Freitag, 28. Oktober 2016

Denken heißt Erwartungen prüfen.

Meret Oppenheims, Pelztasse, 1936.
aus nzz.ch, 27.10.2016, 05:30 Uhr

Ich denke, also mache ich Voraussagen
Eine neue Theorie der Kognition beschreibt unser mentales Leben als ständigen Strom von Prognosen und Fehlerkorrekturen: Predictive Coding.

von Manuela Lenzen

Wer in der Philosophie des Geistes etwas werden wollte, war in den letzten Jahren gut beraten, sich ein solides Wissen in Neurowissenschaften und Psychologie anzulesen. Inzwischen empfiehlt sich vielleicht eher ein Mathematikstudium. Denn derzeit macht eine Theorie Karriere, die für manche das Zeug zu einer umfassenden Theorie der Kognition hat; sie heisst Predictive Coding oder auch Predictive Processing, voraussagendes Codieren oder voraussagende Datenverarbeitung, und stammt in ihrer aktuellen Form von dem britischen Neurowissenschafter Karl Friston.

Die erste Annahme der neuen Theorie: Das Gehirn tut alles, um seinen Energieeinsatz zu minimieren. Ihre zweite Annahme: Das gelingt dem Gehirn, indem es Voraussagen über die Zukunft macht, sie mit dem Ist-Zustand abgleicht und die Voraussagen aktualisiert. Das Gehirn «interessiert» sich demnach kein bisschen für seine Umgebung, sondern allein dafür, seinen eigenen Zustand stabil zu halten und Überraschungen zu vermeiden. Unser mentales Leben, unsere Handlungen, unsere Pläne, selbst Erinnerungen und abstrakte Gedanken sind demnach nur ein Mittel des Gehirns, hässliche Überraschungen in Grenzen zu halten.

Die glatte und feste Tasse
 
«Wenn Sie zum Beispiel nach einer Tasse greifen, erwarten Sie, dass sie sich glatt und fest anfühlt. Tut sie das, werden Sie es nicht weiter bemerken. Ist sie aber zum Beispiel weich und klebrig, läuten im Gehirn die Alarmglocken, und Sie wenden der Tasse Ihre Aufmerksamkeit zu: ‹Was ist denn da los?›» – So erklärt es Martin V. Butz, Professor für kognitive Modellierung an der Universität Tübingen. Dieses Verfahren spart Betriebsenergie, denn die höheren Ebenen der Kognition müssen sich nur mit dem befassen, was von den Erwartungen abweicht, mit den Voraussagefehlern. Alles, was den Erwartungen entspricht, wird auf den unteren neuronalen Ebenen abgehandelt.

Ganz neu ist diese Idee nicht, sie geht vielmehr auf Arbeiten aus dem 19. Jahrhundert zurück, auf Ansätze von Psychologen wie Johann Friedrich Herbart, Hermann von Helmholtz und William James. Sie entwickelten die Idee, dass unsere Wahrnehmung der Dinge der Welt davon abhängt, was wir mit ihnen machen können. Demnach sehen wir nicht einfach Objekte, sondern mögliche Handlungen, im Wissenschaftsidiom: «Affordanzen». Die Tasse fordert uns auf, Tee hineinzuschütten, sie zum Mund zu führen und zu trinken. Denn das ist es, was wir mit der Tasse verbinden, darin besteht der Begriff, den wir von ihr haben, und so ist sie auch in den Schaltkreisen des Gehirns «gespeichert».

Friston hat dieser Idee eine anspruchsvolle mathematische Form gegeben, die im Wesentlichen auf einer informationstheoretischen Analogie zum Prinzip der freien Energie aus Thermodynamik und Bayesscher Statistik beruht. «Tasse» ist darin nicht mehr einfach ein Begriff, sondern ein «Attraktor», auf den sich ein kognitives System einpendelt. Diese Theorie besagt nicht, dass Neuronen Gleichungen lösen. Sie ist vielmehr ein mathematisches Werkzeug, mit dem Forscher Denkprozesse modellieren und auch testen können: etwa indem sie die Aktivität der Neuronen simulieren und mit Messdaten vom Gehirn vergleichen. In der Tat werden eingehende Reize je nach Neuigkeitswert im Gehirn unterschiedlich stark abgeschwächt. Und auch die Anatomie spricht für die neue Theorie. So stammt etwa der allergrösste Teil der Reize, mit denen sich der für das Sehen zuständige Bereich des Gehirns beschäftigt, nicht von den Augen, sondern aus anderen Teilen der Grosshirnrinde: Das Gehirn befasst sich vor allem mit sich selbst.

Anschlussfähigkeit gegeben

Die Theorie des Predictive Coding hat sich zu einer Theorie «für alles» zu entwickeln begonnen. Auch Illusionen und Halluzinationen, Schizophrenie und Autismus werden damit zu erklären versucht – oder uneindeutige Wahrnehmungen wie der Eindruck, der Zug, in dem man sitzt, fahre los, obgleich sich der auf dem Nachbargleis in Bewegung setzt. Alles dies seien Ergebnisse falscher Voraussagen. Selbst die Neugier, die einem nur auf Überraschungsvermeidung ausgerichteten Gehirn fremd sein könnte, findet ihre Erklärung: Wir interessieren uns für alles, von dem wir uns etwas für unser Verhalten Relevantes versprechen, und auf die Dauer reduziert es eben Überraschungen, sich für überraschende Neuigkeiten zu interessieren.

«Die Theorie ist attraktiv, weil sie nicht unmittelbar von den neuronalen Prozessen im Gehirn handelt, sondern auf einer abstrakteren Ebene angesiedelt ist», sagt Wanja Wiese, Philosoph an der Universität Mainz. So könne die Theorie auf der einen Seite für Neurowissenschafter, auf der anderen für Kognitionsforscher anschlussfähig sein. Wiese ist ein Vertreter der jungen Generation in der Philosophie: Er hat ein Diplom in Mathematik, die Theorie des Predictive Coding macht ihm keine Angst. Sein Lehrer Thomas Metzinger, Professor für Philosophie des Geistes in Mainz, sieht das weniger entspannt: «Wenn sich diese Theorie durchsetzt, ist das für meine Generation das Aus.» Aber auch er spürt den philosophischen Sog des Predictive Coding. Immerhin verspricht der Ansatz einen einheitlichen begrifflichen Rahmen für Wahrnehmen, Handeln und Aufmerksamkeit: Scheinbar ganz unterschiedliche Phänomene erweisen sich als Ausdruck desselben formalen Prinzips. Und auch Fristons Wortwahl trägt dazu bei, die Philosophen neugierig zu machen: So sei der Körper selbst ein Modell der Welt, in der der Organismus sich entwickelt habe. Ob das mehr bedeutet, als dass der Körper eben in dieser bestimmten Umwelt entstanden ist, ist nicht recht klar, doch das Interesse ist geweckt und führt in der Philosophie zu neuen Konfliktlinien.

Da ist zum einen der Streit um die «Verkörperung» des Denkens. Die ältere Theorie besagt, dass wir im Kopf Repräsentationen für die Dinge in der Welt bilden und Denken darin besteht, mit diesen Repräsentationen mental zu hantieren. Der Theorie vom verkörperten Denken gemäss sind diese Repräsentationen nichts Abstraktes, sondern Körperzustände, die eng mit Handlungen, Emotionen und der Umwelt verknüpft sind. «Die letzten dreissig Jahre haben wir uns an den Gedanken gewöhnt, dass Kognition nicht nur im Kopf stattfindet. Der neue Ansatz verlagert das Denken jetzt wieder in den Kopf zurück», konstatiert Metzinger.

Und die «Voreinstellungen»?

Hier zeigt sich allerdings, dass ein allgemeiner begrifflicher Rahmen für alle kognitiven Vorgänge eben ein sehr allgemeiner Rahmen ist: Vertreter beider Kognitionstheorien sehen sich in ihren Ansichten bestätigt. Und auch die Konkurrenz zwischen verschiedenen Bewusstseinstheorien wird von der Theorie des Predictive Coding eher nicht entschieden: «Vielleicht liefert sie einen gemeinsamen Rahmen, der Theorien, die unterschiedliche Aspekte hervorheben, verbinden kann», so Wiese.

Auch Martin Butz sieht noch Klärungsbedarf: «Auf der kognitionswissenschaftlichen Seite ist diese Theorie für mich die plausibelste, die wir haben, endlich eine klare mathematische Formulierung, wie ein lernendes System aussehen könnte.» Eine Theorie wäre das, die allgemein genug ist, um sowohl die Vorgänge im Gehirn als auch diejenigen beim «Maschinenlernen» zu beschreiben.

Aber weder lernende Maschinen noch Menschen kommen ohne «Voreinstellungen» aus, die entweder der Programmierer oder die Evolution vorsieht. «Das wird bei Predictive Coding zu wenig berücksichtigt, wir Menschen haben ein sehr allgemeines Lernsystem, aber völlig frei ist es nicht», sagt Butz. «Bevor diese Theorie erklären kann, wie höhere Kognition entsteht, muss sie noch viel spezifischer werden.» – Vielleicht zeigt sich dann indes, dass wir im Oberstübchen ja doch noch etwas mehr tun, als immerzu nur Prognosefehler zu korrigieren.

Manuela Lenzen ist promovierte Philosophin und arbeitet als freie Wissenschaftsjournalistin (http://www.manuela-lenzen.de/).


Nota. -  Na selbstverständlich tun wir im Oberstübchen noch etwas mehr, als immerzu nur Prognosefehler zu korrigieren. Nämlich Prognosen entwerfen. Die kämen von allein durch die Erfahrung auf uns zu? Aber die Erfahrung bestand in der Korrektur von Prognosefehlern. 

Man kann es drehen und wenden wie man will: Um die Annahme einer Allerersten Prognose kommen wir nicht herum. Damit Erfahrungen überhaupt gemacht werden können, müssen nicht nur die Instrumente - Kants Apriori - 'zuhanden' sein, sondern ein vorgängiger Sinnentwurf: Fichtes Tathandlung.

Wenn nun das Predictive Coding ideengeschichtlich bis auf J. F. Herbart (und mit ihm auf die englische Assoziationspsychologie) zurückgeführt wird, sollte nicht vergessen werden, dass Herbart bei J. G. Fichte in der philosophischen Lehre war. Ein früh und entschieden abtrünniger Schüler zwar, aber es hat ihn nicht gehindert, sich am Meterial der Fichteschen Philosophie reichlich zu bedienen (wie später auch Schopen- hauer). 

Hier ist es der Primat des Praktischen in all unserer Vorstellungstätigkeit; ihrer Intentionalitä und Gerichtet- heit: 'Wollen', 'Streben', 'Trieb'. Das (lediglich zum Behuf der Erklärung angenommene) 'Ich' ist ursprünglich schlechthin handelnd, aber es handelt nicht nur 'einfach so', sondern immer um zu....

Wenn man also sucht, mit welcher Philosophie sich die neue Psychologie am besten verträgt, muss man nicht weit gehen, es reicht ein Klick zu meinem Blog. (Dass Metzinger das nicht passt, habe ich nicht anders erwartet. Würde er mir zustimmen, hätte ich einen Fehler gemacht.)
JE 


 

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