Den
nachstehenden Text aus dem Februar 2005 habe ich ein Jahr lang
vergeblich in einer Zeitschrift unterzubringen gesucht. Den
naturwissenschaftlichen Fachblättern war er ‘nicht fachlich genug’, den
kulturwissenschaftlichen Blättern war er ‘zu fachlich’. Der
fach-übergreifenden Zeitschrift Gehirn & Geist, die „Das Manifest“ veröffentlicht hatte und für die er gedacht war, war er gar…
‘nicht populär genug’!
Die Spatzen brüllen es vom Dach: Die Hirnforschung hat uns eine Revolution beschert. Die Freiheit des Willens ist widerlegt, das Ich liegt bei den Akten. Ein neues Menschenbild? betitelt ihr Wortführer sein [damals] jüngstes Buch.
Spontaneität…
Lange
sah es aus, als sei die Hirnforschung im Begriff, auf empirischen Wegen
im menschlichen Erkennen den Vorrang des Subjektiven vor dem Objektiven
nachzuweisen, den Kant und seine Anhänger immer behauptet hatten. Denn
‚empfangen’ würden von unserm Gehirn, so heißt es, immer nur einzelne
Sinnesreize. Diese zu einer bedeutungsvollen Einheit zusammenzufassen,
sei dessen eigne Leistung, die den Sinnesreizen gewissermaßen
‚vorausgeht’. „Einzelne Neurone repräsentieren durch den Grad ihrer
Aktivierung lediglich elementare Objektmerkmale, keine komplexe
Merkmalskonstellationen”, schreibt Wolf Singer.[1] “Jede Zelle interagiert mit etwa zwanzig bis dreißigtausend anderen.[2]
Die Information über komplexe Objekte wird im Gehirn in jedem Fall
arbeitsteilig durch sehr viele Neurone analysiert, von denen jedes durch
seine Aktivierung jeweils nur einen relativ kleinen Teilaspekt der
Objektbeschaffenheit kodiert. Diese jeweils für ein Merkmal zuständigen
Neurone [sind] nicht etwa in einem eingegrenzten Hirnareal
aufzufinden, sondern über ausgedehnte Hirnareale verteilt. Objekte
[werden] nicht durch die Aktivität einzelner oder sehr weniger Neurone
in der Hirnrinde repräsentiert, sondern durch ausgedehnte und über weite
Bereiche verteilte Neuronenverbände – sogenannte Assemblies.“[3]
Das bedeute, „dass die Verschaltungsarchitektur eine ganz wesentliche Determinante für Hirnfunktionen [ist]. Hier liegen die meisten Freiheitsgrade, da die Funktionen einzelner Nervenzellen recht stereotyp sind.[4]
Die Spezifizität der Hirnfunktionen beruht ausschließlich auf der
Architektur der Verbindungen zwischen Nervenzellen. Das Programm [des Gehirns]
residiert praktisch in dieser Architektur der Verbindungen und in deren
Gewichtung, die in den Grundzügen genetisch vorgegeben wird. Sie
speichert gewissermaßen die während der phylogenetischen Entwicklung
gewonnene Erfahrung über das Sosein der Welt.[5] Wir kommen mit erheblichem Vorwissen über die Welt in diese.” [6]
Dieses
Vorwissen über die Welt ist nicht positiv als ‚Information’ kodiert,
sondern problematisch: “Vom nur teilweise vorgefertigten Gehirn wird
also eine Vielzahl von Fragen an die Welt gestellt, deren Beantwortung zu Strukturänderungen führt. Das Gehirn interpretiert.”[7]
Daraus folgt, “dass Wahrnehmung nicht als passive Abbildung von
Wirklichkeit verstanden werden darf, sondern als das Ergebnis eines
außerordentlich aktiven, konstruktivistischen Prozesses gesehen werden
muss, bei dem das Gehirn die Initiative hat.[8] Das Gehirn ist nie ruhig, sondern generiert ständig hochkomplexe Erregungsmuster, auch wenn Außenreize fehlen.[9] [Es]
bildet ständig Hypothesen darüber, wie die Welt sein sollte, und
vergleicht die Signale von den Sinnesorganen mit diesen Hypothesen.
Finden sich die Hypothesen bestätigt, erfolgt die Wahrnehmung nach sehr
kurzen Verarbeitungszeiten. Treffen sie nicht zu, muss das Gehirn seine
Hypothesen korrigieren, was die Reaktionszeiten verlängert.”[10]
Der
alte Streit zwischen Idealismus und Realismus wäre empirisch endgültig
entschieden: ‚Wahr’nehmen ist nicht aufnehmen, sondern ein “Verifizieren
vorausgeträumter Hypothesen”.[11]
Die apriorische Synthesis, die die neuronalen Signale zu einer
sinnvollen Wahrnehmung ‚bedeutet’, “ist ein Actus der Spontaneität der
Vorstellungskraft”, der “nicht durch Objekte gegeben, sondern nur vom
Subjekte her verrichtet werden kann”, hieß es in der Kritik der reinen Vernunft.[12]
…und Spiel.
Der
Subjektivismus des Hirnforschers geht noch weiter. Das Subjekt
‚erkennt’ nämlich nicht bloß aktiv, aber gesetzmäßig; sondern es macht
seine Tatsachenfeststellungen von apriorischen Wertzuschreibungen
abhängig. Was immer ‚erscheint’, wird “natürlichen Bewertungsprozessen
unterworfen”, die “Veränderungen nur dann zulassen, wenn das Gesamthirn
befunden hat, dass die jeweils zur Verarbeitung gelangten
Aktivitätsmuster bedeutsam sind. Diese Bewertung wird von Zentren im
limbischen System vorgenommen. Das Bewertungsergebnis wird den über die
gesamte Hirnrinde verteilten Verarbeitungszentren über Nervenbahnen und
spezielle chemische Überträgerstoffe, sogenannte Neuromodulatoren,
mitgeteilt.” Etwa achtzig Prozent der synaptischen Verbindungen von
Nervenzellen der Großhirnrinde gehören zu dieser Klasse, und nur etwa
zehn bis zwanzig Prozent der Eingänge stammen unmittelbar aus den
Sinneszellen. “Die Sinnessysteme und damit die Signale aus der
umgebenden Welt werden somit nur über eine sehr kleine Fraktion von
Verbindungen in die Großhirnrinde vermittelt. Das System beschäftigt
sich hauptsächlich mit sich selbst: achtzig bis neunzig Prozent der
Verbindungen sind dem inneren Monolog gewidmet.”[13]
“Die
Fähigkeit des Gehirns, prädikative Modelle von noch ausstehenden
Ereignissen zu bilden, um sich schneller anpassen zu können, ist relativ
rezent. Aber wenn es einmal ein System gibt, das auf der Basis von
Erfahrung solche prädikativen Modelle entwickeln kann, was die
Speicherung von Erfahrungsinhalten voraussetzt, dann muss es
kombinatorisch spielen können. Was als Repräsentation
internalisiert wurde, muss in verschiedene Bezüge gestellt werden, um
prüfen zu können, was alles passieren könnte.”[14]
Spielend
finden wir uns nicht nur im grauen Alltag zurecht: “Das ist auch das,
was ein Wissenschaftler macht, wenn er Theorien bildet, und was ein
Künstler macht, wenn er etwas herstellt.[15]
Der kreative Prozess in der Wissenschaft ist derselbe wie in der Kunst.
Der Erkenntnisprozess der Wissenschaft fängt mit dem Generieren von
Hypothesen an, die zunächst intuitiv erfasst werden, wobei sehr oft
ästhetische Konsistenzkriterien zugrunde gelegt werden, die gar nicht
rationalisierbar sind. Man sucht offenbar nach ganz ähnlichen Kriterien
wie der Künstler: nach Stimmigkeit oder Geschlossenheit. Sehr vieles in
der Wissenschaft wird von der Ästhetik dominiert. Eine wissenschaftliche
Theorie wird dann vom Kreis der Eingeweihten als gültig angesehen, wenn
sie erstens widerspruchsfrei mit vorhandener Evidenz ist, und zweitens,
wenn sie schön ist. Sie muss einfach sein und befriedigen.
Ganz ähnlich geht der Künstler vor, nur ist der Stoff, mit dem er
umgeht, ein anderer. Auch der Künstler bildet die Welt ab, wie er sie
interpretiert, also innerhalb eines Beschreibungssystems, er schafft
neue Wirklichkeiten, neue Interpretationen, was der Wissenschaftler auch
tut, wenn er ein Modell des Erfahrbaren erzeugt”;[16] er spielt mit dem Material, und “irgendwann weiß er, dass es jetzt passt.”[17]
“Was
der Künstler und der Wissenschaftler machen, ist nichts anderes, als
der Neugierde und dem Verlangen nach dem kombinatorischen Spiel
nachzugeben und, losgelöst vom utilitaristischen Alltagsgeschäft des
Lebens, dieses kombinatorische Spiel weiter zu spielen. Dadurch
entstehen Modelle der Welt. Dieses Spiel ist offenbar so tief in der
Architektur des Gehirns verankert, das es gespielt werden muss,
wenn das System überhaupt sinnvoll zum Lösen von Alltagsproblemen
eingesetzt werden soll. Manche spielen das sehr gut, manche weniger,
aber alle spielen. Insofern ist jeder, der wahrnimmt, in gewissem Sinne
ein Künstler, weil er Modelle von der Welt erzeugt, interpretiert und
selber seine Stimmigkeitskriterien generiert.”[18]
Oder Determination?
Das
Wahrnehmen erscheint als Leistung nicht nur eines spontanen Subjekts,
sondern gar als die eines künstlerischen Spielers. Umso verblüffender
ist die Schlussfolgerung, mit der der empirische Hirnforscher Wolf
Singer in den deutschen Medien Furore macht: “Im Bezugssystem
neurobiologischer Forschung gibt es keinen Raum für objektive Freiheit,
weil die je nächste Handlung, der je nächste Zustand des Gehirns immer
determiniert wäre durch das je unmittelbar Vorausgegangene.”[19]
Was ihm im Bezugssystem neurobiologischer Forschung offenbar niemand
bestreitet und was außerhalb dieses Bezugssystems ihm zu bestreiten
niemand nötig hat, will Wolf Singer aber innerhalb dieses Bezugssystems
nicht belassen: “Unaufschiebbar werden schon jetzt Überlegungen über die
Beurteilung von Fehlverhalten, über die Beurteilung von Schuld und
unsere Begründungen von Strafe.”[20]
Wie
kam es zu dieser Wendung? Anlass war “das so genannte Bindungsproblem”;
der Umstand nämlich, dass die Forscher keine ‚Stelle’ finden können, an
der die Synthesis vollzogen wird. Da sitzt kein Richter, der ‚jetzt’
sagt und ‚es gilt’. “Die Ergebnisse der vielen, gleichzeitig ablaufenden
Sinnesfunktionen werden parallel an die ebenfalls zahlreichen
exekutiven Zentren weitergegeben,
ohne dass vorher alle Informationen an einem Ort zusammen geführt
würden. Wie dennoch ganzheitliche Wahrnehmung und wohl koordinierte
Bewegungen zustande kommen, ist unklar. Es muss Metarepräsentationen für
die Ergebnisse dieser Teilprozesse geben, doch diese können ebenfalls
nur nichtlokale Gebilde sein, also wiederum einem distributiven Prinzip
folgen. Wir vermuten, dass die Einbindung verteilter Neuronengruppen in
diese Metarepräsentationen durch zeitliche Synchronisation neuronaler
Antworten erfolgt.”[21]
Es sei “eine Illusion, das wir im Gehirn ein Kommandozentrum haben, in
dem das Ich residiert und wertet, entscheidet und befiehlt. Stattdessen
müssen wir uns das Ich als einen räumlich verteilten, sich selbst
organisierenden Zustand denken”.[22]
“Die Annahme, wir seien voll verantwortlich für das, was wir tun, weil
wir es ja auch hätten anders machen können, ist aus neurobiologischer
Perspektive nicht haltbar. Neuronale Prozesse sind deterministisch.
Dieses Wissen muss Auswirkungen haben auf unser Rechtssystem, auf die
Art, wie wir Kinder erziehen und wie wir mit Mitmenschen umgehen.”[23]
Welche
Auswirkungen? Ist mein Gehirn jemand anders als ich selbst? Wenn mich
ein Rüpel belästigt, ist also nicht er selber schuld, sondern sein
Gehirn. Wenn ich ihm dafür in den Steiß trete, dann spürt er meinen Fuß
zwar am Steiß – aber es ist sein Hirn, das ihn spürt. So bleibt alles
wie gehabt: Der Schuldige kriegt, was er verdient. Man sieht gar nicht
ein, welches die praktischen Konsequenzen aus Wolf Singers Entdeckungen
sein könnten, und warum er davon so viel Aufhebens macht.
Es
bleibt die wissenschaftliche Frage nach dem Subjekt des Erkennens und
der Willensbildung. Doch zu der trägt das “so genannte Bindungsproblem”
überhaupt nicht bei. Denn was würde sich ändern, wenn die Hirnforscher
ein ‚Zentrum’ hätten lokalisieren können? Gar nichts. Wolf Singer würde
sagen, dass die “Ursache für die je folgende Handlung der vorangehende
Gesamtzustand” – eben nicht des Gehirns, sondern – ‚des Zentrums’ ist.[24]
Ob es sich, empirisch betrachtet, um einen systemischen Prozess oder um
einen punktuellen Akt handelt, spielt für die Frage der Spontaneität
der Synthesis überhaupt keine Rolle – sondern nur, ob er von einem Anderen ‚determiniert’
werden kann. Das hat Wolf Singer zwar bisher nicht behauptet. Es läuft
aber darauf hinaus, er hat es bloß noch nicht gemerkt. Denn was er
wirklich sagen will, ist dies: das eine bestimmte neuronale Verschaltung einen bestimmten Vorstellungsgehalt – und nur
diesen – ‚determiniert’. Auf etwaige ‚neuronale Korrelate für
Sinngehalte’ angesprochen, erklärt er, “dass unterschiedlichen Gedanken
verschiedene neuronale Aktivitätsmuster zugrunde liegen. Kein Gedanke
ohne Substrat. Allem, was begrifflich trennbar ist, müssen
unterschiedliche Gehirnzustände entsprechen.”[25]
Dies ist der einzige rationelle Sinn, den die Rede von ‚Determination’ in diesem Zusammenhang haben kann: dass die Bedeutungen “Abbilder” von Sachverhalten
seien. In den herkömmlichen Abbildtheorien sollten es die Dinge der
Außenwelt sein, die vom Denken ‚abgebildet’ würden. Hier ist es ein
innerer Zustand. Aber dieser Unterschied ist sekundär und nur vorläufig.
Denn wenn es den Hirnforschern wirklich gelänge, den ‚Umschlag’ oder
‚Übergang’ vom (physiologischen) Fakt zum (logischen) Sinn mit Hilfe
ihrer modernen ‚bildgebenden’ Verfahren darzustellen, dann wäre er im
Prinzip auch andern Arten der Bearbeitung zugänglich – und dann käme die ‚Determination’ von außen.
Ausschlaggebend wäre nur, dass der Übergang ein stetiger ist: Bei Naturvorgängen “gibt es nirgends Sprünge”![26] Und wenn dem so ist, lässt sich die Determinationskette auch umkehren.
Wenn ich das Wort ‚Stetigkeit’ sage und mein Gesprächspartner bemüht
sich zu verstehen, so müßte sich in dem Maße, wie sein
Vorstellungsvermögen den Bedeutungsgehalt ‚Stetigkeit’ realisiert, in
seinem Hirn das zugehörige neuronale Substrat einstellen. Durch die
Wortbedeutung würde also ein bestimmter physiologischer Zustand
‚determiniert’. Dann wäre die Wortbedeutung ein Objektivum (mit welchem
Substrat?) und die Hirnforschung hätte auf empirischem Weg die
platonische Ideenlehre bewiesen.[27]
Eine unerwartete Wendung! Oder doch nicht? Immerhin hat der
Kernphysiker Robert Havemann schon vor vierzig Jahren darauf
hingewiesen, dass der mechanische Materialismus nur eine Spielart des
objektiven Idealismus ist.[28]
Sprünge
Glücklicherweise
kann dem nicht so sein. Wenn nämlich bestimmte Vorstellungsinhalte
lediglich neuronale Prozesse “abbilden”, dann müsste es sich dabei um
ein analoges
Bild handeln. Analoge Darstellungen können aber, anders als digitale,
keinen Verneinungs-Modus wiedergeben, und den Frage-Modus schon gar
nicht. Ich (oder mein Gehirn, was ändert das?) kann
aber fragen und nein sagen. Das ist das Proprium humanum: Der Mensch
ist das Tier, das nein sagen kann. Und bevor er nein gesagt hat, konnte
er fragen, ob.
Wenn
Wolf Singer nun einwände: Es gibt im Gehirn eben einen Rechner, der
analoge Bilder in digitale Symbole übersetzt, dann entgegne ich: Zeig
mir die Stelle – genau da sitzt das Ich!
Das ist der springende Punkt. Ein digit
ist kein Substrat, sondern ein beliebiges, austauschbares und ganz
heterogenes Zeichen für einen Sinngehalt, zu dem es in keinerlei
sachlichem Verhältnis steht und der als solcher keiner Materialisierung
und “Substernisierung” fähig ist. Das Logische “ist” in keiner Weise,
sondern gilt. Darunter kann sich der Naturwissenschaftler nichts
‚vorstellen’. Als
Naturwissenschaftler soll er das auch gar nicht. Es fällt nicht in sein
Ressort. In seinem Bereich herrschen Kausalität, Determination und
Stetigkeit: durch sie wird er konstituiert.
Natura non fecit saltus
– Wolf Singer beruft sich wörtlich auf die von Leibniz geprägte
kanonische Formel für das stoisch-neuplatonische Dogma der Stetigkeit.
“Das metaphysische Gesetz der Stetigkeit ist aber dies: Alle
Veränderungen sind stetig oder fließen, d. i. entgegengesetzte Zustände
folgen nur durch eine dazwischenliegende Reihe verschiedener Zustände aufeinander”[29] – so hat es Kant formuliert und zum Ausgangspunkt der Kritik
gemacht. Die Stetigkeit der Naturvorgänge setzte nämlich voraus die
dinghafte Realität eines kontinuierlich-unendlichen Raumes und einer
gleichförmig strömenden Zeit. Beide hat Kant aber ins transzendentale
Apriori unseres Erkenntnisvermögens verwiesen! Doch in dem Manifest, das
Wolf Singer gemeinsam mit zehn Kollegen im vergangenen Jahr erlassen
hat, heißt es nun wieder: “Geist und Bewusstsein fügen sich also in das
Naturgeschehen ein und übersteigen es nicht. Dies bedeutet, man wird
widerspruchsfrei Geist, Bewusstsein, Gefühle, Willensakte und
Handlungsfreiheit als natürliche Vorgänge ansehen, denn sie beruhen auf
biologischen Prozessen.”[30] Also weil sie auf Physiologie beruhen, müssen sie Physiologie sein – wo ist das Problem? Hen kai pân,
Alles Eins! Wobei sie größte Schwierigkeiten haben werden, uns von
dieser metaphysisch verstandenen Natur einen wissenschaftlich
begründeten Begriff zu geben…
Es
ist wohl wahr: Betrachte ich die Evolution der menschlichen Physiologie
von innen, so folgt immer ein Zustand auf den andern. Dass aber die
Veränderungen der Zustände nur von innen ‚determiniert’ werden: dass ein Zustand aus
dem andern folgt, ist damit noch lange nicht gesagt. Evolution ist
Anpassung – an Bedingungen, die außen liegen. Kommt nun die Veränderung
der Außenbedingung ihrerseits durch eine Initiative zu Stande, die von
innen ausgeht, dann tritt eine Rückkoppelung ein – und die ist ein ‚Sprung’, der den Betrachter zu einem Perpektivwechsel, zu einem Hiatus nötigt.
Die Rede ist vom Akt der Hominisation selbst, denn das war der Moment, wo das Ich ‚zur Welt gekommen’ ist.
Evolution
ist Auslese und Anpassung. Im Laufe ihrer Geschichte hat jede Spezies
ihre ökologische Nische gefunden. Die Nische kann der Naturforscher
beobachten und beschreiben. Die Umwelt aber, die sie dem Tier
‚bedeutet’, muss er rekonstruierend erschließen:
“Die Umwelt ist völlig unsichtbar, denn sie besteht lediglich aus den
Merkmalen der Tiere, die das Tier selbst hinausverlegt. Jede Umwelt ist
das Erzeugnis eines Subjekts”,[31]
schreibt Jakob von Uexküll, der den biologischen Umwelt-Begriff geprägt
hat. “Jede Umwelt bildet eine in sich geschlossene Einheit, die in all
ihren Teilen durch die Bedeutung für das Subjekt beherrscht wird. Alles
und jedes, das in den Bann einer Umwelt gerät, wird umgestimmt und
umgeformt, bis es zu einem brauchbaren Bedeutungsträger geworden ist –
oder es wird völlig vernachlässigt.”[32]
Das Verhältnis zwischen der Spezies und ihrer ökologischen Nische ist
ein Naturverhältnis – und ein Naturverhältnis sind die Bedeutungen der
Dinge, die darin vorkommen. Sie sind “selbstverständlich”.
Der
Mensch hat vor Jahrmillionen seine natürliche Umwelt verlassen, hat
sich auf seine Hinterbeine gestellt und ist in eine offene Welt
aufgebrochen.[33]
Deren Bedeutungen waren nicht biologisch vererbt, sind kein
Naturverhältnis, er musste sie selber verstehen, d. h. heraus-,
richtiger: hineinfinden. Weil seine offene Welt unsicher ist, muss er
fragen, was die Dinge bedeuten, die ihm begegnen; sich fragen.
Und wer fragt, kann ja oder nein sagen. Das ist eine völlig neue
Dimension des Daseins. Wenn das kein ‚Sprung’ ist, was ist es sonst?
Unterm Miskroskop des Physiologen – oder seinen modernen, ‚bildgebenden’
Überformungen – ist er freilich nicht zu erkennen. Weil der Mensch nicht weiß, was die Dinge ihm bedeuten und was er unter ihnen soll – darum sagt er “ich”.[34]
Zirkulär
Jedweden
Sinn bestreitet auch Wolf Singer dem Ich und seinem Willen nicht. “Wir
wissen aus der Psychopathologie, was passiert, wenn ein Konstrukt wie
der freie Wille zusammenbricht.”[35]
Da wir ihn als wirklich erleben, muss ihm auch etwas zugrunde liegen:
“Dennoch beruht unsere Vorstellung, frei zu sein, auf Vorgängen im
Gehirn. Ich halte sie für eine kulturelle Konstruktion. Sie muss sich
also irgendwann im Laufe unserer kulturellen Evolution ausgebildet
haben.”[36]
Dass es sich bei der (den repräsentativen Staat konstituierenden)
Vorstellung vom souveränen Subjekt um ein Konstrukt handelt, wird ihm
niemand bestreiten. Noch entschiedener könnte man ihm beipflichten,
hätte er hinzugefügt: genau so wie meine Vorstellungen von
‚Determination’, ‚Kausalität’, ‚Stetigkeit’ auch. Das sind keine Größen,
die seine Forschung zu Tage gefördert hat, sondern logische Prämissen,
die seine Forschungsarbeit überhaupt erst ermöglicht haben.
Von
Konstrukten redet Wolf Singer oft und gern, wenn es um die Kategorien
der andern geht. Von seinen eigenen Kategorien lässt er sich sowas von
niemand sagen. Das ist das Problem mit Wolf Singer: Er redet ‚stetig’ in
der Objekt-Sprache seines Fachs; aber allen andern Fächern gegenüber
verwendet er sie, als wäre sie deren Meta-Sprache. Für sein Fach
akzeptiert er dagegen keine Art von Meta-Sprache. Er ist wissenslogisch
naiv, glaubt es aber nicht. Das ist das Verhängnis aller Empiriker.
Unterschiede zwischen Wissenschaften will er gar nicht kennen,sondern
nur solche zwischen “Beschreibungssystemen”. Aber was unterscheiden
die, und inwiefern? Sie beschreiben Etwas in Hinblick auf etwas Anderes.
Dieses ‚in Hinblick auf’ ist eine Absicht,
die ein Aufmerksamkeitsfeld konstituiert. Die Absicht – der ‚Hinblick’ –
bildet den Ausgangspunkt, das Feld bildet den ‚Gegenstand’.
Verschiedene Gegenstände kommen durch verschiedene Hinsichten ‚zu
Stande’.
Aber
davon will Wolf Singer nichts wissen. “Kann Naturwissenschaftlern
überhaupt zugetraut werden, sich auch zu diesen, eigentlich nur in der
Erste-Person-Perspektive fassbaren Realitäten [er meint die Ich-Problematik] zu äußern? Die einen meinen, es sei möglich. Dies sind meist die Naturforscher, die für die Einheit der Wissenschaft [Stetigkeit!]
plädieren. Die anderen – meist Kulturforscher – behaupten, hier würden
Kategorie-Fehler gemacht, und das Vorhaben einer Einheitswissenschaft
sei prinzipiell nicht realisierbar.”[37]
Ist
das bloß unzureichende Kenntnis der Wissenschaftsgeschichte, oder ist
es raffiniert? Gute zweitausend Jahre lang hatte die Philosophie, mit
dem Segen der Theologen, als erstgeborene unter allen Wissenschaften den
Naturforschern Vorschriften gemacht (das Dogma der Stetigkeit zum
Beispiel); so dass es vor Galileo zu einer Natur-Wissenschaft gar nicht
kommen konnte. Bis sich schließlich die Philosophie – in Gestalt der
Kant’schen Kritik – jede gesetzgebende Einmischung in die
Angelegenheiten der Erfahrungswissenschaften versagte. Seither meinen
‚meist Kulturforscher’, es läge im Wesen
der Wissenschaft, dass es eine Einheits-Wissenschaft nicht geben kann.
Der Naturforscher, von kritischen Bedenken unaffiziert, zögert nicht,
seine Gesetzgebung auf Gott und die Welt auszudehnen. Und lässt es so
aussehen, als würden die ‚Kulturwissenschaftler’ vor ihm kneifen!
Das
ist nicht nur wissensgeschichtlich, sondern auch wissenslogisch ein
hochinteressanter Punkt. Es waren nicht die Erfolge der empirischen
Forschung, die die theoretische Spekulation in ihre Schranken gewiesen
und Kant zu seinem Rückzug bewogen hätten. Galileo selbst hat das
Experiment durchaus nicht als selbständige Erkenntnisquelle an die
Stelle der Theorie gesetzt, sondern lediglich als Beweismittel gegenüber
Zweiflern eingeführt. Und Newton ist allezeit von spekulativen
Voraussetzungen ausgegangen, wie der Titel seines Hauptwerks – Principia mathematica philosophiae naturalis -
bereits ankündigt. Der Anstoß zu Kants ‚kopernikanischer Wende’ ging
vielmehr von der Selbstkritik des Empirismus aus! David Hume hat
demonstriert, dass der konstitutive Grundsatz der
Erfahrungswissenschaften – dass jedes Ereignis eine hinreichende Ursache
habe und Erkenntnis darin bestünde, die Ereignisse auf ihre Ursachen
zurückzuführen – selber nicht durch Erfahrung begründet ist; und
allerdings auch nicht in der Vernunft. Er hielt ihn bloß für eine
bequeme Gewohnheit der Menschen, die sich bewährt hat. Kant hat dagegen
dargelegt, dass die Annahme der Kausalität die kategoriale (für das
Denken notwendige) Voraussetzung ist, um Erfahrungen überhaupt machen zu
können. Die Prämisse, dass ein jedes Ereignis seine hinreichende
Ursache haben müsse, konstituiert das Gegenstandsfeld der
Naturwissenschaft, indem es ihr den Blickpunkt liefert. Was außerhalb
ihres Blickwinkels liegt, ist kein möglicher Gegenstand der
Naturwissenschaft.
Wolf
Singer scheint hingegen zu sagen: Was nicht in ihren Blickwinkel fällt,
das gibt es nicht. Wenn wir ihm sagen, dass sein Kausalitätsbegriff
nicht aus der Erfahrung stammt, sondern absichtshalber der
naturwissenschaftlichen Erfahrung zugrunde gelegt wird, dann antwortet
er, dass wir zu solchen Aussagen nicht berechtigt sind – weil sie
außerhalb der Kausaliätsbetrachtung liegen.
Weiß er nicht, was ein logischer Zirkel ist?
[1] Andreas
Engel u. Wolf Singer, “Neuronale Grundlagen der Gestaltwahr-nehmung”
in: Spektrum der Wissenschaft, Dossier 4/1997, S. 67
[2] Singer, “Früh übt sich… Zur Neurobiologie des Lernens” in: Mantel, G., (Hg.), Ungenutzte Potentiale, Mainz usw., 1997; S. 45
[3] Engel u. a., “Neuronale Grundlagen…” ebd
[4] Singer, “Früh übt sich…” ebd
[5]
ders., “Wahrnehmen ist das Verifizieren von vorausgeträumten
Hypothesen” in: Ein neues Menschenbild?, Frankfurt a.M. 2003; S. 70
[6] ders.,
“Das Bild im Kopf – ein Paradigmenwechsel” in: Ganten, D. (Hg.), Gene,
Neurone, Qubits & Co., Stgt. u. Heidelberg 1999, S. 269
[7] ders., “Wahrnehmen ist das Verifizieren…” aaO, S. 71
[8] ders., “Vom Gehirn zum Bewusstsein”, in: Der Beobachter im Kopf, Ffm, 2002, S. 72
[9] ders., “Das Bild im Kopf…” aaO, S. 275
[10] ders., “Vom Gehirn zum Bewusstsein” aaO
[11] ders. in: Ein neues Menschenbild? S. 67
[12] Kant, KrV B 130
[13] Singer, “Das Bild im Kopf…”, aaO S. 274
[14] ders, “Wahrnehmen ist…” aaO S. 84
[15] ebd
[16] ebd S. 80
[17] ebd S. 84
[18] ebd
[19] Singer, “Vom Gehirn zum Bewusstsein”, aaO, S. 75
[20] ebd S. 75f.
[21] Singer, “Wir benötigen den neuronalen Kode” ebd, S. 42
[22] ders., “Vom Bild zur Wahrnehmung”, in: Ch. Maar, H. Burda (Hg.), Iconic Turn, Köln 2004, S. 75f.
[23] Singer, “Vom Gehirn zum Bewusstsein”, aaO, S. 75
[24] ders,
“Das Ende des freien Willens?” in: aaO, S. 32f. – Ein reelles Ich
identifiziert sich dadurch, dass es eine Geschichte hat.
[25] ders.,
“Wer deutet die Welt?” in: aaO, S. 15. – Was haben die Begriffe hier zu
suchen? Welchen Grund gibt es – unter der Prämisse eines systemischen
Prozesses -, jede Einzel-Vorstellung in einem jeweiligen ‚Zustand’ des
Gesamt-Systems ‚Ding-fest’ zu machen? Das wirkliche Denken geschieht ja
gar nicht in Begriffen, sondern in einer Kaskade unfasslicher Bilder.
Begriffe treten erst in der Reflexion hinzu – und die ist eine
Auseinandersetzung des Gesamtsystems mit sich selbst; ein Seitenwechsel,
ein ‚Sprung’. Und nur so kommt auch die Vorstellung eines Ich ‚zu
Stande’.
[26] ebd, S. 26
[27] In
der Assoziationspsychologie des “Eleaten” J. Fr. Herbart wirken
‚Vorstellungsmassen’ tatächlich ‚ursächlich’ aufs individuelle Denken:
“Vernunft heißt Vernehmen.” Natürlich verwarf auch Herbart den freien
Willen und meinte, die Kant’sche Erkenntniskritik überwunden zu haben.
[28] “Naturwissenschaftliche Aspekte philosophischer Probleme” in: Robert Havemann, Dialektik ohne Dogma? Reinbek 1964, S. 27ff.
[29] I. Kant, Von der Form der Sinnes- und Verstandeswelt und ihren Gründen [Inauguraldissertation], Ed. Weischedel, Bd. V, S. 49
[30] “Das Manifest” in: Gehirn & Geist, Heft 6/2004, S. 33, 36
[31] Jakob v. Uexküll, Die Lebenslehre, Potsdam 1930, S. 130;
[32] ders.,
“Bedeutungslehre” in: ders.,/G. Kriszat, Streifzüge durch die Umwel-ten
von Tieren und Menschen, Hamburg. 1983, S. 111ff.
[33] Ob
dieses Ereignis vor 3 Mio. Jahren im Ostafrikanischen Graben oder schon
4 Mio. Jahre früher im Tschad stattgefunden hat, ist unerheblich.
[34] s. hierzu ausführlich: J. Ebmeier, “Das Ich und die Welt” in: Lettre interna-tional 68, Früjahr 2005
[35] Wolf Singer, “Das Ende des freien Willens?” aaO, S. 31f.
[36] ders., “Wer deutet die Welt?” aaO, S. 13
[37] Wolf Singer, “Das Ende des freien Willens?” in: Ein neues Menschenbild? Ffm. 2003, S. 27
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