Montag, 5. August 2013

Japan, oder Die Kultur der Untoten.

aus NZZ, 5. 8. 2013

Je zivilisierter, desto einsamer
 
Über die Verkümmerung des Sexualtriebs in Japan und die Erschöpfung des Lebens durch Kultur

Kinderlosigkeit wird in Japan immer mehr zum Malaise. Doch damit steht das Land nicht allein. Die Zeugungslust schwindet mit wachsendem Wohlstand. Trotz der medialen Sexualisierung der Lebenswelt scheint den Menschen die Lust auf Sex zu vergehen. Könnte dies an einem Übermass an zivilisatorischer Zähmung liegen?

von Leopold Federmair

Sigmund Freud hielt Sexualität und Kultur für unverträglich. Die Liebe, schrieb er 1912, sei im Grunde heute ebenso animalisch, wie sie es seit je gewesen sei. Verzicht, Leiden, Sublimierung, so entsteht Kultur. «Das Erlöschen des Menschengeschlechts infolge seiner Kulturentwicklung» könne «nicht abgewendet werden». Man beachte: infolge. Nicht Krieg, Barbarei, Grausamkeit sind die grösste Bedrohung, sondern ein Zuviel an Zivilisierung. Jahrzehnte vor Günther Anders hat Freud die Antiquiertheit des Menschen behauptet. Allerdings ist noch ein Satz zu zitieren (und zu unterstreichen): Die trübe Prognose werde erst «in weitester Ferne» Wirklichkeit werden. Besonnen, wie Freud war, kann man annehmen, dass ein solcher Superlativ eine Zeitspanne von Tausenden Jahren meinte. Einstweilen - oder seit je - kann Kultur nur bestehen, wenn sie mit ihrer eigenen Gefährdung koexistiert. Manch ein Kulturproduzent liebäugelt mit ihr oder versucht, das Erlöschen vorwegzunehmen.

Das zivilisierte «Zombietum», wie man es im japanischen Alltag antrifft, ist ein realer, aber unbewusster Schritt zu diesem Erlöschen; eine Vorstufe des selbstbewirkten Todes des Menschengeschlechts. Konkrete Vorhersagen sind hier nicht zu machen. Statistiker könnten das Erlöschen vorausberechnen, aber Statistiken sind trügerisch, solange sie nicht sämtliche Parameter der Zukunft mit einbeziehen können. Die durchschnittliche sexuelle Aktivität ist nach (ebenfalls trügerischen) weltweiten Umfragen in Japan am niedrigsten, die Selbstmordrate (nicht trügerisch) am höchsten. Die Zahl der Geburten pro Jahr sinkt kontinuierlich, in den letzten Jahren wurden Tausende Schulen geschlossen, weil sie nicht mehr gebraucht werden. Nach Gründen für ihre sexuelle Trägheit befragt, geben Japaner häufig an, sie seien überarbeitet und hätten keine Zeit dafür.

Die Unvernunft des Triebs

Ich glaube nicht, dass darin die Hauptursache liegt. Ausserdem fliehen die meisten in die Arbeit, wollen sich nicht der Lust oder der Nähe zum Nächsten überlassen. Für viele Männer bedeutet Lust trinken in der Männerrunde oder Münzen in den Schlitz einer Maschine in einer lärmenden Pachinko-Halle werfen. Aus dem öffentlichen Bereich und von den Arbeitsplätzen ist Sinnlichkeit verbannt, die Vorsichtsmassnahmen gegen sexuelle Belästigung, zu der es bei so viel Verbot und Selbstbeherrschung zwangsläufig kommt, haben hysterische Ausmasse.

Sämtliche von Politikern erwogenen Massnahmen zur Hebung der Geburtenrate sind zum Scheitern verurteilt. In weniger zivilisierten Ländern, in armen, ungebildeten Familien vermehrt sich der Nachwuchs, weil die Lust nicht durch Kultur, durch Zukunftsplanung, durch Ge- und Verbote gebremst oder umgelenkt wird. Der körperliche Trieb ist augenblicksbezogen, unbekümmert um die Zukunft der Kinder. Der Begriff der Familienplanung enthält in nuce die Ausrottung der Familie. «Diese Welt erlaubt (oder verdient) nicht, dass ich Kinder in sie setze», ist ein Gedanke, der nur in hochzivilisierten Ländern gedeihen kann. Natürlich kann man Geschlechtsverkehr praktizieren und die Empfängnis verhüten, aber mir scheint - jedenfalls lehrt es die japanische Erfahrung -, dass der mangelnde Wille, Kinder in die Welt zu setzen, mit einer Verkümmerung des Sexualtriebs einhergeht.

Wie absurd, denke ich, wenn ich meine Tochter ansehe, vor der Zeugung eines Kindes an die Finanzierung seiner universitären Ausbildung zu denken (in Japan studieren mehr als 60 Prozent der jungen Bevölkerung, und fast alle erhalten einen Studienabschluss). Wer weiss, ob es in zwanzig Jahren noch Universitäten im heutigen Sinn geben wird, ob sie dieselbe Wertschätzung haben werden. Wer weiss, ob meine Tochter je studieren will. Aber so denkt niemand, alle denken: Wenn ich ihm oder ihr keine guten Bedingungen garantieren kann, verzichte ich lieber auf ihn oder sie. Und sie verzichten, nicht aus dieser Überlegung heraus, sondern weil sie keine Zeit oder Lust oder einfach keinen Menschen haben, mit dem sie dem Sex frönen könnten. Je zivilisierter, desto einsamer. Kulturbewusst nehmen sie die Einsamkeit auf sich. Kommunikation ist gesellschaftlicher Schein.

Die Sinnlichkeit wieder einführen

Die einzige Möglichkeit, dem Erlöschen des Menschengeschlechts etwas entgegenzusetzen, ist die Wiedereinführung von Sinnlichkeit in den Alltag. In Ländern, die weder ganz kulturlos noch ganz arm sind, habe ich das Miteinander von Lust und Ernst kennengelernt. Ich denke etwa an Besuche beim Optiker in Buenos Aires, an Zahnarztbesuche in Szeged. Die Helferinnen und auch leitende Angestellte waren schöne Frauen, die sich in ihrer Kleidung und ihrem Benehmen aber sichtlich als Geschlechtswesen zu erkennen gaben. Nicht, dass sich Männer jeden Augenblick auf Frauen stürzen würden. Doch die Bereiche sind nicht streng getrennt.

«Aber so kann man doch nicht arbeiten . . .» Kann man nicht? Nur der sture Ernst bringt Ergebnisse in der Arbeit? Nein, der sture Ernst bewirkt nur, dass viel unsinnige Arbeit gemacht und viel zu viel Zeit aufgewendet wird, so dass die Angestellten erst spätnachts nach Hause kommen und todmüde ins Bett sinken, statt ihre Frau - wenn sie eine haben - zu beglücken. Die fortgeschrittenste Gesellschaft arbeitet eifrig an ihrer Unterwanderung. Will man diesen Vorgang ernstlich - ja, ernstlich! - aufhalten, empfiehlt es sich, Lust und Kultur, Sinnlichkeit und Arbeit nicht streng zu trennen (die Trennung geht in der Regel auf Kosten des ersten der beiden Termini). Womöglich ist die von Freud aufgewiesene Alternative nicht so streng, wie sie sich in seiner Schrift über die «allgemeinste Erniedrigung des Liebeslebens» anhört. Japanische Speiserituale zeigen, dass Kultur in den Dienst einer im Grunde animalischen Lust treten kann.

Womöglich ist die Entropie der menschlichen Langzeitgeschichte kein unumkehrbares Schicksal. Natürlich kann das Ziel auch nicht die Rückkehr zur Barbarei sein, zur unumschränkten Herrschaft animalischer Triebe. Aber einen Ausgleich könnte es geben, ein Miteinander und Ineinander, einen Grenzverkehr zwischen den Bereichen anstelle der strikten Trennungen. Ein Mehr an Lust, nicht nur durch die Nähe schöner Frauen (und Männer), die ihre Schönheit nicht verbergen, sondern auch an der Arbeit selbst. Der durchschnittliche japanische «salaryman» hasst seine Arbeit, ohne diesen Hass je infrage zu stellen, und so soll es, nach der heute herrschenden Ethik, in der angeblich die Lehren des Konfuzius nachwirken, auch sein.

Leopold Federmair, Schriftsteller und Übersetzer, lebt seit elf Jahren in Japan, wo er an der Universität Hiroshima lehrt. Buchveröffentlichungen im Herbst 2013: «Das rote Sofa. Geschichten von Schande und Scham», Otto-Müller-Verlag; «Die grossen und die kleinen Brüder. Japanische Betrachtungen», Klever-Verlag.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen