Samstag, 3. August 2013

"Weißrussomanie".

aus NZZ, 3. 8. 2013

Das Land, das es kaum gibt
 
Der Minsker Philosoph Valentin Akudowitsch arbeitet sich an den Widersprüchen von Weissrussland ab

Wie aus Zeit und Raum gefallen scheint Weissrussland, wo seit langem diktatorische Verhältnisse herrschen. Trotz vielen Versuchen ist es der Bevölkerung nicht gelungen, sich politisch zu emanzipieren. Ein Essay, der 2007 in Minsk erschienen ist, liefert profunde historische Einsichten.

von Ilma Rakusa

Es gibt selten Gutes über Weissrussland oder Belarus zu berichten. Präsident Lukaschenko regiert sein Land diktatorisch, Oppositionelle werden - nicht erst seit dem tragischen «Blutsonntag» im Dezember 2010, als sie gegen Wahlfälschung demonstrierten - mundtot gemacht, die Pressefreiheit wird beschnitten, die Wirtschaft gegängelt. Eine galoppierende Inflation hat in den letzten zwei Jahren die Preise für Lebensmittel und Benzin verdreifacht. In der Krise gerät das Land zunehmend in Abhängigkeit von Russland, und seine Zukunft erscheint ungewisser denn je. Pessimistisch gibt sich übrigens längst nicht mehr nur die regimekritische Intelligenzia. Auch der Normalbürger, dem die Teuerung auf die Tasche drückt, ist unzufrieden. Doch nachdem selbst friedliche Proteste im Sand verlaufen sind, herrscht allgemeine Resignation. Wer kann, versucht sein Glück im Ausland. Die weissrussische Exil-Universität im litauischen Vilnius hat regen Zulauf.

Freilich zeigt der Blick in die Vergangenheit, dass Weissrussland immer mit einem harten Schicksal zu kämpfen hatte. Allein die belarussische Geschichte des 20. Jahrhunderts liefert mannigfache Beweise: «Krieg, Sowjetisierung, Industrialisierung, Urbanisierung, Bodenoptimierung, Tschernobyl, Unabhängigkeit. Fast jeder dieser Begriffe steht für apokalyptische Ereignisse.» So formuliert es der Philosoph Valentin Akudowitsch in seinem Buch «Der Abwesenheitscode», einer faszinierenden essayistischen Annäherung an die Rätsel und Widersprüche seines Landes.

Persönlich und polemisch

Valentin Akudowitsch, der betont, es gebe keine guten Antworten, nur gute Fragen, gibt nicht nur kenntnisreich Auskunft über die verworrene Geschichte Weissrusslands, er übt zugleich Kritik an nationalistischen Tendenzen der gegenwärtigen Opposition, indem er auch eigene Positionen revidiert. In einem persönlichen - und mitunter polemischen - Ton, der sowohl Enttäuschung und Wut wie Sorge um die Zukunft des Landes verrät, tritt Akudowitsch der Klischeevorstellung entgegen, Schuld an der Misere trage einzig die Lukaschenko-Regierung. Vielmehr sei die Opposition in ihrer nationalen Fixierung nur allzu sehr mit dem Regime verbandelt, statt demokratische Entwicklungen zu forcieren.

Die zentrale Frage, die Akudowitsch aufwirft, betrifft das Thema Nation. Um es vorwegzunehmen: In ethnokultureller Hinsicht sei das heutige Weissrussland alles andere als homogen, wer das Gegenteil behaupte, laboriere an einer «virtuellen Republik». Die «Weissrussomanie»: Belarus den Belarussen und der belarussischen Sprache - sei ein Wunschtraum, der an jeder Realität vorbeiziele. Und Akudowitsch holt historisch aus. Er zeigt, dass die Geschichte Weissrusslands vor allem aus Brüchen bestand und sich bis ins 19. Jahrhundert nationalen Zuordnungen entzog. Auf dem Gebiet der heutigen Unabhängigen Republik Belarus existierten einst das Fürstentum Polazk, das Grossfürstentum Litauen, die polnisch-litauische Adelsrepublik (Rzeczpospolita), bis das Zarenreich es sich einverleibte. Viele Völker teilten sich diesen Raum, neben Weissrussen Polen, Litauer, Russen, Juden, Tataren, Armenier und weitere Ethnien, wobei regelmässige Kriegszüge die Bevölkerung dezimierten; Mitte des 17. Jahrhunderts kam jeder zweite Bewohner ums Leben.

Ein Erwachen weissrussischen Nationalbewusstseins ortet Akudowitsch im 19. Jahrhundert, unter russischer Herrschaft, vor allem in den Städten, wo allerdings nur 17 Prozent ethnische Weissrussen lebten. 1902 wurde eine erste weissrussische Partei gegründet, 1905 das Weissrussische als Sprache legalisiert, 1918 - nach dem Vertrag von Brest-Litowsk - die «Weissrussische Republik» unter deutscher Besatzung ausgerufen, 1919 die «Sozialistische Weissrussische Sowjetrepublik» proklamiert, in der neben dem Weissrussischen das Russische, das Polnische und das Jiddische den Status einer Staatssprache hatten. Doch verliert Weissrussland nach dem polnisch-sowjetischen Krieg seine Westgebiete mit rund 4 Millionen Einwohnern, und die nachfolgende Geschichte ist noch grausamer. Zur Zeit des Grossen Terrors vernichten sowjetische Mordkommandos die gesamte weissrussische Intelligenz, die gerade zu einem kulturellen Höhenflug angesetzt hatte. (Die Aufarbeitung dieser Verbrechen wird von Regierungsseite bis heute behindert.) Nach 1941 ist es die deutsche Wehrmacht, die beispiellose Massaker an Weissrussen und Juden verübt. Jeder vierte Bewohner kommt ums Leben. Dass diese Katastrophen Weissrussland zu einem «Bloodland» (Timothy Snyder) gemacht und die Mentalität seiner Bewohner nachhaltig geprägt haben, steht ausser Zweifel.

Mit der Unabhängigkeitserklärung Weissrusslands am 25. August 1991 begann ein neues Kapitel, das die Frage nach einer weissrussischen Identität akut werden liess. Akudowitsch, der die Unabhängigkeit befürwortete, distanziert sich aber entschieden von allen Versuchen, eine eindeutige weissrussische Identität zu konstruieren. Das sei Mythenbildung, meint er und demontiert nicht nur den Heldenkult um die gefallenen Partisanen, sondern auch die Bemühung, Geistesgrössen der Vergangenheit zu Ikonen oder Märtyrern einer nationalen Idee zu machen. Von einer wie auch immer gearteten historisch-kulturellen Kontinuität könne nicht die Rede sein - so wurde das erste (alt)weissrussische Buch Anfang des 16. Jahrhunderts in Prag gedruckt! -, das «Simulakrum einer homogenen Nation» gehöre ins Reich der Phantasie und der Verblendung. Weissrussland beruhe nicht auf einer gemeinsamen Idee, «sondern einzig auf der Verbundenheit der Weissrussen mit einem Raum, einem Territorium», fairerweise könne man es nur als ein «Neben- und Miteinander zahlreicher, höchst unterschiedlicher Welten wahrnehmen».

Aufgeklärtheit und Emanzipation

Für einen Grossteil der national gesinnten Intelligenzia, zu der nicht wenige demokratische Oppositionelle gehören, ist Akudowitschs These provokant und unannehmbar. Allerdings bekommt der Philosoph auch Rückendeckung und prominenten Zuspruch. So von der bekannten Schriftstellerin Swetlana Alexijewitsch, die ihre sorgfältig recherchierten Werke - etwa über die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl, in deren Folge ein Viertel des weissrussischen Staatsgebietes verstrahlt wurde - auf Russisch verfasst, ohne sie im Lukaschenko-Staat veröffentlichen zu können, oder von der Minsker Kulturmanagerin Iryna Herasimovich.

Der «Abwesenheitscode» als Chance? Das Fehlen von historischen Kontinuitäten, von nationalstaatlichem Potenzial als Möglichkeit, sich für zukünftige Allianzen offenzuhalten? Vielleicht. Vor allem aber plädiert Akudowitsch am Schluss für bürgerliche Aufgeklärtheit und Emanzipation. Es sei Zeit, sich als verantwortungsbewusstes Subjekt für eine «zivilisierte Gesellschaftsordnung» einzusetzen. Alles andere sei Nebensache. Fragt sich nur, was Präsident Lukaschenko von solcher Mündigkeit hält. Dem hiesigen Leser jedenfalls bietet Akudowitschs Buch, das im Original 2007 in Minsk erschien, profunde Einsichten in ein zu Unrecht ignoriertes Land und zahlreiche Denkanstösse - über den Fall Belarus hinaus.

Valentin Akudowitsch: Der Abwesenheitscode. Versuch, Weissrussland zu verstehen. Aus dem Russischen von Volker Weichsel. Nachwort von Martin Pollack. Edition Suhrkamp, Berlin 2013. 203 S., Fr. 24.90.

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