Montag, 11. April 2016

Die Sokal-Affäre.

In den 1990er Jahren waren selbstähnliche Strukturen und die Chaostheorie bei Theoretikern der Postmoderne en vogue.  

aus nzz.ch,13.3.2016, 06:00 Uhr
    Sokal-Affäre
    Wissenschaftliche Parodie mit Nachhall
    Die «Sokal-Affäre» löste vor zwanzig Jahren einen Streit zwischen Natur- und Geisteswissenschaftern aus. Und wie ist es heute um das Verhältnis zwischen den beiden Wissenschaftskulturen bestellt?

    von Sven Titze

    Es ist nicht immer ungetrübt, das Verhältnis zwischen Naturwissenschaftern auf der einen Seite und Geistes- und Sozialwissenschaftern auf der anderen. Unterschiedliche Praktiken, Kriterien und Sprechweisen lassen zuweilen interdisziplinäre Konflikte ausbrechen. Ein spezieller Streit, der bis heute nachwirkt, versetzte 1996 die akademische Welt in Aufruhr. Damals veröffentlichte der amerikanische Physiker Alan Sokal einen aufsehenerregenden Artikel – nicht etwa in einer Fachzeitschrift der Physik, sondern in «Social Text», einem Magazin der Sozialwissenschaften. «Transgressing the Boundaries: Towards a Transformative Hermeneutics of Quantum Gravity» lautete der Titel (auf Deutsch «Die Grenzen transgredieren: hin zu einer transformativen Hermeneutik der Quantengravitation»). Das krude Gemisch aus Begriffen der Physik und der Philosophie war Programm.

    Postmodernes Kauderwelsch

    Sokal wollte mit seinem Artikel den teils unpassenden, teils völlig unsinnigen Einsatz naturwissenschaftlicher Terminologie karikieren, welcher damals unter Autoren beliebt war, die unter dem Einfluss postmoderner Theorien standen. Zu diesem Zweck rührte er ein Textgebräu aus physikalischen und philosophischen Versatzstücken an, dessen Lektüre erfahrenen Wissenschaftern die Haare zu Berge stehen lassen musste. Doch «Social Text» druckte den Artikel im Frühling 1996.
    Als Sokal nur Tage später bekanntgab, dass er die Herausgeber mit einer Parodie hereingelegt habe, löste er eine lebhafte Debatte aus. Der Physiker konnte sich der Genugtuung und Schadenfreude der meisten Fachkollegen sicher sein, während viele Sozial- und Geisteswissenschafter verschnupft reagierten. Die Aufregung um die «Sokal-Affäre» hat sich selbstverständlich längst gelegt. Doch das bedeutet nicht, dass Brüche zwischen den Disziplinen, die damals offen zutage traten, heute nicht mehr existierten.

    Massimo Pigliucci ist jemand, der das einzuschätzen vermag. Der aus Italien stammende Wissenschafter, der Philosophie am Cuny City College in New York lehrt, aber auch einen Doktortitel in Biologie hat, beschäftigt sich seit Jahren mit dem Verhältnis zwischen den Wissenschaftskulturen. «Die Naturwissenschafter, von denen ich weiss, dass sie über solche Dinge nachdenken, gehen tendenziell süffisant davon aus, dass Sokal der gesamten Philosophie eine harte Lektion erteilt hat», meint er. Doch das stimme nicht. In Wirklichkeit habe Sokal mit seiner Parodie von 1996 nur die Nachlässigkeit der Herausgeber von «Social Text» belegt, die einen mangelhaften Artikel offenbar deshalb akzeptierten, weil er ihr Weltbild bestätigte. Deshalb sei nicht gleich die ganze Philosophie der Postmoderne zu verwerfen, so Pigliucci.

    Die Kritik wird persönlich

    Sokal liess es mit der Parodie damals aber nicht bewenden; 1997 legte er nach. Gemeinsam mit dem belgischen Physiker Jean Bricmont veröffentlichte er das Buch «Impostures intellectuelles», das 1999 auf Deutsch mit dem Titel «Eleganter Unsinn» erschien. Die Reichweite der Vorwürfe in diesem Buch war viel grösser als die der Parodie. Jetzt wurde es persönlich.

    Mit fast geniesserischer Genauigkeit zerpflückten die Physiker Textstellen von einschlägigen Autoren der Geistes- und Sozialwissenschaften. Unter ihnen waren namhafte Gelehrte wie der Philosoph Gilles Deleuze und der Psychoanalytiker Jacques Lacan. Zum einen monierten Sokal und Bricmont, dass jene Autoren oftmals Begriffe aus den Naturwissenschaften oder der Mathematik verwendeten, ohne sie zu verstehen – zum Beispiel «Relativitätstheorie», «Chaos» oder «Topologie». Ausserdem kritisierten die Physiker die Neigung, naturwissenschaftliche Publikationen als bloss konstruierte Texte zu relativieren, ohne den Bezug zur Wirklichkeit mitzudenken. Erneut wurde heftig debattiert. Einige Beobachter schrieben, die angegriffenen Autoren seien missverstanden worden. Sokal und Bricmont mussten sich auch gegen den Vorwurf verteidigen, intolerant und reduktionistisch gegenüber der Philosophie aufzutreten.

    Dieser Konflikt ist nicht nur von akademischem Interesse; er kann sogar politisch relevant sein, wie Sokal in einem weiteren Buch zeigte. In «Beyond the Hoax» aus dem Jahr 2008 berichtete er, die Relativierung westlicher Wissenschaft, wie sie von einzelnen postmodernen Autoren vertreten wurde, habe Eingang in das Weltbild der «Hindutva» gefunden, einer nationalistischen Strömung unter indischen Hindus. Auch seine früheren Angriffe auf die postmodernen Autoren stellte Sokal in einen politischen Kontext: Seiner Ansicht nach schadete ihre mangelhafte Argumentationsweise der politischen Linken – dem politischen Lager, zu dem sich Sokal ebenso wie die meisten jener Autoren bekennt.

    Inzwischen ist es in den Sozial- und Geisteswissenschaften ein wenig aus der Mode gekommen, unbekümmert mit naturwissenschaftlichem Vokabular um sich zu werfen. Als eine Ausnahme kann wohl der Philosoph und Wissenschaftssoziologe Bruno Latour genannt werden, der schon in «Eleganter Unsinn» auftaucht. Selbst bei seinen neusten Texten wird oft nicht klar, ob er naturwissenschaftliche Begriffe als Metaphern verwendet oder ob er sie nur halb verstanden hat.
    Ein weiteres aktuelles Beispiel für das muntere Mischen von Physik und Sozialwissenschaften ist ein Buch, das im April 2015 im renommierten Verlag Cambridge University Press herausgegeben wurde. In «Quantum Mind and Social Science» versucht der Politologe Alexander Wendt von der Ohio State University die Relevanz quantenmechanischer Phänomene im Gehirn für das Leib-Seele-Problem und für die «soziale Ontologie» darzulegen. Dabei nimmt kaum ein Physiker an, dass quantenmechanische Effekte einen prägenden Einfluss auf das Denken haben. Selbst wenn die Hypothese stimmte: Mit den sozialwissenschaftlichen Konsequenzen hat es Wendt komplett übertrieben.

    Fruchtbarer Dialog

    Während Wendt noch vorgibt, naturwissenschaftlich zu argumentieren, haben sich andere Autoren explizit dagegen gewandt. Doch das ist selten geworden. Es gebe in den Geistes- und Sozialwissenschaften nur noch «Nester antiwissenschaftlichen Denkens», meint Pigliucci. Das umgekehrte Phänomen – aggressiv «szientistisches» Denken in den Naturwissenschaften – sei heute sogar häufiger anzutreffen. Darunter versteht Pigliucci zum Beispiel die seiner Ansicht nach irrige Behauptung, anhand naturwissenschaftlicher Argumente liessen sich Antworten auf moralische Fragen geben. Generell findet er es unglücklich, dass Naturwissenschafter und Geistes- und Sozialwissenschafter einander so oft geringschätzten. Das gehe bis zum Hochmut. Pigliucci setzt dagegen auf den fruchtbaren Dialog zwischen den Disziplinen.


    Der Physiker Sokal hat in seinem Streben nach mehr Redlichkeit in der Wissenschaft bis heute nicht nachgelassen. Zuletzt stand dabei die Psychologie im Fokus. 2013 war Sokal an einem Artikel beteiligt, in dem ein Konzept der «positiven Psychologie» wegen mathematischer Mängel aufs Korn genommen wurde. Ein so spektakulär zündender Denkanstoss wie die Parodie von 1996 ist Sokal aber nicht noch einmal gelungen.






    Nota - Obige Bilder gehören mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und ihre Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Ihre Nachricht auf diesem Blog. JE

    Keine Kommentare:

    Kommentar veröffentlichen