer ebenso «atheistischen» Ehrfurcht vor dem Leben.

Von Albert Einstein, in dessen Zeichen die Berner «Lectures» stehen, hat Dworkin sich offenkundig auch zu seinem Thema inspirieren lassen. Das einschlägige Einstein-Zitat lautet: «Das Wissen um die Existenz des für uns Undurchdringlichen, der Manifestationen tiefster Vernunft und leuchtendster Schönheit, die unserer Vernunft nur in ihren primitivsten Formen zugänglich sind, dies Wissen und Fühlen macht wahre Religiosität aus; in diesem Sinn und nur in diesem gehöre ich zu den tief religiösen Menschen.» Der erwähnte Evolutionsbiologe Dawkins versucht in seinem Buch «Der Gotteswahn», Einsteins Überschwang zu bremsen und die Formulierungen des Physikers darauf festzulegen, dass sie auf nichts «Übernatürliches» zielten, sondern allein auf die Naturgesetze. Dieser Deutung widerspricht Dworkin – zu Recht.

Auch wenn die Suche nach einem von dogmatischen Glaubenssätzen und theologischen Ansprüchen entlasteten Religionsbegriff nicht untypisch für unsere Zeit und ihren Trend sein mag, die Wellness-Zone «spirituell» zu erweitern – das Motiv, das sich in Ronald Dworkins Gedankenskizze abzeichnet, ist ein anderes. Der Philosoph möchte etwas zur Eindämmung der neuen Religionskriege beitragen, die er als «Kulturkriege» einschätzt und deren gefährlichste Frontlinie er (zumindest wohl in den Vereinigten Staaten) zwischen «Strenggläubigen» und jenen Atheisten à la Dawkins verlaufen sieht, die in der Religion den Grund aller erdenklichen Übel ausgemacht zu haben wähnen. Um Befriedung ging es Dworkin, der leider nie Richter am Supreme Court der USA geworden ist, stets, wenn er in gesellschafts- und rechtspolitischen Kontroversen das Wort ergriff. In der Auseinandersetzung um die Frage der Abtreibung versuchte er etwa, zwischen Gegnern und Befürwortern einer Freigabe zu vermitteln, indem er – verknappt gesagt – beiden Seiten bescheinigte, je auf ihre Weise dem Leben mit Ehrfurcht zu begegnen.

Den Weg zu der Brücke, auf der «religiös» gestimmte Atheisten und Gottgläubige einander friedvoll begegnen können sollten, versucht Dworkin (im ersten Teil des Buches) ganz ähnlich zu ebnen. Sein erklärtermassen «ökumenischer Vorschlag» umfasst neben der angedeuteten Erweiterung des Religionsbegriffs eine Unterscheidung, die er mit Blick auf die «herkömmlichen, theistischen Religionen» trifft: Deren Weltbild setze sich aus zwei Komponenten zusammen; die eine sage, was der Fall sei, beispielsweise, dass ein allmächtiger Gott die Welt erschaffen habe (Dworkin nennt sie verwirrenderweise die «wissenschaftliche» Komponente); die andere bestimme, was sein solle – sie lege die Werte und Normen fest, nach denen Anhänger dieser Religionen zu leben hätten. Unter diesen Wertvorstellungen und Verhaltensregeln gebe es auch solche, die nicht von dem Glauben an einen Gott abhingen.

Argumentationstechnisch entfaltet würde das alles noch diffiziler, zumal dann, wenn der moralphilosophische Unterbau in den Blick rückte, den Dworkin in seinem Opus magnum «Gerechtigkeit für Igel» (2012) errichtet hat. Aber man sieht auch so, worauf er mit der Operation hinauswill: Er sortiert Aspekte, die «gottesfürchtige» und «gottlose» Religiosität trennen, und solche, die sie verbinden. Sodann behauptet er, dasjenige, was die beiden Parteien trenne, sei «weit weniger wichtig» als das, was sie verbinde, und Letzteres sei «der Glaube an Werte» und deren «objektive» Realität – ein Glaube, der sich für ihn in allen religiös nicht unmusikalischen Gemütern regt, die die Schönheit des Alls bewundern und dem Leben mit Ehrfurcht begegnen. – Dass die bewunderungswürdige Schönheit des Universums nicht allein im Auge des Betrachters liege, ist Thema insbesondere des zweiten, gedanklich eher tastenden denn zugreifenden Teils. Dworkin spürt darin der Empfänglichkeit der Astrophysiker für die Eleganz des Unvermeidlichen nach, die sich in mathematischen Beweisen oder in der Hoffnung auf eine alles erklärende «Grand Unified Theory» bekunden könne. Am Ende glaubt er sagen zu können, die wissenschaftliche Hypothese, dass das Universum letzten Endes vollständig verstehbar sei, gehe mit der religiösen Überzeugung einher, «dass es vor wirklicher Schönheit erstrahlt» – zumindest für die, die Schönheit für etwas Reales hielten.

Religionsfreiheit, Lebenskunstwerk

Auf vertrauterem Terrain bewegt Dworkin sich im dritten Kapitel des Buches, in dem er das verfassungsrechtliche Problem der Religionsfreiheit und ihres Schutzes traktiert. Dies Problem wird nicht kleiner, sondern grösser, wenn unter «Religion» nicht nur Gottesglaube verstanden wird: Zwar sei es falsch, unvernünftig und schwer zu rechtfertigen, ausschliesslich theistische Religionen jenes Schutzes teilhaftig werden zu lassen. Ebenso abwegig aber erscheint es Dworkin jedoch, alle Weltanschauungen, die unter einen erweiterten Religionsbegriff fallen könnten – es wären naturgemäss auch «wilde und überspannte» dabei –, gleichermassen rechtlich zu schützen. Sein «radikaler» Vorschlag – Dworkin formuliert ihn hier nicht zum ersten Mal – ist nun, die Religionsfreiheit nicht mehr als «spezielles» Recht zu begreifen, das mit einem starken Schutzschirm gegen staatliche Eingriffe ausgestattet ist, sondern als ein «allgemeines» Recht, als eines, das so etwas wie «ethische Unabhängigkeit» garantiert, es aber erlaubt, die vom ihm verbriefte Freiheit in bestimmten Fällen einzuschränken, etwa wenn andere Rechtsgüter schwerer wiegen.

Auch in dieser Sache mögen die technischen – rechtstechnischen – Details auf sich beruhen. Im Ergebnis führt der Vorschlag, die Religionsfreiheit mit einem etwas kleineren Schutzschirm zu versehen, indes nicht dazu, dass Dworkin das schweizerische Minarettverbot akzeptieren müsste. Er erkennt darin vielmehr eine – ungerechtfertigte – «pauschale Ablehnung der Kultur und der Religion des Islams» und eine «Kriegserklärung an das egalitäre Ideal ethischer Unabhängigkeit».

Das religionsphilosophische Vermächtnis Dworkins lässt viele Fragen offen – und manche Behauptung bleibt Behauptung; so insbesondere die des Eröffnungssatzes: «Religion ist etwas Tieferes als Gott.» Auch ist nicht deutlich, was in dem friedenspolitischen Szenario einer Verständigung zwischen «gottesfürchtigen» und «gottlosen» Religiösen mit den Irreligiösen (den harten Naturalisten etwa) geschehen soll, denen auch das Universum und die Natur nichts sagen. Was sie Ronald Dworkin sagen, wird in einem kurzen vierten, dem letzten Kapitel des Buches noch um eine Facette bereichert. Tod und Unsterblichkeit sind das Thema, und der Autor lässt durchblicken, dass er geneigt ist, der romantischen Vorstellung Kredit einzuräumen, wonach die Sterblichkeit die Menschen herausfordere, aus ihrem Leben ein Kunstwerk zu machen und «etwas Gutes zustande zu bringen». In Dworkins Augen muss es nicht unbedingt ein grosses Lebenskunstwerk sein, das es uns ermöglichen könnte, dem Tod mit einer gewissen Gelassenheit entgegenzublicken.

Ronald Dworkin: Religion ohne Gott. Aus dem Amerikanischen von Eva Engels. Suhrkamp, Berlin 2014. 146 S., Fr. 33.90.


Nota.

Religio heißt die Verbindung zweier zunächst Getrennter. Erstens nämlich die Verbindung des endlichen, sinnlichen Menschen mit seiner unendlichen und übersinnlichen Übermacht. Dadurch zugleich aber zweitens der endlichen Menschen untereinander. Die Verbindung setzt Verbindlichkeit des einen gegen alle andern. Die gemeinsame Unterwerfung vereint die Gläubigen zum auserwählten Volk, zur Kirche, zur umma, zur Gemeinde. Der Akt der Unterwerfung (islam] und Verbindung heißt Bekehrung. Sie ist die ständige Herausforderung des Gläubigen an die Heiden: Folge mir! Es ist ein Gebot ihrer gemeinsamen Moral, dass sie sie immer wieder stellen.

Ohne diese an die Wurzel der Existenz reichende Spitze ist Religion nichts wert. Ein Wellnisprodukt wie ein Badezusatz oder Popmusik. Man merkt es Uwe Justus Wenzel an, dass er des Buchs, das er rezensiert, nicht froh geworden ist.

"Der Autor lässt durchblicken, dass er geneigt ist, der romantischen Vorstellung Kredit einzuräumen, wonach die Sterblichkeit die Menschen herausfordere, aus ihrem Leben ein Kunstwerk zu machen und «etwas Gutes zustande zu bringen»." Nicht die Sterblichkeit, sondern die Achtung vor sich selbst: Ein Leben, das sein Maß nicht außer sich sucht, ist ohne Würde. Man kann sein Leben natürlich ohne Würde zubringen. Es ist eine reine Geschmackssache. Geschmack hat man oder hat man nicht, darüber lässt sich nicht streiten. Bekehren muss man keinen, weil es gar nicht geht. Man kann ihn hier locken, da beschämen. Was er daraus macht, steht ganz in seinem freien Ermessen. Verbindlich ist da gar nichts. Ich unterstehe keinem Gebot und kann mich auf nichts herausreden. Mit andern Worten, ohne höhere Macht gibt es keine Religion und braucht man keine Religion.
JE



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