Montag, 26. August 2013

Stadtluft bringt die Evolution auf Trab.

aus Die Presse, Wien, 25, 8. 2013

Große Städte, große Gehirne

An das Stadtleben mit seinen Herausforderungen haben sich auch die vierfüßigen und geflügelten Einwohner angepasst: Mäuse etwa vergrößerten ihre Hirne.

Von Jürgen Langenbach

In den Städten ist alles anders, sie sind Hitzeinseln – drei bis fünf Grad wärmer als das Umland –, sie sind Lärmhöllen, aber auch Oasen, in denen es immer Nahrung und Wasser gibt und, zwiespältige Zugabe, Licht. In diesen relativ neuen Habitaten muss sich heute schon die halbe Menschheit zurechtfinden, um 1900 waren es zehn Prozent, in zwanzig Jahren werden es zwei Drittel sein, die sich auf drei Prozent der Erdoberfläche drängen.

Und andere ziehen nach, vierfüßige und geflügelte, auch sie müssen sich an die so komplizierten Verhältnisse der Städte anpassen, Vögel singen anders, und Frösche quaken anders, wenn sie sich gegen Straßenlärm durchsetzen müssen, und für andere ist die Stadt eine so große Herausforderung, dass sie gar mit Veränderungen des Körpers reagieren: Sie vergrößern ihre Gehirne, sie organisieren sie vielleicht auch um.

Letzteres ist natürlich nicht dokumentiert, schon gar nicht über längere Zeiträume, aber was die Gehirn- bzw. Schädelgröße angeht, haben naturhistorische Museen fleißig gesammelt. Auch Minnesotas Bell Museum hat es getan, dort kamen in den letzten hundert Jahren über 19.000 Exemplare von Säugetieren zusammen, viele vom Land, aber auch solche, die in Städten eingesammelt oder gefangen wurden. 

Vögel lernen die Straßenverkehrsordnung

Emilie Snell-Rood (University of Minnesota) hat sich alle genauer angesehen, sie vermutete, dass (a) in Städten die Gehirne größer werden, und zwar (b) vor allem bei Arten mit großer Population und rascher Reproduktion. Auf dem Land hingegen (c) sollte sich nichts zeigen. Das bestätigte sich partiell, an Weißfuß- und Wiesenwühlmäusen: Ihre Gehirne wurden größer, allerdings nur am Anfang, gleich nach dem Einwandern.

Danach blieben sie konstant – und die der Artgenossen auf dem Land zogen nach, dort herrscht auch nicht mehr die Ruhe und das Idyll von einst. (Proc. Roy. Soc. B, 21. 8.) Und dazwischen, zwischen Stadt und Land? Da kamen die Straßen, für viele Tiere eine extreme Herausforderung und Gefahr, etwa für Vögel. Bei ihnen weiß man schon, dass manche Schwalben ihr Gefieder verändert – verkürzt – haben, um heranrasenden Automobilen besser ausweichen zu können. Aber haben sie oder andere auch ihr Verhalten angepasst? Sie haben es, in der Nähe von Straßen haben sie ihre Fluchtdistanzen geändert, und zwar in Abhängigkeit von den vorgeschriebenen Höchstgeschwindigkeiten – wo 120 km/h gilt, flüchten sie rascher als bei Tempo 30 –, nicht etwa vom tatsächlichen Tempo mancher Autofahrer. Pierre Legagneux (Quebec) hat es in Frankreich erhoben, vor allem an Nebelkrähen, Haussperlingen und Amseln (Biology Letters, 21. 8.).

An allen dreien kann jeder Laie noch etwas beobachten: In Städten fühlen sie sich wohl, dort sind keine Räuber hinter ihnen her, auch nicht der, den sie offenbar früher auf dem Land zu fürchten hatten: Noch vor 50 Jahren war man froh, wenn man eine Amsel aus 20 Metern zu sehen bekam. Heute hat sie ihre Fluchtdistanz so verringert, dass sie bald der Taube Konkurrenz macht, so rasch geht das, im Verhalten („Plastizität“) und dann wohl auch in den Genen.


Nota.

Die Versuchung ist groß, die Beobachtung auf den Menschen zu übertragen. Steht das seit Jahrhunderten zu beobachtende ansteigende Längenwachstum, gar die Verfrühung der körperlichen Reife in den Populationen des Westens, steht gar der langsam, aber kontinuierlich steigende IQ mit der forstschreitenden Verstädterung im Zusammenhang? Die pauschale erklärung wäre: Einer Vervielfältigung der äußeren Reize antwortet eine Vervielfältigung der individuellen Reaktionen - und deren Speicherung im Epigenom. Das beschleunigt die Evolution.

Aber dass eine Erklärung so plausibel klingt, sollte zu besonderer Vorsicht anhalten.
J.E.

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