Sonntag, 6. November 2016

Bin ich mein Selfie?

aus nzz.ch, 6.11.2016, 05:30 Uhr
Das «Ich» in einer Welt aus Bilder 
Bilder sind in unserem Alltag allgegenwärtig. Nun wollen Natur- und Geisteswissenschafter gemeinsam erforschen, wie sie die Selbstwahrnehmung und unsere Beziehungen verändern.

von Lena Stallmach

Schon Kleinkinder setzen sich intensiv mit ihren Bildern auseinander. Überall werden sie fotografiert und lassen die Momentaufnahmen auch gern Revue passieren. So kommt es, dass Kinder schon früh in ihrem Leben regelmässig eine Aussenperspektive einnehmen. Sie erinnern sich an den Moment nicht aus der Innenperspektive mit all den Gefühlen, die sie dabei hatten, sondern als Betrachter der Szene. Bald machen sie selber Fotos und teilen sie in den sozialen Netzwerken. Der Neuropsychologe Manos Tsakiris will untersuchen, was diese ständige Auseinandersetzung mit Bildern in uns auslöst, wie das die Selbstwahrnehmung verändert und die Beziehungen zueinander.

Es gebe schon viele Studien darüber, wie das Gehirn Bilder oder Gemälde visuell verarbeite. «Aber das interessiert uns weniger. Wir wollen wissen, welche körperlichen Gefühle die Bilder in uns auslösen, wie der Herzschlag reagiert, der Blutdruck oder die Schweissproduktion und wie das die Repräsentation des eigenen Körpers im Gehirn beeinflusst», sagt Tsakiris. Aus seiner früheren Forschung weiss er, dass die Wahrnehmung des eigenen Körpers leicht formbar ist.

Eine fremde Hand wird eigen

In einem interdisziplinär ausgerichteten Projekt namens Body & Image in Arts and Sciences (Bias), das von der Schweizer Nomis Foundation finanziert wird, strebt er dabei eine enge Zusammenarbeit mit Kunsthistorikern und Geisteswissenschaftern an, die schon seit Jahrhunderten untersuchen, wie Kunst und Bilder auf den Menschen wirken. «Jetzt wollen wir die beiden Traditionen zusammenbringen und eine gemeinsame Theorie und Experimente entwickeln», sagt Tsakiris.

Der gebürtige Grieche, der an der Royal Holloway University of London lehrt, hat in seiner Forschung die Selbstwahrnehmung wiederholt auf die Probe gestellt und dabei gezeigt, dass das Körper-«Ich» alles andere als konstant ist. Dafür griff er unter anderem auf ein in der Psychologie beliebtes Experiment zurück, die sogenannte «Gummihand-Illusion». Dabei bringt man Menschen dazu, dass sie eine Gummihand als zu ihrem Körper zugehörig empfinden. Das geht so weit, dass sie Angst und sogar Schmerzen spüren, wenn jemand ihre neue Hand mit einem Hammer attackiert.


Bei dem Experiment wird die echte Hand einer Versuchsperson von einem Sichtschutz verdeckt. Im Blickfeld liegt dagegen eine Gummihand (siehe Grafik). Werden diese und die eigene Hand gleichzeitig mit einem Pinsel gestreichelt, entsteht bei den meisten Personen nach einer Weile das Gefühl, dass sie die Berührung in der Gummihand spüren. Sie entwickeln ein echtes Körpergefühl für diese Hand. Der Trick funktioniert allerdings nur, wenn die Berührungen synchron ausgeführt werden.

Illusion ändert das Verhalten

Tsakiris Team zeigte vor einigen Jahren, dass die Illusion auch dann entsteht, wenn die Gummihand eine andere Hautfarbe hat. Weisse Versuchspersonen entwickelten dabei ein Körpergefühl für eine schwarze Gummihand – mit weitreichenden Folgen. Das Erlebnis veränderte ihre Einstellung gegenüber schwarzen Menschen. Sie waren ihnen gegenüber weniger voreingenommen. Dies zeigten die Forscher mit einem Fragebogen, der versteckten Rassismus aufdeckt. «Anhand von sensorischen Informationen produziert das Gehirn ein Modell darüber, was mein Körper ist», erklärt Tsakiris. Das Modell werde angepasst, wenn sich der sensorische Input verändere, und das beeinflusse, welche Distanz wir zu anderen empfänden.


Tsakiris geht von einem Körperbewusstsein aus, wie es der Neurowissenschafter und Bewusstseinsforscher António Damásio definiert hat. Das Körper-Ich entstehe durch den ständigen Austausch zwischen Körper und Gehirn. Der Körper sendet Signale über den Zustand der Organe. Aus dem Herzschlag, der Sauerstoffsättigung und dem physiologischen Gleichgewicht in unserem Blut entnimmt das Gehirn, ob es uns gut geht oder nicht. Das Gleichgewichtsorgan und die Muskeln teilen mit, in welcher Position sich der Körper im Raum befindet. Aus all diesen Informationen entsteht das Gefühl für den eigenen Körper, und daraus bildet sich das Körper-Ich.

Wo die Grenzen verschwimmen

Die Grenzen zwischen dem «Ich» und den anderen könnten aber auch im Alltag leicht verschwimmen, sagt Tsakiris. Zum Beispiel, wenn man sich mit einer geliebten Person eins fühlt. Oder wenn man mit jemandem mitfühlt. Man kann die Gefühle oder körperlichen Schmerzen eines anderen empfinden, als wären es die eigenen. Studien zeigen, dass im Gehirn dabei die gleichen Netzwerke aktiv werden, wie wenn man selbst diese Erfahrungen macht. Dennoch kann das Gehirn in diesem Moment unterscheiden, dass das, was es gerade fühlt, nicht im eigenen Körper geschieht, sondern ein Produkt der Vorstellungskraft ist. «Mich interessiert, wie man zwischen diesen verschiedenen Stadien der «Ich»-Wahrnehmung und der Verbindung mit anderen hin und her oszilliert», sagt Tsakiris.

Auch wenn man Bilder betrachtet, kann man sich auf verschiedenen Ebenen mit ihnen auseinandersetzen. Man kann wahrnehmen, was abgebildet ist, sich Gedanken über die Symbolik machen oder sich überlegen, was der Künstler oder Fotograf damit sagen will. Was der Betrachter mit einem Bild mache und wie es auf ihn wirke, hänge von verschiedenen Umständen ab, dem momentanen Gemütszustand und den äusseren Umständen, sagt Tsakiris. Die Biologie und die Kultur beeinflussten unsere Wahrnehmung und die Art, wie wir miteinander umgingen.


Deshalb könne man all die Fragen, was ist das Ich?, wie reagieren wir auf Bilder?, wo liegt die Grenze zwischen dem «Ich» und den anderen?, nicht losgelöst vom kulturellen Kontext untersuchen, sagt Tsakiris. Neurowissenschafter vernachlässigten dies manchmal, wohingegen Geisteswissenschafter in der Regel die biologischen Reaktionen ausser Betracht liessen. Nicht selten geraten sich Natur- und Geisteswissenschafter in die Haare, wenn es darum geht, diese Fragen zu beantworten. Mit «Bias» will Tsakiris die Gräben überbrücken.

Gemeinsame Sprache bilden

Das Projekt, das Anfang September am Warburg Institute der University of London startete, hat zwei Ziele: Einerseits geht es darum, eine gemeinsame Sprache und Theorie zu entwickeln, andererseits sollen darauf aufbauend Experimente entstehen, die verschiedene Fragestellungen zu dem Thema abdecken. Zum Beispiel, inwiefern Bilder von idealisierten Körpern beeinflussen, wie das Gehirn Signale aus dem Körper des Betrachters verarbeitet, zum Beispiel das Hungergefühl. Eine andere Idee ist, zu untersuchen, ob zum Beispiel Stresshormone beeinflussen, wie ein Betrachter ein Gemälde beurteilt.

Das Projekt sei ein riskantes Unterfangen, sagt Tsakiris. Denn der Erfolg hänge davon ab, wie der Dialog zwischen den Disziplinen verlaufe.



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