Von Martin Woker
Just zu dem Zeitpunkt, da in der Türkei die regierenden Islamisten den «tiefen Staat» auch noch juristisch zerschlugen, ist in Ägypten eine gegenläufige Entwicklung in Gang. Der von Ankara aus dirigierte «tiefe Staat» bestand in einer Verflechtung von Armee, Verwaltung, Politik, Justiz, Geheimdiensten und Killerkommandos, deren Ziel in der Festigung eines säkularen Nationalstaats bestand. Die durch die Verfilzung perpetuierte Ordnung liess wenig Spielraum zu demokratischer Partizipation, was zu Zeiten des Kalten Kriegs von der demokratischen Welt als das kleinere Übel in Kauf genommen wurde: Kurden, Kommunisten und Kopftuchträgerinnen zahlten dafür den Preis.
Die Macht des Systems
Die durch Mubaraks Sturz vor zweieinhalb Jahren hervorgerufene Euphorie über die vergleichsweise wenig blutige Revolution verdeckte den Blick auf die Machtstrukturen im Nilland. Mubaraks Regime war keine Kleptokratie, wie sie in Ben Alis Tunesien bestanden hatte. Die Macht des Herrschers am Nil gründete auf einem in den Sicherheitskräften und der staatlichen Administration abgestützten System, das ein paar Glücklichen den Raum zu Reichtum bot sowie Teilen Kairos und den Touristenzentren einen Firnis der Modernität verlieh. Das übrige Land aber verharrte in wirtschaftlicher Stagnation. Ägypten steht auf der Weltrangliste der Weizen-Importeure an erster Stelle mit einer jährlichen Einfuhr von zehn Millionen Tonnen. Dem gegenüber stehen spärliche und, was den Tourismussektor betrifft, höchst unsichere Einnahmen.
Dessen ungeachtet galt Ägyptens System als berechenbar, was sich von aussen betrachtet im kalten Frieden mit Israel ausdrückte. Für die USA und die mit ihnen alliierten Golfmonarchien bestand kein Anlass, Ägyptens «tiefen Staat» zu zerschlagen. Die amerikanische Militärhilfe an Kairo fliesst auch nach Mubaraks Sturz in gewohntem Umfang von jährlich anderthalb Milliarden Dollar weiter. Dass alle Gaben ihre Empfänger stets auch verpflichten, wissen Ägyptens Generäle sehr genau. Ihre Macht gründet nicht auf den unpopulären Verträgen mit Israel, sondern auf ihrer wirtschaftlichen Stärke als Inhaber und Betreiber einer Vielzahl von staatlichen Unternehmen. Je nach Schätzung werden zwischen zehn und vierzig Prozent der ägyptischen Wirtschaft direkt oder indirekt von der Armee kontrolliert. Daran änderte auch der Wahlsieg der Muslimbrüder vor Jahresfrist nichts. Völlig ungeübt im Umgang mit Macht, standen die frommen Bärtigen nach kurzer Zeit buchstäblich mit abgesägten Hosen da. Die stets für ihre Friedfertigkeit gerühmten Ägypter erlebten einen Beinahezusammenbruch der öffentlichen Ordnung und eine Kriminalität von bisher unbekanntem Ausmass. Ob der Empörung über solch eklatante Unfähigkeit der neuen Regierung wurde übersehen, dass die Polizisten seit Mubaraks Sturz ihren Auftrag als Ordnungshüter schlicht sabotiert hatten. Kein Wunder, dass das neue und «demokratische» Ägypten unter solch miserablen Umständen keine Investoren fand. Hinzu kam ein verletzter Nationalstolz, nachdem Äthiopien am Oberlauf des Nils mit dem Bau eines Staudamms Ägyptens Lebensader angezapft hatte, ohne dass die neuen Machthaber in Kairo mit Kanonen gedroht oder Zetermordio geschrien hätten. Nicht einmal den immer frecher auftretenden Beduinen-Banden auf dem Sinai vermochten Mursi und seine Leute den Meister zu zeigen - was für Schwächlinge! So dachten Millionen und waren nur allzu bereit, ihren ersten gewählten Präsidenten zu opfern.
In Nassers Fussstapfen?
In der Logik dieser Entwicklung war es zwingend, dem Chef der Streitkräfte die Rolle des starken Mannes zu überlassen. Mit Abdelfatah as-Sisi stand ein Idealkandidat zur Verfügung: Offiziersausbildung in den USA, Militärattaché in Saudiarabien und demonstrative soldatische Tugendhaftigkeit. Sein Name fällt bereits im selben Atemzug mit Gamal Abdel Nasser, der ersten und bisher einzigen Lichtgestalt des modernen Ägypten. Für die Islamisten eignet sich as-Sisi schlecht zum Feindbild, da der drahtige Offizier als Mann aus dem Volk seinen Glauben an den wahren Gott mit entsprechendem Lebenswandel hinlänglich bewiesen hat.
Im Unterschied zu den durch und durch säkularen Kemalisten in der Türkei vertritt as-Sisi einen «tiefen Staat», der sich den regionalen, zunehmend religiös geprägten Umständen anpasste. Der neue Held geniesst die Unterstützung des saudischen Geldadels und weiss sich erst noch in der Sprache der Ungläubigen auszudrücken. Gut möglich, dass die Muslimbrüder angesichts solch drückender Überlegenheit klein beigeben und einem als Kompromiss verkleideten faktischen Machtverzicht zustimmen. Kurzfristig wäre weiteres Blutvergiessen abgewendet - um den Preis der Erhaltung eines Systems, das zwar Stabilität vorgaukeln mag, aber niemals erfüllen wird, was im Kern einer jeden Revolution steckt: eine gerechtere Verteilung der Macht.
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