Dienstag, 6. Dezember 2016

Unsere Wahrnehmung macht uns zu Individuen, unsere Erinnerung macht uns zu Standardwesen.


openculture
aus Die Presse, Wien,

Wir alle haben etwas Sherlock Holmes im Kopf
In der Wahrnehmung der Welt sind wir Individuen. Aber beim Erinnern daran werden wir eher gleich.
 

Was jeden von uns einzigartig macht, ist die Lebensgeschichte bzw. die Erinnerung daran. Die stiftet individuelle Identität, und sie prägt die Sichtweise, ein Kenner betrachtet ein Kunstwerk mit anderen Augen als ein Laie. Aber wenn beide zur gleichen Gruppe gehören, teilen sie auch Erinnerungen bzw. Erzählungen davon, das stiftet soziale Identität. In jedem Fall darf die Erinnerung nicht zu scharf sein, Jorge Louis Borges hat es in „Das unerbittliche Gedächtnis“ vorgeführt: Der Protagonist ist damit geschlagen, dass er jedes Detail seiner und der parallelen Geschichte der Welt (wahrnimmt und) erinnert.

Damit kann man nicht leben, Erinnerungen müssen verdichtet werden, vieles muss herausgefiltert und dem Vergessen überlassen werden. Immerhin, es gibt Gedächtniskünstler, zumindest fiktive, einer der bekanntesten hieß Sherlock Holmes. Die BBC hat seine Abenteuer 2010 neu verfilmt, die erste Folge hieß „Study in Pink“. Und den ersten Teil davon, immerhin 48 Minuten lang, hat Hirnforscherin Janice Chen (Princeton) 22 Testpersonen vorgeführt, die mussten dazu in einer Magnetresonanzröhre Platz nehmen. Bequem ist das nicht, aber die Probanden blieben freiwillig noch viel länger. Denn nach der Vorführung wurden sie gefragt, was sie gesehen hatten, dann konnten sie frei drauflos erzählen. Sie taten es, manche 20 Minuten lang oder noch länger.

Einzigartigkeit? Nein, Mittelmaß!
 
Klären wollte Chen, wie bzw. wo im Gehirn Wahrnehmungen zu Erinnerungen verfestigt werden. Dabei zeigte sich zunächst, dass beim Wahrnehmen und beim Erinnern die gleichen Regionen aktiv sind. Das war nicht überraschend. Aber das: Chen hat alle Erinnerungen bzw. Hirnmuster gemittelt und sie dann mit den individuellen Werten verglichen: Die wichen bei der Wahrnehmung viel stärker voneinander ab als bei der Erinnerung (Nature Neuroscience 5. 12.).
 
Spannend, fast wie ein Sherlock Holmes, ist das deshalb, weil das Erinnern in höheren Regionen des Gehirns läuft – und die hält man für den Sitz der Individualität. Aber just dort geht es wenig individuell zu, jeder von uns erinnert wie der andere, natürlich auch ein wenig wie Holmes selbst: „Wie glauben, dass unsere Erinnerungen einzigartig sind“, schließt Chen, „aber wir haben viel darin gemeinsam, wie wir die Welt erinnern.“


Nota. - Ein jeder von uns hat eine andere Lebensgeschichte. Und würden sie sich alle genau an dieselben Dinge erinnern und genau dieselben Dinge vergessen: Es hätte am Ende jeder eine andere Erinnerung.

Wie ist das mit der Erinnerung an das Weltgeschehen? Hier wurden Probanden in eine Röhre gesteckt, wo sie nichts ablenken konnte, und ein Film gezeigt, zu dem sie hinterher befragt werden sollten. Ihre Wahr- nehmung war in äußerster Weise fokussiert.

Das ist aber nicht der Modus, in dem wir normalerweise unsere Welt erleben. Da kommen in unvorherseh- barer Weise Reize mal tausendfach, dann nichtmal mehr tröpfencheweise auf uns zu, da können wir uns mal wegen zuviel, mal wegen zu wenig nicht mehr konzentrieren - oder fröhlich im Material schwelgen. Es ist dieser Modus, den die Psychologen hätten testen müssen, um die Erinnerungsleistungen damit zu ver- gleichen: das unmittelbare Erleben, nicht das Aufmerken im Labor.

Man kann argumentieren: Wenn noch das labormäßig vorsortierte Wahrnehmen individuell mannigfaltig ist und das abgefragte Erinnern standardisiert, umso mehr müsste das doch auf die spontan ungeordnete Wahr- nehmung des Alltagserleben zutreffen! Das liegt nahe, ja. Aber sie wussten beidemale: Hinterher werden sie befragt. Das ist nicht normal, sondern labormäßig. Und es ist vielleicht das Sortieren des Erinnerten auf diese Abfage hin, das die Erinnerung sozial konformisiert: Das liegt wenigstens ebenso nah.
JE



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