Mittwoch, 23. Januar 2019

Radikale Frühaufklärung in Deutschland.

Einer der prominenten Frühaufklärer: N...der der Lehre vom geistigen Eigentum.   | Foto: ÖNB 
aus Badische Zeitung, 23. Januar 2019                     Einer der prominenten Frühaufklärer: Nicolaus Hieronymus Gundling (1671–1729)

Eine Zeit intellektueller Vielfalt
Der Historiker Martin Mulsow hat eine fesselnde Geschichte der frühen Aufklärung geschrieben.

Von Harald Loch

Wer meint, eine Wissensgeschichte der Frühen Neuzeit könne nicht spannend sein, der nehme die beiden Bände "Radikale Frühaufklärung in Deutschland 1680 – 1720" von Martin Mulsow als Gegenbeweis zur Hand. Es geht im ersten Band um "Moderne aus dem Untergrund", im zweiten um "Clandestine Vernunft". Der Verfasser ist Professor für Wissenskulturen der europäischen Neuzeit an der Universität Erfurt. Er gilt als der umfassend gebildete Detektiv unter den Philosophiehistorikern, er ist in der europäischen gelehrten Welt um 1700 wie kein anderer heute zu Hause. 

Der erste seiner zwei Bände ist aus der Münchner Habilitationsschrift Mulsows hervorgegangen, die erst vor gut 15 Jahren etwa zeitgleich mit Jonathan Israels "Radical Enlightenment" ein inzwischen in ganz Europa etabliertes Forschungsgebiet begründet hat. In der damaligen Ausgabe hatte Mulsow schon den zweiten Band angekündigt, nun hat er ihn zusammen mit einer überarbeiteten Version des ersten vorgelegt. "Die Materialfülle", schreibt der Autor selbst in seinem Vorwort, "ist in der Tat überwältigend."

Hunderte von unbekannten Freidenkern ans Licht geholt

Die Zeit um 1700 muss sehr fruchtbar gewesen sein! Die unübersehbar vielfältige intellektuelle Landschaft der Frühaufklärung verlangt, dass Mulsow nicht nur prominente Gelehrte auftreten lässt, sondern auch Hunderte von kaum bekannten damaligen Freidenkern und verfolgten Autoren benennt und aus dem Vergessen emporholt. Er hat dazu rund hundert handschriftliche Quellen herangezogen, die er oftmals erst entziffern musste. Sie stammen aus Archiven in ganz Europa. Die Bibliographie der gedruckten Quellen umfasst über 30 Seiten, die der internationalen Forschungsliteratur enthält annähernd 1500 Titel. Was daraus entstanden ist, hat der Historikerkollege Kurt Flasch gewürdigt: "Die Bedeutung des monumentalen Werkes von Mulsow liegt darin, dass er bisher getrennte Strömungen vereinigt: die ideengeschichtliche Erforschung der Aufklärungsphilosophie, die bibliothekarische Erfassung der Clandestina und die Analyse der Kommunikationsweisen in der europäischen Gelehrtenrepublik um 1700."

Die Geschichte der radikalen intellektuellen Prozesse der frühen Aufklärung, die Mulsow durch Befragung der Quellen aufdeckt, die Entdeckungen, an denen er seine Leser teilhaben lässt, die Korrekturen, die er an oberflächlicheren Beschreibungen vornimmt – alles das ist atemberaubend und zudem fesselnd erzählt.

Was in einer Zeit von Zensur und Verfolgung im weltlichen und christlichen Absolutismus oft anonym geschrieben und manchmal sogar veröffentlicht wurde, ist nicht immer der Klartext der dahinterstehenden Gedanken. Verschlüsselung und Ironie, Perspektivenverlagerung in erfundene Erzählfiguren und Möglichkeitsformen aller Schattierungen fand der Verfasser in den meist klandestin, eben im "Untergrund", verfassten Quellen, deren eigentlicher Gehalt erst im Kontext mit Briefkorrespondenzen oder externen Kritiken erschlossen werden konnten.

Studentenulk mutierte mitunter zu einer Idee, auf die bisher niemand gekommen war, zu weiterführenden Gedanken. Vieles hatte einen religionskritischen, zuweilen auch antichristlichen Gehalt. Der Anteil der jüdischen Frühaufklärer, die sich besonders mit der Widerlegung von christlichen Weissagungsideologien beschäftigten, lösten bei manchen radikalen Frühaufklärern, die zumeist christlich sozialisiert waren, ein Aha-Erlebnis aus. Naturwissenschaftliche und medizinische Forschung bestärkten die Zweifel an vermeintlich unumstößlichen Glaubensgrundsätzen.

Die radikalen Frühaufklärer stellten vieles in Frage, errichteten aber keine homogene Gedankenwelt, sondern boten ein farbiges, oft in sich widersprüchliches und abenteuerliches Bild intellektueller Vielfalt. Ohne die erforderliche Freiheit wagten sich Freidenker aus der Deckung. Sie hinterließen ein Fundament, auf dem dann die Aufklärung im Sinne von Immanuel Kant entstehen konnte. Dieses durchaus noch schwankende Fundament sichtbar erscheinen zu lassen, verleiht Mulsows Werk seine Bedeutung.


Martin Mulsow: Radikale Frühaufklärung in Deutschland. Band 1: Moderne aus dem Untergrund, Band 2: Clandestine Vernunft. Wallstein Verlag, Göttingen 2018. Zusammen 1126 Seiten, 21 Abbildungen, 59,90 Euro.


Nota. - Die Rede von "deutschen Sonderweg" ist ja nicht falsch. Sie hat aber den Haken, dass sie den Verlauf unserer Geschichte im 20. Jahrhundert wie eine unvermeidliche Schicksalfügung erscheinen lässt. Alles, was nach 1945 die Schuld der Lebenden verringern konnte und sie den Toten zuschob, war willkommen und für den Neuanfang vielleicht unverzichtbar. Aber der gottlob gelungene Neuanfang liegt nun lange zurück, und vorbei ist die Zeit, wo Deutschland mit Rücksicht auf seine Vergangenheit weltpolitischen Verbindlichkeiten aus dem Weg gehen musste. Jetzt ist die Zeit, uns daran zu erinnern, dass wir nicht bloß mit unserer Schuld alle andern weit hinter und gelassen haben - sondern auch mit unsern Möglichkeiten nicht hinter ihnen zu- rückstehen und, wenn erforderlich, auch mal einen ersten Schritt voran tun können.
JE

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen