Die Augen sind die besseren Ohren
Wir sind Augenmenschen, selbst dann, wenn es um Musik geht. Die wird profunder beurteilt, wenn man Musizierende nur sieht (und nicht hört).
Von Jürgen Langenbach
Dass Musik oft als störend empfunden wird, weil sie mit Geräusch verbunden ist, ist so wahr wie im Grundsatz übertrieben, schließlich geht es bei Musik um nichts anderes als um Geräusch – strukturiertes – und das darauf spezialisierte Organ, das Gehör. Das allerdings hat, wie die anderen Sinne auch, Nachrang gegenüber der einen Wahrnehmung, die bei uns dominiert, seit die Ahnen sich zum aufrechten Gang erhoben: Wir sind Augentiere, beurteilen ein Buch nach dem Umschlag, treffen Wahlentscheidungen nach Kandidatengesichtern – kantig müssen sie sein, das signalisiert Qualität –, verlieben uns auf den ersten Blick, nie bis selten hingegen auf den ersten Ton.
Aber bei Musik hat das Auge nichts mitzureden, der Genuss mit Kopfhörer im abgedunkelten Salon ist viel klarer als der im Konzertsaal, und bei Wettbewerben spielt der Nachwuchs oft hinter Vorhängen auf, auf dass die Musik ungestört in die Jurorenohren finde! Ach was, das ist allenfalls die halbe Wahrheit: Nicht erst Popmusiker verwandeln ihre Darbietungen in Shows, in der noch 70-Jährige wie Mick Jagger optisch zeigen, welche musikalische Kraft in ihnen steckt. Auch Robert Schumann war 1854 schon etwas aufgefallen am Vortrag eines Kollegen: „Würde Liszt hinter einem Vorhang spielen, ginge ein großer Teil der Poesie verloren.“
Das geriet in Vergessenheit, erst spät öffneten sich die Augen für die Macht der Augen auch auf dem Feld der Klänge. Seit den 1980ern tauchten Forschungen auf. 2012 fassten Friedrich Platz und Reinhard Kopietz (Uni Hanover) in einer Metaanalyse 15 Studien zusammen. Immer ging es um Musik hören vs. Musik hören und sehen. Und immer bot Letzteres größeren Genuss: Wenn beide Sinne im Spiel sind, wird eine Darbietung als besser bewertetet, und zwar so stark, dass die Differenz dem Wert einer Schulnote entspricht (Music Perception, 1, S. 71): „Diese Tendenz ist genreübergreifend beobachtbar und gibt einen deutlichen Hinweis darauf, dass das Musikerleben viele Sinne einbezieht und nicht als ausschließlicher Hörvorgang gesehen werden darf“, schloss Kopietz.
Nun geht Chia-Jung Tsay (London) einen Schritt weiter. Sie kommt nicht von der Musikpsychologie wie Paltz/Kopietz, sie hält einen Lehrstuhl für Management Science. Ihr geht es um breitere Fragen – nach welchen Kriterien bzw. mit welchen Sinnen wird Personal beurteilt, etwa in Bewerbungsgesprächen? Sie geht ihnen am Beispiel der Musik nach. Dazu hat sie Testpersonen ins Labor gebeten – einige hundert, zur Hälfte Laien, zur Hälfte Berufsmusiker – und ihnen Sequenzen aus zehn internationalen Wettbewerben in klassischer Musik vorgespielt. Darin traten die drei Sieger auf, und die Testpersonen sollten richtig zuordnen, wer Erster, Zweiter und Dritter war.
Vertrauen ins Gehör ist Selbsttäuschung
Aber erst wurden sie gefragt, ob sie von den Videos nur die Tonspur oder nur die Bildspur oder beide hören/sehen wollten: 58,8 Prozent entschieden sich für nur Ton, 14,2 % für nur Bild, 27,4 % für beides. Dann kamen sechs Experimente, in denen die Kanäle getrennt wurden, im ersten waren die Laien an der Reihe, Tsay nennt sie „Novizen“. 83 Prozent gaben an, dass es ihnen bei Musik primär um die Ohren geht, aber die meisten irrten: Die reine Zufallswahrscheinlichkeit, dass die Wettbewerbsteilsnehmer richtig zugeordnet wurden, betrug für jede/n der drei 33 Prozent. Aber wenn die Testpersonen nur ihren Augen trauen sollten – Bilder ohne Töne bekamen –, dann trafen sie in 52,7 Prozent der Fälle richtig. Bei der Begrenzung auf das Ohr kamen sie nur auf 25,2 Prozent, und bei Auge und Ohr kam gerade die Zufallswahrscheinlichkeit heraus, 33 Prozent.
Dann kamen die Experten an die Reihe, bei ihnen war der Spagat noch breiter: 96,3 Prozent wollten nur ihren Ohren trauen, aber wenn sie das tun durften – und nur die Tonspur wahrnahmen, trafen gerade einmal 20,5 Prozent. Reines Zusehen ergab 47,0 %, sehen und hören kombiniert lag in der Mitte. Die Befunde hielten unabhängig davon, wie lange die vorgespielten Proben waren, Tsay variierte zwischen einer Sekunde und einer Minute (Pnas, 19. 8.). „Beide, Experten und Novizen, waren sehr überrascht über ihre eigenen Daten“, schließt Tsay.
Aber wie geht das alles zu? Dem spürte Tsay im letzten Experiment nach, das klären sollte, was die Augen da sehen: Es geht natürlich um den Ausdruck, des Körpers, und vor allem den des Gesichts. Dort muss Leidenschaft toben – Liszt schüttelte seine Mähne wie ein Wilder und spielte die Bösendorfer in Stücke, Jagger hat auch genug drauf –, gefolgt von Motivation und Kreativität. Was hingegen überhaupt nicht zählt, ist die Ausstrahlung von Selbstvertrauen.
Ursprung der Musik
Die Anfänge der Musik liegen im Dunkeln, die Evolutionsbiologen streiten über den Zusammenhang mit der Entstehung der Sprache und darüber, ob Musik einen evolutionären „Sinn“ hat oder schmückendes Beiwerk ist. Musiziert wird seit 40.000 Jahren, so alt sind die ältesten bekannten Instrumente, Flöten aus Tierknochen. Man darf annehmen, dass Musik lange in Kulte eingebettet war, in denen viele Sinne angesprochen wurden, der Konzertsaal ist eine späte Erfindung.
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