In Lateinamerika mit seinen fast 600 Millionen
Einwohnern ist in den letzten Jahren eine starke, konsumorientierte
Mittelschicht entstanden. Diese löst sich von traditionellen
Wertvorstellungen und fordert vom Staat Service.
von Werner Marti, Buenos Aires
Ganz im Schatten des Aufstiegs von
Asien und des Umschwungs in den arabischen Ländern hat Lateinamerika in
den letzten Jahren enorme Veränderungen erlebt. Auslösender Faktor war
in erster Linie der markante Anstieg der Rohstoffpreise seit der
Jahrtausendwende. Bergbauprodukte wie Gold, Kupfer und Eisenerz,
ausserdem Erdöl und Erdgas sowie die landwirtschaftlichen Produkte,
allen voran die Sojabohne, das grüne Gold der Länder im südlichen
Südamerika, erzielten auf dem Weltmarkt markant höhere Preise als zuvor.
Dies war unter anderem eine Folge der steigenden Nachfrage aus Asien.
Für Lateinamerika, das traditionellerweise in der Weltwirtschaft die
Funktion eines Rohstofflieferanten eingenommen hatte, bedeutete dies
nicht nur deutlich höhere Einnahmen für die Privatwirtschaft, sondern
auch für den Staat. So ermöglichte es etwa der explodierende Erdölpreis
dem verstorbenen venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez, die
Staatsausgaben auf das Sechzehnfache zu steigern, von 10 Milliarden
Dollar 1998 auf 160 Milliarden Dollar 2012.
Neues Gewicht der Wirtschaft
In der ganzen Region bewirkte der
Anstieg der Exporteinnahmen ein überdurchschnittliches wirtschaftliches
Wachstum. Das Gewicht der regionalen Wirtschaft nahm dadurch markant zu.
Hatte die Wirtschaftsleistung Lateinamerikas ohne Karibik im Jahr 2000
noch lediglich 20 Prozent derjenigen der USA betragen, wuchs sie bis
2011 auf 37 Prozent des Bruttoinlandproduktes der Vereinigten Staaten
an, wie Zahlen der Weltbank belegen.
Der wirtschaftliche Aufschwung
bewirkte ein starkes Anwachsen der lateinamerikanischen Mittelklasse.
Eine kürzlich erschienene Studie der Weltbank zeigt, dass um 2003 in der
Region ein Prozess sozialer Transformation einsetzte, welcher eine
bemerkenswerte soziale Mobilität nach oben zur Folge hatte. Allein im
untersuchten Zeitraum von 2003 bis 2009 wuchs die Mittelklasse um rund
50 Prozent auf über 150 Millionen Menschen an. In der grössten
Wirtschaft, Brasilien, machten laut der Studie rund 20 Millionen
Personen diesen Aufstieg mit. Die Autoren verwenden eine auf Kaufkraft
basierte Definition, die für eine Klassifizierung in der Mittelklasse
zudem verlangt, dass die Gefahr eines neuerlichen sozialen Abstiegs
gering ist.
Gleichzeitig ging der Anteil der
Armen in der Region markant, von 44 auf 30 Prozent der Bevölkerung,
zurück. Während noch zur Jahrtausendwende rund zweieinhalbmal so viele
Arme wie Personen in der Mittelklasse gezählt wurden, umfassen beide
sozialen Schichten heute je ein knappes Drittel der Bevölkerung.
Zwischen den beiden Schichten lebt eine ähnlich grosse Gruppe der
Bevölkerung, die zwar der Armut entronnen ist, aber mangels Kaufkraft
und wirtschaftlicher Sicherheit von den Autoren noch nicht zur
Mittelklasse gezählt wird.
Die zunehmende Kaufkraft der
Mittelklasse hat eine Konsumwelle bewirkt, die von jedem Reisenden in
Lateinamerika beobachtet werden kann. Einkaufszentren schiessen nicht
nur in den Hauptstädten, sondern auch in vielen Provinzstädten wie Pilze
aus dem Boden. Der private Fahrzeugpark wurde modernisiert und ist
zahlenmässig rasch angewachsen. Die Regierungen investieren stark in die
Verkehrsinfrastruktur. Der Autobahnbau wird vorangetrieben. So sind
etwa in Argentinien seit kurzem endlich die drei grössten Städte mit
solchen Schnellstrassen verbunden. Bis anhin ungeteerte Überlandstrassen
werden asphaltiert. In Südamerika sind neue Ost-West-Transversalen
durch das Amazonasgebiet im Bau oder bereits fertiggestellt. Und in
verschiedenen Ländern entstehen neue, moderne Flughäfen oder sind
bereits eröffnet worden.
Stabilität durch Reformen
Eine Mehrheit der Länder hat den
neuen Reichtum durch die Hausse der Rohstoffpreise ausserdem auch für
wirtschaftliche Reformen genutzt. Dadurch sind etwa die Bankensysteme
widerstandsfähiger geworden. Dank gesünderen makroökonomischen Politiken
wurden die Staatshaushalte ins Lot gebracht, die Inflation gezähmt und
die Aussenverschuldung auf ein tragbares Niveau reduziert. Die
periodischen Wirtschaftskrisen des letzten Jahrhunderts sind deshalb
ausgeblieben. Den ersten grösseren Test bestand Lateinamerika in der
weltweiten Rezession von 2008/09, welche die Region dank den Reformen
deutlich rascher überwinden konnte als die entwickelte Welt.
Die verbesserten wirtschaftlichen
Grundlagen wurden auch von den internationalen Investoren honoriert. Die
erhöhte Kreditwürdigkeit bescherte den Lateinamerikanern deutlich
bessere Kreditbedingungen. Der Zufluss von fremdem Kapital war zeitweise
so stark, dass eine Reihe von Staaten Notmassnahmen gegen eine
Überbewertung der lokalen Währungen ergreifen mussten.
Zwar entschied sich eine Gruppe von Ländern, angeführt von Venezuela und Argentinien, für eine interventionistische Wirtschaftspolitik, die letztlich in hoher Inflation und Mangelwirtschaft endete. Doch dabei handelt es sich um eine klare Minderheit innerhalb der Region. Als Gegenstück entstand in den letzten zwei Jahren die vielversprechende Pazifik-Allianz von Mexiko, Kolumbien, Peru und Chile, die sich dem Freihandel und der freien Marktwirtschaft verpflichtet fühlt.
Zwar entschied sich eine Gruppe von Ländern, angeführt von Venezuela und Argentinien, für eine interventionistische Wirtschaftspolitik, die letztlich in hoher Inflation und Mangelwirtschaft endete. Doch dabei handelt es sich um eine klare Minderheit innerhalb der Region. Als Gegenstück entstand in den letzten zwei Jahren die vielversprechende Pazifik-Allianz von Mexiko, Kolumbien, Peru und Chile, die sich dem Freihandel und der freien Marktwirtschaft verpflichtet fühlt.
Auch was die Errichtung stabiler,
demokratisch legitimierter Regierungen anbelangt, hat die Region in den
letzten Jahren deutliche Fortschritte gemacht. Die Militärdiktatur war
für Lateinamerika lange Zeit eine typische Regierungsform. Vor mehr als
dreissig Jahren, am 17. Juli 1980, fand im lateinischen Südamerika der
letzte erfolgreiche Militärputsch gegen eine demokratisch legitimierte
Regierung statt. In Bolivien jagte damals General García Meza die
Übergangspräsidentin Lidia Gueiler aus dem Amt. Ab 1990 jedoch besassen
Brasilien und alle spanischsprachigen Länder Südamerikas demokratisch
gewählte Regierungen.
Konsolidierte Demokratie
Dies will selbstverständlich nicht
heissen, dass diese Länder inzwischen alle zu Musterdemokratien
geworden seien. Der Selbstputsch Fujimoris in Peru (1992), die Absetzung
Abdalá Bucarams durch Ecuadors Kongress wegen Unzurechnungsfähigkeit
(1997), der Sturz von Gonzalo Sánchez de Lozada durch einen
Volksaufstand in Bolivien (2003), die Zwangsexilierung von Präsident
Zelaya in Honduras (2009) und die Absetzung von Präsident Lugo durch
Paraguays Kongress (2012) sind Beispiele für Machtwechsel, die entweder
die Verfassung klar verletzten oder deren demokratische Legitimität
zumindest von breiten Kreisen angezweifelt wurde. Und in den
«bolivarischen» Ländern Venezuela, Bolivien, Ecuador und Nicaragua
untergruben und untergraben populistische Führer durch Aushebelung der
Gewaltenteilung, Unterdrückung der Pressefreiheit und massiven
Missbrauch öffentlicher Mittel für persönliche und parteipolitische
Zwecke die schwachen demokratischen Strukturen.
Trotzdem ist es unübersehbar, dass
in der Mehrheit der Länder der Region eine demokratische Konsolidierung
stattgefunden hat und dass demokratisch nicht legitimierte Machtwechsel
in den meisten Staaten heute keine Option mehr darstellen. Entsprechend
der politischen Theorie, wonach Demokratien in erster Linie von der
Mittelklasse getragen werden, müsste die Entwicklung der letzten Jahre
zu einer weiteren Konsolidierung führen. Dies schliesst freilich nicht
aus, dass die erstarkte Mittelklasse neue, möglicherweise
destabilisierende Forderungen an den Staat heranträgt, wie die jüngsten
Demonstrationen in Brasilien und der Kampf für erschwingliche Bildung in
Chile zeigen. In beiden Fällen geht es unter anderem um
Dienstleistungen des Staates, die von der Mittelschicht gefordert
werden.
Gerade die «bolivarischen» Länder
zeigen die Gefahren auf, die nicht integrierte Gesellschaften für die
Demokratie in Lateinamerika darstellen. Während es früher
verhältnismässig leicht möglich war, die arme Mehrheit de facto aus dem
politischen Prozess auszugrenzen, wird dies mit zunehmender
Demokratisierung und der Ausbreitung der modernen Kommunikationsmittel
immer schwieriger. Sind die armen Massen einmal mobilisiert, können sie
nicht mehr ignoriert werden, wie auch der peruanische Präsident Humala
kürzlich in einem Interview mit «El País» darlegte. Andernfalls drohen
ähnliche Entwicklungen wie in Venezuela und Bolivien, wo bisher
ausgegrenzte Mehrheiten - die an der Erdölbonanza nicht beteiligte
Unterschicht in Venezuela und die indianische Bevölkerung in Bolivien -
in autoritärer Form die Macht übernahmen. Ähnliches droht längerfristig
auch anderen Ländern, in denen eine Mehrheit der Bevölkerung von den
Früchten des Wachstums ausgeschlossen ist, wie beispielsweise in
Paraguay.
Gesellschaftlicher Wandel
Mit dem Wachstum der Mittelklasse
erlebten die traditionell konservativen Gesellschaften Lateinamerikas
auch eine rasche Säkularisierung und eine Liberalisierung ihrer bisher
von der katholischen Kirche geprägten Moralvorstellungen. Themen wie
Abtreibung und homosexuelle Partnerschaften, die noch vor zehn Jahren
praktisch in der ganzen Region ein absolutes Tabu waren, werden
plötzlich salonfähig. In einzelnen Staaten ist inzwischen die
Gesetzgebung weiter fortgeschritten als in Teilen Westeuropas. Die
gleichgeschlechtliche Ehe wurde in den letzten drei Jahren in
Argentinien, Brasilien und Uruguay gesetzlich verankert. In Kolumbien
geben mehrere Entscheidungen des Verfassungsgerichts die Vollmacht zur
Schliessung von Ehen zwischen gleichgeschlechtlichen Paaren, auch wenn
dazu noch kein gesetzlicher Rahmen geschaffen wurde. In weiteren Ländern
ist die gleichgeschlechtliche Ehe in Diskussion. Selbst im besonders
konservativen Chile, das erst vor neun Jahren die Ehescheidung
einführte, ist seit drei Jahren ein Gesetzesprojekt zur Einführung der
gleichgeschlechtlichen Ehe hängig.
Was den Schwangerschaftsabbruch
anbelangt, so führte Mexiko-Stadt 2007 eine Fristenlösung ein, nachdem
zuvor einzig in Kuba eine vergleichbare Regelung existiert hatte. In
einigen Ländern ist bis heute selbst im Falle einer schweren Gefährdung
der Mutter oder bei Vergewaltigung eine Abtreibung gesetzlich nicht
erlaubt. Ende letzten Jahres führte Uruguay nach jahrelangen
Diskussionen ebenfalls eine Fristenlösung ein, eine Entscheidung, die
auch regionale Signalwirkung haben dürfte.
Verbleibende Handicaps
Selbstverständlich ist die Region
gegen Rückschläge nicht gefeit. So ist zurzeit etwa eine
Wachstumsverlangsamung zu beobachten, die seit längerem besonders die
brasilianische Wirtschaft plagt. Längerfristig dürfte aber der weltweite
Rohstoffhunger, insbesondere durch den Aufstieg von China, anhalten und
damit auch fortan für hohe Rohstoffpreise sorgen.
Trotzdem steht die Region auch
weiterhin vor grossen Herausforderungen. Eine Diversifizierung ihrer
Wirtschaften, weg von der Rolle des reinen Rohstofflieferanten, ist den
Lateinamerikanern bisher nur ungenügend gelungen. Für eine
wirtschaftliche Entwicklung in diesem Sinne wäre eine Reform der
Bildungssysteme vordringlich. Es müsste sichergestellt werden, dass auch
die Mehrheit der Bevölkerung, die sich keine teuren Privatschulen
leisten kann, eine qualitativ gute Ausbildung erhält. Ausserdem müsste
das Rechtssystem reformiert werden. Die ungenügende Rechtssicherheit
erhöht die Produktionskosten und schreckt Investoren ab. Dasselbe gilt
auch für die hohen Kriminalitätsraten der Region. Der Kriminalität
müsste mit vorbeugenden Massnahmen und effizienteren Polizeikräften zu
Leibe gerückt werden.
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