Dein Wille ist freier, als man dir weismachen will.
Andrea Weber-Tuckermann
Pressestelle
Universität Ulm
Sind wir Sklaven unseres Unbewussten und können nichts dagegen tun? Hirnforscher sagen: Nein! Unser Bewusstsein kontrolliert unbewusste Prozesse im Gehirn. Der Wille und die automatische Verarbeitung arbeiten Hand in Hand, nicht gegeneinander. Das hat eine Forschergruppe an der Universität Ulm um den Psychologen Professor Markus Kiefer herausgefunden.
Unbewusste Prozesse, die im Widerspruch zu unseren Absichten stehen, werden weitgehend von unserem Bewusstsein blockiert. „Unser Wille ist freier als gedacht“, sagt Markus Kiefer, Sprecher eines deutschlandweiten Projektnetzwerkes zur Bewusstseinsforschung. Seine Forschungsgruppe konnte mit Messungen der Hirnaktivität im Magnetresonanztomographen (MRT) zeigen, dass bewusste Vorsätze die Arbeit unserer automatischen Systeme im Gehirn steuern. Die Forscher wiesen erstmals nach, dass solche Vorsätze für eine gewisse Zeit Netzwerke von Bereichen im Gehirn etablieren, die den unbewussten Informationsfluss im Gehirn steuern. Diese Ergebnisse wurden nun in der renommierten Fachzeitschrift Human Brain Mapping veröffentlicht.
Seit den Arbeiten des Begründers der Psychoanalyse Sigmund Freund wurde unhinterfragt angenommen, dass unser Unbewusstes autonom und nicht vom Bewusstsein kontrollierbar ist. „Die Vorstellung des chaotischen und unkontrollierbaren Unbewussten prägt bis heute auch die akademische Psychologie und Kognitionsforschung. Dieses Dogma wurde in der Vergangenheit kaum kritisch hinterfragt“, so Professor Markus Kiefer. „Unsere Befunde widerlegen diese Lehrmeinung. Sie zeigen eindeutig, dass unser Bewusstsein zu den Absichten passende unbewusste Vorgänge in unserem Gehirn verstärkt, nicht passende dagegen abschwächt.“ Dadurch werde gewährleistet, dass unser bewusstes „Ich“ Herr im Haus bleibt und nicht durch eine Vielzahl unbewusster Tendenzen beeinflusst wird. „Wir sind also keinesfalls Sklaven unseres Unbewussten, wie lange Zeit angenommen“, meint Kiefer.
Diese Kontrolle des Unbewussten durch das Bewusstsein zeige sich, so Kiefer, auch im Alltag: “Wenn ich in den Supermarkt gehe, um Spülmittel zu kaufen, bin ich wenig empfänglich für die Schokolade im Süßwarenregal. Die Situation ist ganz anders, wenn ich gerade hungrig und dabei bin, Nahrungsmittel einzukaufen. Ähnliches gilt auch beim Autofahren: Wenn ich einen Fußgänger auf der Fahrbahn erwarte, kann ich ihn mit höhere Wahrscheinlichkeit auch dann rechtzeitig erkennen und abbremsen, wenn er am Rande meines Gesichtsfeldes auftaucht und damit nicht bewusst wahrnehmbar ist.“ Die bewussten Absichten und Einstellungen entscheiden somit darüber, ob ein unbewusster Prozess in unserem Gehirn überhaupt ablaufen kann.
Für die Studie haben die Forscher der Ulmer Universitätsklinik für Psychiatrie die Gehirnaktivität von Probanden beim Lesen von sichtbaren Worten im Magnetresonanztomographen gemessen. Zuvor wurden andere Worte, so genannte Bahnungsreize, für eine ganz kurze Zeit eingeblendet, so dass sie nicht bewusst wahrnehmbar waren. Bedeutungsmäßig verwandte unbewusste Bahnungsreize beschleunigten die Erkennenszeiten der nachfolgend gezeigten kritischen Wörter (z.B. Tisch-Stuhl, Henne-Ei) nur dann, wenn die Probanden zuvor die Absicht hatten, die Bedeutung von Wörtern zu verstehen. Hatten die Probanden dagegen die Absicht, auf die Form von Buchstaben zu achten und die Wortbedeutung zu ignorieren, hatten die unbewussten Bahnungsreize keinen Einfluss auf die Erkennenszeiten der sichtbaren Worte.
Diese Blockade unbewusster Prozesse durch die bewussten Absichten der Probanden konnte auch anhand der Messung der Hirnaktivität nachgewiesen werden. Wie bei den Erkennenszeiten auch, wurde die Gehirnaktivität beim Lesen der sichtbaren Worte nur dann durch die unbewussten Bahnungsworte verändert, wenn die Probanden zuvor, auf die Bedeutung von Bildern beachteten. Beachteten die Probanden zuvor die Form von Bildern, hatten die unbewusst wahrgenommenen Worte keinen Einfluss auf die Gehirnaktivität beim Lesen. Es zeigte sich, dass die bewussten Absichten der Probanden, auf Bedeutung oder Form zu achten, für eine gewisse Zeit unterschiedliche Netzwerke von Hirnarealen etablierten, welche die Verarbeitung der unbewusst wahrgenommenen Reize beeinflussten.
Mit 1,9 Millionen Euro förderte die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) ein deutschlandweites Projektnetzwerk zur Bewusstseinsforschung, in das das Ulmer Projekt eingebettet ist. Kiefer ist Sprecher dieses Netzwerkes: „Mühelos koordiniert das Gehirn im Alltag bewusste und unbewusste Prozesse, etwa bei der Wahrnehmung. Aber was dabei im Kopf passiert, ist sehr kompliziert und nach wie vor zum Teil unverstanden. Philosophen streiten seit Jahrtausenden über die Natur des Bewusstseins und sein Verhältnis zu den unbewussten Vorgängen. Wir können nun mit modernsten Methoden bewusste und unbewusste Prozesse im Gehirn sichtbar machen und so zur Lösung dieser alten Frage beitragen“. Im Gegensatz zur früheren Lehrmeinung werde durch diese Forschung deutlich, dass sich bewusste und unbewusste Vorgänge im Gehirn wechselseitig beeinflussen.
Text: Markus Kiefer
Weitere Informationen:
Prof. Dr. Markus Kiefer, Universität Ulm, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie III, Leiter der Sektion für Kognitive Elektrophysiologie; Tel. 0731/500-61532; Email: markus.kiefer@uni-ulm.de;
Weitere Informationen:
Wolf Singer’s Entsorgung des Ich.
Den
nachstehenden Text aus dem Februar 2005 habe ich ein Jahr lang
vergeblich in einer Zeitschrift unterzubringen gesucht. Den
naturwissenschaftlichen Fachblättern war er ‘nicht fachlich genug’, den
kulturwissenschaftlichen Blättern war er ‘zu fachlich’. Der
fach-übergreifenden Zeitschrift Gehirn & Geist, die „Das Manifest“ veröffentlicht hatte und für die er gedacht war, war er gar…
‘nicht populär genug’!
Die Spatzen brüllen es vom Dach: Die Hirnforschung hat uns eine Revolution beschert. Die Freiheit des Willens ist widerlegt, das Ich liegt bei den Akten. Ein neues Menschenbild? betitelt ihr Wortführer sein [damals] jüngstes Buch.
Spontaneität…
Lange sah es aus, als sei die Hirnforschung im Begriff, auf empirischen Wegen im menschlichen Erkennen den Vorrang des Subjektiven vor dem Objektiven nachzuweisen, den Kant und seine Anhänger immer behauptet hatten. Denn ‚empfangen’ würden von unserm Gehirn, so heißt es, immer nur einzelne Sinnesreize. Diese zu einer bedeutungsvollen Einheit zusammenzufassen, sei dessen eigne Leistung, die den Sinnesreizen gewissermaßen ‚vorausgeht’. „Einzelne Neurone repräsentieren durch den Grad ihrer Aktivierung lediglich elementare Objektmerkmale, keine komplexe Merkmalskonstellationen”, schreibt Wolf Singer.[1] “Jede Zelle interagiert mit etwa zwanzig bis dreißigtausend anderen.[2] Die Information über komplexe Objekte wird im Gehirn in jedem Fall arbeitsteilig durch sehr viele Neurone analysiert, von denen jedes durch seine Aktivierung jeweils nur einen relativ kleinen Teilaspekt der Objektbeschaffenheit kodiert. Diese jeweils für ein Merkmal zuständigen Neurone [sind] nicht etwa in einem eingegrenzten Hirnareal aufzufinden, sondern über ausgedehnte Hirnareale verteilt. Objekte [werden] nicht durch die Aktivität einzelner oder sehr weniger Neurone in der Hirnrinde repräsentiert, sondern durch ausgedehnte und über weite Bereiche verteilte Neuronenverbände – sogenannte Assemblies.“[3]
Das bedeute, „dass die Verschaltungsarchitektur eine ganz wesentliche Determinante für Hirnfunktionen [ist]. Hier liegen die meisten Freiheitsgrade, da die Funktionen einzelner Nervenzellen recht stereotyp sind.[4] Die Spezifizität der Hirnfunktionen beruht ausschließlich auf der Architektur der Verbindungen zwischen Nervenzellen. Das Programm [des Gehirns] residiert praktisch in dieser Architektur der Verbindungen und in deren Gewichtung, die in den Grundzügen genetisch vorgegeben wird. Sie speichert gewissermaßen die während der phylogenetischen Entwicklung gewonnene Erfahrung über das Sosein der Welt.[5] Wir kommen mit erheblichem Vorwissen über die Welt in diese.” [6]
Dieses Vorwissen über die Welt ist nicht positiv als ‚Information’ kodiert, sondern problematisch: “Vom nur teilweise vorgefertigten Gehirn wird also eine Vielzahl von Fragen an die Welt gestellt, deren Beantwortung zu Strukturänderungen führt. Das Gehirn interpretiert.”[7] Daraus folgt, “dass Wahrnehmung nicht als passive Abbildung von Wirklichkeit verstanden werden darf, sondern als das Ergebnis eines außerordentlich aktiven, konstruktivistischen Prozesses gesehen werden muss, bei dem das Gehirn die Initiative hat.[8] Das Gehirn ist nie ruhig, sondern generiert ständig hochkomplexe Erregungsmuster, auch wenn Außenreize fehlen.[9] [Es] bildet ständig Hypothesen darüber, wie die Welt sein sollte, und vergleicht die Signale von den Sinnesorganen mit diesen Hypothesen. Finden sich die Hypothesen bestätigt, erfolgt die Wahrnehmung nach sehr kurzen Verarbeitungszeiten. Treffen sie nicht zu, muss das Gehirn seine Hypothesen korrigieren, was die Reaktionszeiten verlängert.”[10]
Der alte Streit zwischen Idealismus und Realismus wäre empirisch endgültig entschieden:
‚Wahr’nehmen ist nicht aufnehmen, sondern ein “Verifizieren
vorausgeträumter Hypothesen”.[11]
Die apriorische Synthesis, die die neuronalen Signale zu einer
sinnvollen Wahrnehmung ‚bedeutet’, “ist ein Actus der Spontaneität der
Vorstellungskraft”, der “nicht durch Objekte gegeben, sondern nur vom
Subjekte her verrichtet werden kann”, hieß es in der Kritik der reinen Vernunft.[12]
…und Spiel.
Der Subjektivismus des Hirnforschers geht noch weiter. Das Subjekt ‚erkennt’ nämlich nicht bloß aktiv, aber gesetzmäßig; sondern es macht seine Tatsachenfeststellungen von apriorischen Wertzuschreibungen abhängig. Was immer ‚erscheint’, wird “natürlichen Bewertungsprozessen unterworfen”, die “Veränderungen nur dann zulassen, wenn das Gesamthirn befunden hat, dass die jeweils zur Verarbeitung gelangten Aktivitätsmuster bedeutsam sind. Diese Bewertung wird von Zentren im limbischen System vorgenommen. Das Bewertungsergebnis wird den über die gesamte Hirnrinde verteilten Verarbeitungszentren über Nervenbahnen und spezielle chemische Überträgerstoffe, sogenannte Neuromodulatoren, mitgeteilt.” Etwa achtzig Prozent der synaptischen Verbindungen von Nervenzellen der Großhirnrinde gehören zu dieser Klasse, und nur etwa zehn bis zwanzig Prozent der Eingänge stammen unmittelbar aus den Sinneszellen. “Die Sinnessysteme und damit die Signale aus der umgebenden Welt werden somit nur über eine sehr kleine Fraktion von Verbindungen in die Großhirnrinde vermittelt. Das System beschäftigt sich hauptsächlich mit sich selbst: achtzig bis neunzig Prozent der Verbindungen sind dem inneren Monolog gewidmet.”[13]
“Die Fähigkeit des Gehirns, prädikative Modelle von noch ausstehenden Ereignissen zu bilden, um sich schneller anpassen zu können, ist relativ rezent. Aber wenn es einmal ein System gibt, das auf der Basis von Erfahrung solche prädikativen Modelle entwickeln kann, was die Speicherung von Erfahrungsinhalten voraussetzt, dann muss es kombinatorisch spielen können. Was als Repräsentation internalisiert wurde, muss in verschiedene Bezüge gestellt werden, um prüfen zu können, was alles passieren könnte.”[14]
Spielend finden wir uns nicht nur im grauen Alltag zurecht: “Das ist auch das, was ein Wissenschaftler macht, wenn er Theorien bildet, und was ein Künstler macht, wenn er etwas herstellt.[15] Der kreative Prozess in der Wissenschaft ist derselbe wie in der Kunst. Der Erkenntnisprozess der Wissenschaft fängt mit dem Generieren von Hypothesen an, die zunächst intuitiv erfasst werden, wobei sehr oft ästhetische Konsistenzkriterien zugrunde gelegt werden, die gar nicht rationalisierbar sind. Man sucht offenbar nach ganz ähnlichen Kriterien wie der Künstler: nach Stimmigkeit oder Geschlossenheit. Sehr vieles in der Wissenschaft wird von der Ästhetik dominiert. Eine wissenschaftliche Theorie wird dann vom Kreis der Eingeweihten als gültig angesehen, wenn sie erstens widerspruchsfrei mit vorhandener Evidenz ist, und zweitens, wenn sie schön ist. Sie muss einfach sein und befriedigen. Ganz ähnlich geht der Künstler vor, nur ist der Stoff, mit dem er umgeht, ein anderer. Auch der Künstler bildet die Welt ab, wie er sie interpretiert, also innerhalb eines Beschreibungssystems, er schafft neue Wirklichkeiten, neue Interpretationen, was der Wissenschaftler auch tut, wenn er ein Modell des Erfahrbaren erzeugt”;[16] er spielt mit dem Material, und “irgendwann weiß er, dass es jetzt passt.”[17]
“Was der Künstler und der Wissenschaftler machen, ist nichts anderes, als der Neugierde und dem Verlangen nach dem kombinatorischen Spiel nachzugeben und, losgelöst vom utilitaristischen Alltagsgeschäft des Lebens, dieses kombinatorische Spiel weiter zu spielen. Dadurch entstehen Modelle der Welt. Dieses Spiel ist offenbar so tief in der Architektur des Gehirns verankert, das es gespielt werden muss, wenn das System überhaupt sinnvoll zum Lösen von Alltagsproblemen eingesetzt werden soll. Manche spielen das sehr gut, manche weniger, aber alle spielen. Insofern ist jeder, der wahrnimmt, in gewissem Sinne ein Künstler, weil er Modelle von der Welt erzeugt, interpretiert und selber seine Stimmigkeitskriterien generiert.”[18]
Oder Determination?
Das Wahrnehmen erscheint als Leistung nicht nur eines spontanen Subjekts, sondern gar als die eines künstlerischen Spielers. Umso verblüffender ist die Schlussfolgerung, mit der der empirische Hirnforscher Wolf Singer in den deutschen Medien Furore macht: “Im Bezugssystem neurobiologischer Forschung gibt es keinen Raum für objektive Freiheit, weil die je nächste Handlung, der je nächste Zustand des Gehirns immer determiniert wäre durch das je unmittelbar Vorausgegangene.”[19] Was ihm im Bezugssystem neurobiologischer Forschung offenbar niemand bestreitet und was außerhalb dieses Bezugssystems ihm zu bestreiten niemand nötig hat, will Wolf Singer aber innerhalb dieses Bezugssystems nicht belassen: “Unaufschiebbar werden schon jetzt Überlegungen über die Beurteilung von Fehlverhalten, über die Beurteilung von Schuld und unsere Begründungen von Strafe.”[20]
Wie kam es zu dieser Wendung? Anlass war “das so genannte Bindungsproblem”; der Umstand nämlich, dass die Forscher keine ‚Stelle’ finden können, an der die Synthesis vollzogen wird. Da sitzt kein Richter, der ‚jetzt’ sagt und ‚es gilt’. “Die Ergebnisse der vielen, gleichzeitig ablaufenden Sinnesfunktionen werden parallel an die ebenfalls zahlreichen exekutiven Zentren weitergegeben, ohne dass vorher alle Informationen an einem Ort zusammen geführt würden. Wie dennoch ganzheitliche Wahrnehmung und wohl koordinierte Bewegungen zustande kommen, ist unklar. Es muss Metarepräsentationen für die Ergebnisse dieser Teilprozesse geben, doch diese können ebenfalls nur nichtlokale Gebilde sein, also wiederum einem distributiven Prinzip folgen. Wir vermuten, dass die Einbindung verteilter Neuronengruppen in diese Metarepräsentationen durch zeitliche Synchronisation neuronaler Antworten erfolgt.”[21] Es sei “eine Illusion, das wir im Gehirn ein Kommandozentrum haben, in dem das Ich residiert und wertet, entscheidet und befiehlt. Stattdessen müssen wir uns das Ich als einen räumlich verteilten, sich selbst organisierenden Zustand denken”.[22] “Die Annahme, wir seien voll verantwortlich für das, was wir tun, weil wir es ja auch hätten anders machen können, ist aus neurobiologischer Perspektive nicht haltbar. Neuronale Prozesse sind deterministisch. Dieses Wissen muss Auswirkungen haben auf unser Rechtssystem, auf die Art, wie wir Kinder erziehen und wie wir mit Mitmenschen umgehen.”[23]
Welche Auswirkungen? Ist mein Gehirn jemand anders als ich selbst? Wenn mich ein Rüpel belästigt, ist also nicht er selber schuld, sondern sein Gehirn. Wenn ich ihm dafür in den Steiß trete, dann spürt er meinen Fuß zwar am Steiß – aber es ist sein Hirn, das ihn spürt. So bleibt alles wie gehabt: Der Schuldige kriegt, was er verdient. Man sieht gar nicht ein, welches die praktischen Konsequenzen aus Wolf Singers Entdeckungen sein könnten, und warum er davon so viel Aufhebens macht.
Es bleibt die wissenschaftliche Frage nach dem Subjekt des Erkennens und der Willensbildung. Doch zu der trägt das “so genannte Bindungsproblem” überhaupt nicht bei. Denn was würde sich ändern, wenn die Hirnforscher ein ‚Zentrum’ hätten lokalisieren können? Gar nichts. Wolf Singer würde sagen, dass die “Ursache für die je folgende Handlung der vorangehende Gesamtzustand” – eben nicht des Gehirns, sondern – ‚des Zentrums’ ist.[24] Ob es sich, empirisch betrachtet, um einen systemischen Prozess oder um einen punktuellen Akt handelt, spielt für die Frage der Spontaneität der Synthesis überhaupt keine Rolle – sondern nur, ob er von einem Anderen ‚determiniert’ werden kann. Das hat Wolf Singer zwar bisher nicht behauptet. Es läuft aber darauf hinaus, er hat es bloß noch nicht gemerkt. Denn was er wirklich sagen will, ist dies: das eine bestimmte neuronale Verschaltung einen bestimmten Vorstellungsgehalt – und nur diesen – ‚determiniert’. Auf etwaige ‚neuronale Korrelate für Sinngehalte’ angesprochen, erklärt er, “dass unterschiedlichen Gedanken verschiedene neuronale Aktivitätsmuster zugrunde liegen. Kein Gedanke ohne Substrat. Allem, was begrifflich trennbar ist, müssen unterschiedliche Gehirnzustände entsprechen.”[25]
Dies ist der einzige rationelle Sinn, den die Rede von ‚Determination’ in diesem Zusammenhang haben kann: dass die Bedeutungen “Abbilder” von Sachverhalten seien. In den herkömmlichen Abbildtheorien sollten es die Dinge der Außenwelt sein, die vom Denken ‚abgebildet’ würden. Hier ist es ein innerer Zustand. Aber dieser Unterschied ist sekundär und nur vorläufig. Denn wenn es den Hirnforschern wirklich gelänge, den ‚Umschlag’ oder ‚Übergang’ vom (physiologischen) Fakt zum (logischen) Sinn mit Hilfe ihrer modernen ‚bildgebenden’ Verfahren darzustellen, dann wäre er im Prinzip auch andern Arten der Bearbeitung zugänglich – und dann käme die ‚Determination’ von außen.
Ausschlaggebend wäre nur, dass der Übergang ein stetiger ist: Bei Naturvorgängen “gibt es nirgends Sprünge”![26] Und wenn dem so ist, lässt sich die Determinationskette auch umkehren. Wenn ich das Wort ‚Stetigkeit’ sage und mein Gesprächspartner bemüht sich zu verstehen, so müßte sich in dem Maße, wie sein Vorstellungsvermögen den Bedeutungsgehalt ‚Stetigkeit’ realisiert, in seinem Hirn das zugehörige neuronale Substrat einstellen. Durch die Wortbedeutung würde also ein bestimmter physiologischer Zustand ‚determiniert’. Dann wäre die Wortbedeutung ein Objektivum (mit welchem Substrat?) und die Hirnforschung hätte auf empirischem Weg die platonische Ideenlehre bewiesen.[27] Eine unerwartete Wendung! Oder doch nicht? Immerhin hat der Kernphysiker Robert Havemann schon vor vierzig Jahren darauf hingewiesen, dass der mechanische Materialismus nur eine Spielart des objektiven Idealismus ist.[28]
Sprünge
Glücklicherweise kann dem nicht so sein. Wenn nämlich bestimmte Vorstellungsinhalte lediglich neuronale Prozesse “abbilden”, dann müsste es sich dabei um ein analoges Bild handeln. Analoge Darstellungen können aber, anders als digitale, keinen Verneinungs-Modus wiedergeben, und den Frage-Modus schon gar nicht. Ich (oder mein Gehirn, was ändert das?) kann aber fragen und nein sagen. Das ist das Proprium humanum: Der Mensch ist das Tier, das nein sagen kann. Und bevor er nein gesagt hat, konnte er fragen, ob.
Wenn Wolf Singer nun einwände: Es gibt im Gehirn eben einen Rechner, der analoge Bilder in digitale Symbole übersetzt, dann entgegne ich: Zeig mir die Stelle – genau da sitzt das Ich!
Das ist der springende Punkt. Ein digit ist kein Substrat, sondern ein beliebiges, austauschbares und ganz heterogenes Zeichen für einen Sinngehalt, zu dem es in keinerlei sachlichem Verhältnis steht und der als solcher keiner Materialisierung und “Substernisierung” fähig ist. Das Logische “ist” in keiner Weise, sondern gilt. Darunter kann sich der Naturwissenschaftler nichts ‚vorstellen’. Als Naturwissenschaftler soll er das auch gar nicht. Es fällt nicht in sein Ressort. In seinem Bereich herrschen Kausalität, Determination und Stetigkeit: durch sie wird er konstituiert.
Natura non fecit saltus – Wolf Singer beruft sich wörtlich auf die von Leibniz geprägte kanonische Formel für das stoisch-neuplatonische Dogma der Stetigkeit. “Das metaphysische Gesetz der Stetigkeit ist aber dies: Alle Veränderungen sind stetig oder fließen, d. i. entgegengesetzte Zustände folgen nur durch eine dazwischenliegende Reihe verschiedener Zustände aufeinander”[29] – so hat es Kant formuliert und zum Ausgangspunkt der Kritik gemacht. Die Stetigkeit der Naturvorgänge setzte nämlich voraus die dinghafte Realität eines kontinuierlich-unendlichen Raumes und einer gleichförmig strömenden Zeit. Beide hat Kant aber ins transzendentale Apriori unseres Erkenntnisvermögens verwiesen! Doch in dem Manifest, das Wolf Singer gemeinsam mit zehn Kollegen im vergangenen Jahr erlassen hat, heißt es nun wieder: “Geist und Bewusstsein fügen sich also in das Naturgeschehen ein und übersteigen es nicht. Dies bedeutet, man wird widerspruchsfrei Geist, Bewusstsein, Gefühle, Willensakte und Handlungsfreiheit als natürliche Vorgänge ansehen, denn sie beruhen auf biologischen Prozessen.”[30] Also weil sie auf Physiologie beruhen, müssen sie Physiologie sein – wo ist das Problem? Hen kai pân, Alles Eins! Wobei sie größte Schwierigkeiten haben werden, uns von dieser metaphysisch verstandenen Natur einen wissenschaftlich begründeten Begriff zu geben…
Es ist wohl wahr: Betrachte ich die Evolution der menschlichen Physiologie von innen, so folgt immer ein Zustand auf den andern. Dass aber die Veränderungen der Zustände nur von innen ‚determiniert’ werden: dass ein Zustand aus dem andern folgt, ist damit noch lange nicht gesagt. Evolution ist Anpassung – an Bedingungen, die außen liegen. Kommt nun die Veränderung der Außenbedingung ihrerseits durch eine Initiative zu Stande, die von innen ausgeht, dann tritt eine Rückkoppelung ein – und die ist ein ‚Sprung’, der den Betrachter zu einem Perpektivwechsel, zu einem Hiatus nötigt.
Die Rede ist vom Akt der Hominisation selbst, denn das war der Moment, wo das Ich ‚zur Welt gekommen’ ist.
Evolution ist Auslese und Anpassung. Im Laufe ihrer Geschichte hat jede Spezies ihre ökologische Nische gefunden. Die Nische kann der Naturforscher beobachten und beschreiben. Die Umwelt aber, die sie dem Tier ‚bedeutet’, muss er rekonstruierend erschließen: “Die Umwelt ist völlig unsichtbar, denn sie besteht lediglich aus den Merkmalen der Tiere, die das Tier selbst hinausverlegt. Jede Umwelt ist das Erzeugnis eines Subjekts”,[31] schreibt Jakob von Uexküll, der den biologischen Umwelt-Begriff geprägt hat. “Jede Umwelt bildet eine in sich geschlossene Einheit, die in all ihren Teilen durch die Bedeutung für das Subjekt beherrscht wird. Alles und jedes, das in den Bann einer Umwelt gerät, wird umgestimmt und umgeformt, bis es zu einem brauchbaren Bedeutungsträger geworden ist – oder es wird völlig vernachlässigt.”[32] Das Verhältnis zwischen der Spezies und ihrer ökologischen Nische ist ein Naturverhältnis – und ein Naturverhältnis sind die Bedeutungen der Dinge, die darin vorkommen. Sie sind “selbstverständlich”.
Der Mensch hat vor Jahrmillionen seine natürliche Umwelt verlassen, hat sich auf seine Hinterbeine gestellt und ist in eine offene Welt aufgebrochen.[33] Deren Bedeutungen waren nicht biologisch vererbt, sind kein Naturverhältnis, er musste sie selber verstehen, d. h. heraus-, richtiger: hineinfinden. Weil seine offene Welt unsicher ist, muss er fragen, was die Dinge bedeuten, die ihm begegnen; sich fragen. Und wer fragt, kann ja oder nein sagen. Das ist eine völlig neue Dimension des Daseins. Wenn das kein ‚Sprung’ ist, was ist es sonst? Unterm Miskroskop des Physiologen – oder seinen modernen, ‚bildgebenden’ Überformungen – ist er freilich nicht zu erkennen. Weil der Mensch nicht weiß, was die Dinge ihm bedeuten und was er unter ihnen soll – darum sagt er “ich”.[34]
Zirkulär
Jedweden Sinn bestreitet auch Wolf Singer dem Ich und seinem Willen nicht. “Wir wissen aus der Psychopathologie, was passiert, wenn ein Konstrukt wie der freie Wille zusammenbricht.”[35] Da wir ihn als wirklich erleben, muss ihm auch etwas zugrunde liegen: “Dennoch beruht unsere Vorstellung, frei zu sein, auf Vorgängen im Gehirn. Ich halte sie für eine kulturelle Konstruktion. Sie muss sich also irgendwann im Laufe unserer kulturellen Evolution ausgebildet haben.”[36] Dass es sich bei der (den repräsentativen Staat konstituierenden) Vorstellung vom souveränen Subjekt um ein Konstrukt handelt, wird ihm niemand bestreiten. Noch entschiedener könnte man ihm beipflichten, hätte er hinzugefügt: genau so wie meine Vorstellungen von ‚Determination’, ‚Kausalität’, ‚Stetigkeit’ auch. Das sind keine Größen, die seine Forschung zu Tage gefördert hat, sondern logische Prämissen, die seine Forschungsarbeit überhaupt erst ermöglicht haben.
Von Konstrukten redet Wolf Singer oft und gern, wenn es um die Kategorien der andern geht. Von seinen eigenen Kategorien lässt er sich sowas von niemand sagen. Das ist das Problem mit Wolf Singer: Er redet ‚stetig’ in der Objekt-Sprache seines Fachs; aber allen andern Fächern gegenüber verwendet er sie, als wäre sie deren Meta-Sprache. Für sein Fach akzeptiert er dagegen keine Art von Meta-Sprache. Er ist wissenslogisch naiv, glaubt es aber nicht. Das ist das Verhängnis aller Empiriker.
Unterschiede zwischen Wissenschaften will er gar nicht kennen,sondern nur solche zwischen “Beschreibungssystemen”. Aber was unterscheiden die, und inwiefern? Sie beschreiben Etwas in Hinblick auf etwas Anderes. Dieses ‚in Hinblick auf’ ist eine Absicht, die ein Aufmerksamkeitsfeld konstituiert. Die Absicht – der ‚Hinblick’ – bildet den Ausgangspunkt, das Feld bildet den ‚Gegenstand’. Verschiedene Gegenstände kommen durch verschiedene Hinsichten ‚zu Stande’.
Aber davon will Wolf Singer nichts wissen. “Kann Naturwissenschaftlern überhaupt zugetraut werden, sich auch zu diesen, eigentlich nur in der Erste-Person-Perspektive fassbaren Realitäten [er meint die Ich-Problematik] zu äußern? Die einen meinen, es sei möglich. Dies sind meist die Naturforscher, die für die Einheit der Wissenschaft [Stetigkeit!] plädieren. Die anderen – meist Kulturforscher – behaupten, hier würden Kategorie-Fehler gemacht, und das Vorhaben einer Einheitswissenschaft sei prinzipiell nicht realisierbar.”[37]
Ist das bloß unzureichende Kenntnis der Wissenschaftsgeschichte, oder ist es raffiniert? Gute zweitausend Jahre lang hatte die Philosophie, mit dem Segen der Theologen, als erstgeborene unter allen Wissenschaften den Naturforschern Vorschriften gemacht (das Dogma der Stetigkeit zum Beispiel); so dass es vor Galileo zu einer Natur-Wissenschaft gar nicht kommen konnte. Bis sich schließlich die Philosophie – in Gestalt der Kant’schen Kritik – jede gesetzgebende Einmischung in die Angelegenheiten der Erfahrungswissenschaften versagte. Seither meinen ‚meist Kulturforscher’, es läge im Wesen der Wissenschaft, dass es eine Einheits-Wissenschaft nicht geben kann. Der Naturforscher, von kritischen Bedenken unaffiziert, zögert nicht, seine Gesetzgebung auf Gott und die Welt auszudehnen. Und lässt es so aussehen, als würden die ‚Kulturwissenschaftler’ vor ihm kneifen!
Das ist nicht nur wissensgeschichtlich, sondern auch wissenslogisch ein hochinteressanter Punkt. Es waren nicht die Erfolge der empirischen Forschung, die die theoretische Spekulation in ihre Schranken gewiesen und Kant zu seinem Rückzug bewogen hätten. Galileo selbst hat das Experiment durchaus nicht als selbständige Erkenntnisquelle an die Stelle der Theorie gesetzt, sondern lediglich als Beweismittel gegenüber Zweiflern eingeführt. Und Newton ist allezeit von spekulativen Voraussetzungen ausgegangen, wie der Titel seines Hauptwerks – Principia mathematica philosophiae naturalis - bereits ankündigt. Der Anstoß zu Kants ‚kopernikanischer Wende’ ging vielmehr von der Selbstkritik des Empirismus aus! David Hume hat demonstriert, dass der konstitutive Grundsatz der Erfahrungswissenschaften – dass jedes Ereignis eine hinreichende Ursache habe und Erkenntnis darin bestünde, die Ereignisse auf ihre Ursachen zurückzuführen – selber nicht durch Erfahrung begründet ist; und allerdings auch nicht in der Vernunft. Er hielt ihn bloß für eine bequeme Gewohnheit der Menschen, die sich bewährt hat. Kant hat dagegen dargelegt, dass die Annahme der Kausalität die kategoriale (für das Denken notwendige) Voraussetzung ist, um Erfahrungen überhaupt machen zu können. Die Prämisse, dass ein jedes Ereignis seine hinreichende Ursache haben müsse, konstituiert das Gegenstandsfeld der Naturwissenschaft, indem es ihr den Blickpunkt liefert. Was außerhalb ihres Blickwinkels liegt, ist kein möglicher Gegenstand der Naturwissenschaft.
Wolf Singer scheint hingegen zu sagen: Was nicht in ihren Blickwinkel fällt, das gibt es nicht. Wenn wir ihm sagen, dass sein Kausalitätsbegriff nicht aus der Erfahrung stammt, sondern absichtshalber der naturwissenschaftlichen Erfahrung zugrunde gelegt wird, dann antwortet er, dass wir zu solchen Aussagen nicht berechtigt sind – weil sie außerhalb der Kausaliätsbetrachtung liegen.
Weiß er nicht, was ein logischer Zirkel ist?
[im Februar 2005]
…und Spiel.
Der Subjektivismus des Hirnforschers geht noch weiter. Das Subjekt ‚erkennt’ nämlich nicht bloß aktiv, aber gesetzmäßig; sondern es macht seine Tatsachenfeststellungen von apriorischen Wertzuschreibungen abhängig. Was immer ‚erscheint’, wird “natürlichen Bewertungsprozessen unterworfen”, die “Veränderungen nur dann zulassen, wenn das Gesamthirn befunden hat, dass die jeweils zur Verarbeitung gelangten Aktivitätsmuster bedeutsam sind. Diese Bewertung wird von Zentren im limbischen System vorgenommen. Das Bewertungsergebnis wird den über die gesamte Hirnrinde verteilten Verarbeitungszentren über Nervenbahnen und spezielle chemische Überträgerstoffe, sogenannte Neuromodulatoren, mitgeteilt.” Etwa achtzig Prozent der synaptischen Verbindungen von Nervenzellen der Großhirnrinde gehören zu dieser Klasse, und nur etwa zehn bis zwanzig Prozent der Eingänge stammen unmittelbar aus den Sinneszellen. “Die Sinnessysteme und damit die Signale aus der umgebenden Welt werden somit nur über eine sehr kleine Fraktion von Verbindungen in die Großhirnrinde vermittelt. Das System beschäftigt sich hauptsächlich mit sich selbst: achtzig bis neunzig Prozent der Verbindungen sind dem inneren Monolog gewidmet.”[13]
“Die Fähigkeit des Gehirns, prädikative Modelle von noch ausstehenden Ereignissen zu bilden, um sich schneller anpassen zu können, ist relativ rezent. Aber wenn es einmal ein System gibt, das auf der Basis von Erfahrung solche prädikativen Modelle entwickeln kann, was die Speicherung von Erfahrungsinhalten voraussetzt, dann muss es kombinatorisch spielen können. Was als Repräsentation internalisiert wurde, muss in verschiedene Bezüge gestellt werden, um prüfen zu können, was alles passieren könnte.”[14]
Spielend finden wir uns nicht nur im grauen Alltag zurecht: “Das ist auch das, was ein Wissenschaftler macht, wenn er Theorien bildet, und was ein Künstler macht, wenn er etwas herstellt.[15] Der kreative Prozess in der Wissenschaft ist derselbe wie in der Kunst. Der Erkenntnisprozess der Wissenschaft fängt mit dem Generieren von Hypothesen an, die zunächst intuitiv erfasst werden, wobei sehr oft ästhetische Konsistenzkriterien zugrunde gelegt werden, die gar nicht rationalisierbar sind. Man sucht offenbar nach ganz ähnlichen Kriterien wie der Künstler: nach Stimmigkeit oder Geschlossenheit. Sehr vieles in der Wissenschaft wird von der Ästhetik dominiert. Eine wissenschaftliche Theorie wird dann vom Kreis der Eingeweihten als gültig angesehen, wenn sie erstens widerspruchsfrei mit vorhandener Evidenz ist, und zweitens, wenn sie schön ist. Sie muss einfach sein und befriedigen. Ganz ähnlich geht der Künstler vor, nur ist der Stoff, mit dem er umgeht, ein anderer. Auch der Künstler bildet die Welt ab, wie er sie interpretiert, also innerhalb eines Beschreibungssystems, er schafft neue Wirklichkeiten, neue Interpretationen, was der Wissenschaftler auch tut, wenn er ein Modell des Erfahrbaren erzeugt”;[16] er spielt mit dem Material, und “irgendwann weiß er, dass es jetzt passt.”[17]
“Was der Künstler und der Wissenschaftler machen, ist nichts anderes, als der Neugierde und dem Verlangen nach dem kombinatorischen Spiel nachzugeben und, losgelöst vom utilitaristischen Alltagsgeschäft des Lebens, dieses kombinatorische Spiel weiter zu spielen. Dadurch entstehen Modelle der Welt. Dieses Spiel ist offenbar so tief in der Architektur des Gehirns verankert, das es gespielt werden muss, wenn das System überhaupt sinnvoll zum Lösen von Alltagsproblemen eingesetzt werden soll. Manche spielen das sehr gut, manche weniger, aber alle spielen. Insofern ist jeder, der wahrnimmt, in gewissem Sinne ein Künstler, weil er Modelle von der Welt erzeugt, interpretiert und selber seine Stimmigkeitskriterien generiert.”[18]
Oder Determination?
Das Wahrnehmen erscheint als Leistung nicht nur eines spontanen Subjekts, sondern gar als die eines künstlerischen Spielers. Umso verblüffender ist die Schlussfolgerung, mit der der empirische Hirnforscher Wolf Singer in den deutschen Medien Furore macht: “Im Bezugssystem neurobiologischer Forschung gibt es keinen Raum für objektive Freiheit, weil die je nächste Handlung, der je nächste Zustand des Gehirns immer determiniert wäre durch das je unmittelbar Vorausgegangene.”[19] Was ihm im Bezugssystem neurobiologischer Forschung offenbar niemand bestreitet und was außerhalb dieses Bezugssystems ihm zu bestreiten niemand nötig hat, will Wolf Singer aber innerhalb dieses Bezugssystems nicht belassen: “Unaufschiebbar werden schon jetzt Überlegungen über die Beurteilung von Fehlverhalten, über die Beurteilung von Schuld und unsere Begründungen von Strafe.”[20]
Wie kam es zu dieser Wendung? Anlass war “das so genannte Bindungsproblem”; der Umstand nämlich, dass die Forscher keine ‚Stelle’ finden können, an der die Synthesis vollzogen wird. Da sitzt kein Richter, der ‚jetzt’ sagt und ‚es gilt’. “Die Ergebnisse der vielen, gleichzeitig ablaufenden Sinnesfunktionen werden parallel an die ebenfalls zahlreichen exekutiven Zentren weitergegeben, ohne dass vorher alle Informationen an einem Ort zusammen geführt würden. Wie dennoch ganzheitliche Wahrnehmung und wohl koordinierte Bewegungen zustande kommen, ist unklar. Es muss Metarepräsentationen für die Ergebnisse dieser Teilprozesse geben, doch diese können ebenfalls nur nichtlokale Gebilde sein, also wiederum einem distributiven Prinzip folgen. Wir vermuten, dass die Einbindung verteilter Neuronengruppen in diese Metarepräsentationen durch zeitliche Synchronisation neuronaler Antworten erfolgt.”[21] Es sei “eine Illusion, das wir im Gehirn ein Kommandozentrum haben, in dem das Ich residiert und wertet, entscheidet und befiehlt. Stattdessen müssen wir uns das Ich als einen räumlich verteilten, sich selbst organisierenden Zustand denken”.[22] “Die Annahme, wir seien voll verantwortlich für das, was wir tun, weil wir es ja auch hätten anders machen können, ist aus neurobiologischer Perspektive nicht haltbar. Neuronale Prozesse sind deterministisch. Dieses Wissen muss Auswirkungen haben auf unser Rechtssystem, auf die Art, wie wir Kinder erziehen und wie wir mit Mitmenschen umgehen.”[23]
Welche Auswirkungen? Ist mein Gehirn jemand anders als ich selbst? Wenn mich ein Rüpel belästigt, ist also nicht er selber schuld, sondern sein Gehirn. Wenn ich ihm dafür in den Steiß trete, dann spürt er meinen Fuß zwar am Steiß – aber es ist sein Hirn, das ihn spürt. So bleibt alles wie gehabt: Der Schuldige kriegt, was er verdient. Man sieht gar nicht ein, welches die praktischen Konsequenzen aus Wolf Singers Entdeckungen sein könnten, und warum er davon so viel Aufhebens macht.
Es bleibt die wissenschaftliche Frage nach dem Subjekt des Erkennens und der Willensbildung. Doch zu der trägt das “so genannte Bindungsproblem” überhaupt nicht bei. Denn was würde sich ändern, wenn die Hirnforscher ein ‚Zentrum’ hätten lokalisieren können? Gar nichts. Wolf Singer würde sagen, dass die “Ursache für die je folgende Handlung der vorangehende Gesamtzustand” – eben nicht des Gehirns, sondern – ‚des Zentrums’ ist.[24] Ob es sich, empirisch betrachtet, um einen systemischen Prozess oder um einen punktuellen Akt handelt, spielt für die Frage der Spontaneität der Synthesis überhaupt keine Rolle – sondern nur, ob er von einem Anderen ‚determiniert’ werden kann. Das hat Wolf Singer zwar bisher nicht behauptet. Es läuft aber darauf hinaus, er hat es bloß noch nicht gemerkt. Denn was er wirklich sagen will, ist dies: das eine bestimmte neuronale Verschaltung einen bestimmten Vorstellungsgehalt – und nur diesen – ‚determiniert’. Auf etwaige ‚neuronale Korrelate für Sinngehalte’ angesprochen, erklärt er, “dass unterschiedlichen Gedanken verschiedene neuronale Aktivitätsmuster zugrunde liegen. Kein Gedanke ohne Substrat. Allem, was begrifflich trennbar ist, müssen unterschiedliche Gehirnzustände entsprechen.”[25]
Dies ist der einzige rationelle Sinn, den die Rede von ‚Determination’ in diesem Zusammenhang haben kann: dass die Bedeutungen “Abbilder” von Sachverhalten seien. In den herkömmlichen Abbildtheorien sollten es die Dinge der Außenwelt sein, die vom Denken ‚abgebildet’ würden. Hier ist es ein innerer Zustand. Aber dieser Unterschied ist sekundär und nur vorläufig. Denn wenn es den Hirnforschern wirklich gelänge, den ‚Umschlag’ oder ‚Übergang’ vom (physiologischen) Fakt zum (logischen) Sinn mit Hilfe ihrer modernen ‚bildgebenden’ Verfahren darzustellen, dann wäre er im Prinzip auch andern Arten der Bearbeitung zugänglich – und dann käme die ‚Determination’ von außen.
Ausschlaggebend wäre nur, dass der Übergang ein stetiger ist: Bei Naturvorgängen “gibt es nirgends Sprünge”![26] Und wenn dem so ist, lässt sich die Determinationskette auch umkehren. Wenn ich das Wort ‚Stetigkeit’ sage und mein Gesprächspartner bemüht sich zu verstehen, so müßte sich in dem Maße, wie sein Vorstellungsvermögen den Bedeutungsgehalt ‚Stetigkeit’ realisiert, in seinem Hirn das zugehörige neuronale Substrat einstellen. Durch die Wortbedeutung würde also ein bestimmter physiologischer Zustand ‚determiniert’. Dann wäre die Wortbedeutung ein Objektivum (mit welchem Substrat?) und die Hirnforschung hätte auf empirischem Weg die platonische Ideenlehre bewiesen.[27] Eine unerwartete Wendung! Oder doch nicht? Immerhin hat der Kernphysiker Robert Havemann schon vor vierzig Jahren darauf hingewiesen, dass der mechanische Materialismus nur eine Spielart des objektiven Idealismus ist.[28]
Sprünge
Glücklicherweise kann dem nicht so sein. Wenn nämlich bestimmte Vorstellungsinhalte lediglich neuronale Prozesse “abbilden”, dann müsste es sich dabei um ein analoges Bild handeln. Analoge Darstellungen können aber, anders als digitale, keinen Verneinungs-Modus wiedergeben, und den Frage-Modus schon gar nicht. Ich (oder mein Gehirn, was ändert das?) kann aber fragen und nein sagen. Das ist das Proprium humanum: Der Mensch ist das Tier, das nein sagen kann. Und bevor er nein gesagt hat, konnte er fragen, ob.
Wenn Wolf Singer nun einwände: Es gibt im Gehirn eben einen Rechner, der analoge Bilder in digitale Symbole übersetzt, dann entgegne ich: Zeig mir die Stelle – genau da sitzt das Ich!
Das ist der springende Punkt. Ein digit ist kein Substrat, sondern ein beliebiges, austauschbares und ganz heterogenes Zeichen für einen Sinngehalt, zu dem es in keinerlei sachlichem Verhältnis steht und der als solcher keiner Materialisierung und “Substernisierung” fähig ist. Das Logische “ist” in keiner Weise, sondern gilt. Darunter kann sich der Naturwissenschaftler nichts ‚vorstellen’. Als Naturwissenschaftler soll er das auch gar nicht. Es fällt nicht in sein Ressort. In seinem Bereich herrschen Kausalität, Determination und Stetigkeit: durch sie wird er konstituiert.
Natura non fecit saltus – Wolf Singer beruft sich wörtlich auf die von Leibniz geprägte kanonische Formel für das stoisch-neuplatonische Dogma der Stetigkeit. “Das metaphysische Gesetz der Stetigkeit ist aber dies: Alle Veränderungen sind stetig oder fließen, d. i. entgegengesetzte Zustände folgen nur durch eine dazwischenliegende Reihe verschiedener Zustände aufeinander”[29] – so hat es Kant formuliert und zum Ausgangspunkt der Kritik gemacht. Die Stetigkeit der Naturvorgänge setzte nämlich voraus die dinghafte Realität eines kontinuierlich-unendlichen Raumes und einer gleichförmig strömenden Zeit. Beide hat Kant aber ins transzendentale Apriori unseres Erkenntnisvermögens verwiesen! Doch in dem Manifest, das Wolf Singer gemeinsam mit zehn Kollegen im vergangenen Jahr erlassen hat, heißt es nun wieder: “Geist und Bewusstsein fügen sich also in das Naturgeschehen ein und übersteigen es nicht. Dies bedeutet, man wird widerspruchsfrei Geist, Bewusstsein, Gefühle, Willensakte und Handlungsfreiheit als natürliche Vorgänge ansehen, denn sie beruhen auf biologischen Prozessen.”[30] Also weil sie auf Physiologie beruhen, müssen sie Physiologie sein – wo ist das Problem? Hen kai pân, Alles Eins! Wobei sie größte Schwierigkeiten haben werden, uns von dieser metaphysisch verstandenen Natur einen wissenschaftlich begründeten Begriff zu geben…
Es ist wohl wahr: Betrachte ich die Evolution der menschlichen Physiologie von innen, so folgt immer ein Zustand auf den andern. Dass aber die Veränderungen der Zustände nur von innen ‚determiniert’ werden: dass ein Zustand aus dem andern folgt, ist damit noch lange nicht gesagt. Evolution ist Anpassung – an Bedingungen, die außen liegen. Kommt nun die Veränderung der Außenbedingung ihrerseits durch eine Initiative zu Stande, die von innen ausgeht, dann tritt eine Rückkoppelung ein – und die ist ein ‚Sprung’, der den Betrachter zu einem Perpektivwechsel, zu einem Hiatus nötigt.
Die Rede ist vom Akt der Hominisation selbst, denn das war der Moment, wo das Ich ‚zur Welt gekommen’ ist.
Evolution ist Auslese und Anpassung. Im Laufe ihrer Geschichte hat jede Spezies ihre ökologische Nische gefunden. Die Nische kann der Naturforscher beobachten und beschreiben. Die Umwelt aber, die sie dem Tier ‚bedeutet’, muss er rekonstruierend erschließen: “Die Umwelt ist völlig unsichtbar, denn sie besteht lediglich aus den Merkmalen der Tiere, die das Tier selbst hinausverlegt. Jede Umwelt ist das Erzeugnis eines Subjekts”,[31] schreibt Jakob von Uexküll, der den biologischen Umwelt-Begriff geprägt hat. “Jede Umwelt bildet eine in sich geschlossene Einheit, die in all ihren Teilen durch die Bedeutung für das Subjekt beherrscht wird. Alles und jedes, das in den Bann einer Umwelt gerät, wird umgestimmt und umgeformt, bis es zu einem brauchbaren Bedeutungsträger geworden ist – oder es wird völlig vernachlässigt.”[32] Das Verhältnis zwischen der Spezies und ihrer ökologischen Nische ist ein Naturverhältnis – und ein Naturverhältnis sind die Bedeutungen der Dinge, die darin vorkommen. Sie sind “selbstverständlich”.
Der Mensch hat vor Jahrmillionen seine natürliche Umwelt verlassen, hat sich auf seine Hinterbeine gestellt und ist in eine offene Welt aufgebrochen.[33] Deren Bedeutungen waren nicht biologisch vererbt, sind kein Naturverhältnis, er musste sie selber verstehen, d. h. heraus-, richtiger: hineinfinden. Weil seine offene Welt unsicher ist, muss er fragen, was die Dinge bedeuten, die ihm begegnen; sich fragen. Und wer fragt, kann ja oder nein sagen. Das ist eine völlig neue Dimension des Daseins. Wenn das kein ‚Sprung’ ist, was ist es sonst? Unterm Miskroskop des Physiologen – oder seinen modernen, ‚bildgebenden’ Überformungen – ist er freilich nicht zu erkennen. Weil der Mensch nicht weiß, was die Dinge ihm bedeuten und was er unter ihnen soll – darum sagt er “ich”.[34]
Zirkulär
Jedweden Sinn bestreitet auch Wolf Singer dem Ich und seinem Willen nicht. “Wir wissen aus der Psychopathologie, was passiert, wenn ein Konstrukt wie der freie Wille zusammenbricht.”[35] Da wir ihn als wirklich erleben, muss ihm auch etwas zugrunde liegen: “Dennoch beruht unsere Vorstellung, frei zu sein, auf Vorgängen im Gehirn. Ich halte sie für eine kulturelle Konstruktion. Sie muss sich also irgendwann im Laufe unserer kulturellen Evolution ausgebildet haben.”[36] Dass es sich bei der (den repräsentativen Staat konstituierenden) Vorstellung vom souveränen Subjekt um ein Konstrukt handelt, wird ihm niemand bestreiten. Noch entschiedener könnte man ihm beipflichten, hätte er hinzugefügt: genau so wie meine Vorstellungen von ‚Determination’, ‚Kausalität’, ‚Stetigkeit’ auch. Das sind keine Größen, die seine Forschung zu Tage gefördert hat, sondern logische Prämissen, die seine Forschungsarbeit überhaupt erst ermöglicht haben.
Von Konstrukten redet Wolf Singer oft und gern, wenn es um die Kategorien der andern geht. Von seinen eigenen Kategorien lässt er sich sowas von niemand sagen. Das ist das Problem mit Wolf Singer: Er redet ‚stetig’ in der Objekt-Sprache seines Fachs; aber allen andern Fächern gegenüber verwendet er sie, als wäre sie deren Meta-Sprache. Für sein Fach akzeptiert er dagegen keine Art von Meta-Sprache. Er ist wissenslogisch naiv, glaubt es aber nicht. Das ist das Verhängnis aller Empiriker.
Unterschiede zwischen Wissenschaften will er gar nicht kennen,sondern nur solche zwischen “Beschreibungssystemen”. Aber was unterscheiden die, und inwiefern? Sie beschreiben Etwas in Hinblick auf etwas Anderes. Dieses ‚in Hinblick auf’ ist eine Absicht, die ein Aufmerksamkeitsfeld konstituiert. Die Absicht – der ‚Hinblick’ – bildet den Ausgangspunkt, das Feld bildet den ‚Gegenstand’. Verschiedene Gegenstände kommen durch verschiedene Hinsichten ‚zu Stande’.
Aber davon will Wolf Singer nichts wissen. “Kann Naturwissenschaftlern überhaupt zugetraut werden, sich auch zu diesen, eigentlich nur in der Erste-Person-Perspektive fassbaren Realitäten [er meint die Ich-Problematik] zu äußern? Die einen meinen, es sei möglich. Dies sind meist die Naturforscher, die für die Einheit der Wissenschaft [Stetigkeit!] plädieren. Die anderen – meist Kulturforscher – behaupten, hier würden Kategorie-Fehler gemacht, und das Vorhaben einer Einheitswissenschaft sei prinzipiell nicht realisierbar.”[37]
Ist das bloß unzureichende Kenntnis der Wissenschaftsgeschichte, oder ist es raffiniert? Gute zweitausend Jahre lang hatte die Philosophie, mit dem Segen der Theologen, als erstgeborene unter allen Wissenschaften den Naturforschern Vorschriften gemacht (das Dogma der Stetigkeit zum Beispiel); so dass es vor Galileo zu einer Natur-Wissenschaft gar nicht kommen konnte. Bis sich schließlich die Philosophie – in Gestalt der Kant’schen Kritik – jede gesetzgebende Einmischung in die Angelegenheiten der Erfahrungswissenschaften versagte. Seither meinen ‚meist Kulturforscher’, es läge im Wesen der Wissenschaft, dass es eine Einheits-Wissenschaft nicht geben kann. Der Naturforscher, von kritischen Bedenken unaffiziert, zögert nicht, seine Gesetzgebung auf Gott und die Welt auszudehnen. Und lässt es so aussehen, als würden die ‚Kulturwissenschaftler’ vor ihm kneifen!
Das ist nicht nur wissensgeschichtlich, sondern auch wissenslogisch ein hochinteressanter Punkt. Es waren nicht die Erfolge der empirischen Forschung, die die theoretische Spekulation in ihre Schranken gewiesen und Kant zu seinem Rückzug bewogen hätten. Galileo selbst hat das Experiment durchaus nicht als selbständige Erkenntnisquelle an die Stelle der Theorie gesetzt, sondern lediglich als Beweismittel gegenüber Zweiflern eingeführt. Und Newton ist allezeit von spekulativen Voraussetzungen ausgegangen, wie der Titel seines Hauptwerks – Principia mathematica philosophiae naturalis - bereits ankündigt. Der Anstoß zu Kants ‚kopernikanischer Wende’ ging vielmehr von der Selbstkritik des Empirismus aus! David Hume hat demonstriert, dass der konstitutive Grundsatz der Erfahrungswissenschaften – dass jedes Ereignis eine hinreichende Ursache habe und Erkenntnis darin bestünde, die Ereignisse auf ihre Ursachen zurückzuführen – selber nicht durch Erfahrung begründet ist; und allerdings auch nicht in der Vernunft. Er hielt ihn bloß für eine bequeme Gewohnheit der Menschen, die sich bewährt hat. Kant hat dagegen dargelegt, dass die Annahme der Kausalität die kategoriale (für das Denken notwendige) Voraussetzung ist, um Erfahrungen überhaupt machen zu können. Die Prämisse, dass ein jedes Ereignis seine hinreichende Ursache haben müsse, konstituiert das Gegenstandsfeld der Naturwissenschaft, indem es ihr den Blickpunkt liefert. Was außerhalb ihres Blickwinkels liegt, ist kein möglicher Gegenstand der Naturwissenschaft.
Wolf Singer scheint hingegen zu sagen: Was nicht in ihren Blickwinkel fällt, das gibt es nicht. Wenn wir ihm sagen, dass sein Kausalitätsbegriff nicht aus der Erfahrung stammt, sondern absichtshalber der naturwissenschaftlichen Erfahrung zugrunde gelegt wird, dann antwortet er, dass wir zu solchen Aussagen nicht berechtigt sind – weil sie außerhalb der Kausaliätsbetrachtung liegen.
Weiß er nicht, was ein logischer Zirkel ist?
[im Februar 2005]
[1] Andreas
Engel u. Wolf Singer, “Neuronale Grundlagen der Gestaltwahr-nehmung”
in: Spektrum der Wissenschaft, Dossier 4/1997, S. 67
[2] Singer, “Früh übt sich… Zur Neurobiologie des Lernens” in: Mantel, G., (Hg.), Ungenutzte Potentiale, Mainz usw., 1997; S. 45
[3] Engel u. a., “Neuronale Grundlagen…” ebd
[4] Singer, “Früh übt sich…” ebd
[5] ders., “Wahrnehmen ist das Verifizieren von vorausgeträumten Hypothesen” in: Ein neues Menschenbild?, Frankfurt a.M. 2003; S. 70
[6] ders., “Das Bild im Kopf – ein Paradigmenwechsel” in: Ganten, D. (Hg.), Gene, Neurone, Qubits & Co., Stgt. u. Heidelberg 1999, S. 269
[7] ders., “Wahrnehmen ist das Verifizieren…” aaO, S. 71
[8] ders., “Vom Gehirn zum Bewusstsein”, in: Der Beobachter im Kopf, Ffm, 2002, S. 72
[9] ders., “Das Bild im Kopf…” aaO, S. 275
[10] ders., “Vom Gehirn zum Bewusstsein” aaO
[11] ders. in: Ein neues Menschenbild? S. 67
[12] Kant, KrV B 130
[13] Singer, “Das Bild im Kopf…”, aaO S. 274
[14] ders, “Wahrnehmen ist…” aaO S. 84
[15] ebd
[16] ebd S. 80
[17] ebd S. 84
[18] ebd
[19] Singer, “Vom Gehirn zum Bewusstsein”, aaO, S. 75
[20] ebd S. 75f.
[21] Singer, “Wir benötigen den neuronalen Kode” ebd, S. 42
[22] ders., “Vom Bild zur Wahrnehmung”, in: Ch. Maar, H. Burda (Hg.), Iconic Turn, Köln 2004, S. 75f.
[23] Singer, “Vom Gehirn zum Bewusstsein”, aaO, S. 75
[24] ders, “Das Ende des freien Willens?” in: aaO, S. 32f. – Ein reelles Ich identifiziert sich dadurch, dass es eine Geschichte hat.
[25] ders., “Wer deutet die Welt?” in: aaO, S. 15. – Was haben die Begriffe hier zu suchen? Welchen Grund gibt es – unter der Prämisse eines systemischen Prozesses -, jede Einzel-Vorstellung in einem jeweiligen ‚Zustand’ des Gesamt-Systems ‚Ding-fest’ zu machen? Das wirkliche Denken geschieht ja gar nicht in Begriffen, sondern in einer Kaskade unfasslicher Bilder. Begriffe treten erst in der Reflexion hinzu – und die ist eine Auseinandersetzung des Gesamtsystems mit sich selbst; ein Seitenwechsel, ein ‚Sprung’. Und nur so kommt auch die Vorstellung eines Ich ‚zu Stande’.
[26] ebd, S. 26
[27] In der Assoziationspsychologie des “Eleaten” J. Fr. Herbart wirken ‚Vorstellungsmassen’ tatächlich ‚ursächlich’ aufs individuelle Denken: “Vernunft heißt Vernehmen.” Natürlich verwarf auch Herbart den freien Willen und meinte, die Kant’sche Erkenntniskritik überwunden zu haben.
[28] “Naturwissenschaftliche Aspekte philosophischer Probleme” in: Robert Havemann, Dialektik ohne Dogma? Reinbek 1964, S. 27ff.
[29] I. Kant, Von der Form der Sinnes- und Verstandeswelt und ihren Gründen [Inauguraldissertation], Ed. Weischedel, Bd. V, S. 49
[30] “Das Manifest” in: Gehirn & Geist, Heft 6/2004, S. 33, 36
[31] Jakob v. Uexküll, Die Lebenslehre, Potsdam 1930, S. 130;
[32] ders., “Bedeutungslehre” in: ders.,/G. Kriszat, Streifzüge durch die Umwel-ten von Tieren und Menschen, Hamburg. 1983, S. 111ff.
[33] Ob dieses Ereignis vor 3 Mio. Jahren im Ostafrikanischen Graben oder schon 4 Mio. Jahre früher im Tschad stattgefunden hat, ist unerheblich.
[34] s. hierzu ausführlich: J. Ebmeier, “Das Ich und die Welt” in: Lettre interna-tional 68, Früjahr 2005
[35] Wolf Singer, “Das Ende des freien Willens?” aaO, S. 31f.
[36] ders., “Wer deutet die Welt?” aaO, S. 13
[37] Wolf Singer, “Das Ende des freien Willens?” in: Ein neues Menschenbild? Ffm. 2003, S. 27
[2] Singer, “Früh übt sich… Zur Neurobiologie des Lernens” in: Mantel, G., (Hg.), Ungenutzte Potentiale, Mainz usw., 1997; S. 45
[3] Engel u. a., “Neuronale Grundlagen…” ebd
[4] Singer, “Früh übt sich…” ebd
[5] ders., “Wahrnehmen ist das Verifizieren von vorausgeträumten Hypothesen” in: Ein neues Menschenbild?, Frankfurt a.M. 2003; S. 70
[6] ders., “Das Bild im Kopf – ein Paradigmenwechsel” in: Ganten, D. (Hg.), Gene, Neurone, Qubits & Co., Stgt. u. Heidelberg 1999, S. 269
[7] ders., “Wahrnehmen ist das Verifizieren…” aaO, S. 71
[8] ders., “Vom Gehirn zum Bewusstsein”, in: Der Beobachter im Kopf, Ffm, 2002, S. 72
[9] ders., “Das Bild im Kopf…” aaO, S. 275
[10] ders., “Vom Gehirn zum Bewusstsein” aaO
[11] ders. in: Ein neues Menschenbild? S. 67
[12] Kant, KrV B 130
[13] Singer, “Das Bild im Kopf…”, aaO S. 274
[14] ders, “Wahrnehmen ist…” aaO S. 84
[15] ebd
[16] ebd S. 80
[17] ebd S. 84
[18] ebd
[19] Singer, “Vom Gehirn zum Bewusstsein”, aaO, S. 75
[20] ebd S. 75f.
[21] Singer, “Wir benötigen den neuronalen Kode” ebd, S. 42
[22] ders., “Vom Bild zur Wahrnehmung”, in: Ch. Maar, H. Burda (Hg.), Iconic Turn, Köln 2004, S. 75f.
[23] Singer, “Vom Gehirn zum Bewusstsein”, aaO, S. 75
[24] ders, “Das Ende des freien Willens?” in: aaO, S. 32f. – Ein reelles Ich identifiziert sich dadurch, dass es eine Geschichte hat.
[25] ders., “Wer deutet die Welt?” in: aaO, S. 15. – Was haben die Begriffe hier zu suchen? Welchen Grund gibt es – unter der Prämisse eines systemischen Prozesses -, jede Einzel-Vorstellung in einem jeweiligen ‚Zustand’ des Gesamt-Systems ‚Ding-fest’ zu machen? Das wirkliche Denken geschieht ja gar nicht in Begriffen, sondern in einer Kaskade unfasslicher Bilder. Begriffe treten erst in der Reflexion hinzu – und die ist eine Auseinandersetzung des Gesamtsystems mit sich selbst; ein Seitenwechsel, ein ‚Sprung’. Und nur so kommt auch die Vorstellung eines Ich ‚zu Stande’.
[26] ebd, S. 26
[27] In der Assoziationspsychologie des “Eleaten” J. Fr. Herbart wirken ‚Vorstellungsmassen’ tatächlich ‚ursächlich’ aufs individuelle Denken: “Vernunft heißt Vernehmen.” Natürlich verwarf auch Herbart den freien Willen und meinte, die Kant’sche Erkenntniskritik überwunden zu haben.
[28] “Naturwissenschaftliche Aspekte philosophischer Probleme” in: Robert Havemann, Dialektik ohne Dogma? Reinbek 1964, S. 27ff.
[29] I. Kant, Von der Form der Sinnes- und Verstandeswelt und ihren Gründen [Inauguraldissertation], Ed. Weischedel, Bd. V, S. 49
[30] “Das Manifest” in: Gehirn & Geist, Heft 6/2004, S. 33, 36
[31] Jakob v. Uexküll, Die Lebenslehre, Potsdam 1930, S. 130;
[32] ders., “Bedeutungslehre” in: ders.,/G. Kriszat, Streifzüge durch die Umwel-ten von Tieren und Menschen, Hamburg. 1983, S. 111ff.
[33] Ob dieses Ereignis vor 3 Mio. Jahren im Ostafrikanischen Graben oder schon 4 Mio. Jahre früher im Tschad stattgefunden hat, ist unerheblich.
[34] s. hierzu ausführlich: J. Ebmeier, “Das Ich und die Welt” in: Lettre interna-tional 68, Früjahr 2005
[35] Wolf Singer, “Das Ende des freien Willens?” aaO, S. 31f.
[36] ders., “Wer deutet die Welt?” aaO, S. 13
[37] Wolf Singer, “Das Ende des freien Willens?” in: Ein neues Menschenbild? Ffm. 2003, S. 27
Der Hirnforscher und die Verneinung
Als der Hirnforscher Gerhard Roth im Philosophischen Quartett bei Sloterdijk und Safranski die These von der vollständigen Determiniertheit unseres durchaus nicht freien Willens vertrat, räumt er am Ende der Diskussion doch eine Ausnahme ein: „die Verneinung“.
Er hat die Tragweite seiner
Einschränkung nicht bedacht. Wenn der Verneinungsmodus eine Ausnahme
von der Determiniertheit unseres Willens ist, dann ist der ganze Mensch
eine Ausnahme von der Determination. Denn der Mensch kann grundsätzlich
Alles verneinen und verleugnen. Könnte er nicht nein sagen, dann könnte
er nicht ja sagen. Eben das ist die Freiheit seines Willens.
„Der Mensch ist das Tier, das nein sagen kann“, meint Max Scheler.
Die Ausnahme von der Regel.
Ich will raus in den Park. Ich sehe aus dem Fenster. Eine dunkle Wolkenfront zieht auf. Ich sage „Nein!“
Da habe ich, nach Gerhard Roth, frei gehandelt.
(Ich will raus in…) Ich sehe in den Himmel. „Soll ich oder soll ich nicht?“ Dann greife ich meinen Schirm und gehe doch.
Ich habe ebenfalls frei gehandelt. Denn zu dem Gedanken „ich soll nicht“ habe ich nein gesagt.
Das wird Gerhard Roth kaum bestreiten.
Ich bin im Park, ein unabweisliches Bedürfnis ergreift mich, „nein“ kommt überhaupt nicht in Frage, aber… wie? Taschentücher sind noch genügend da, da vorn ist ein Gebüsch, na wenn das mal nicht in (…) geht…
Eine Wahl habe ich nicht, aber einfach nur ja! sagen kommt schon gar nicht in Frage, es ist so vieles zu berücksichtigen, zu erwägen, in die Wege zu leiten, und alles so schnell…
Und das soll dann unfrei sein?
Schnickschnack, würde Wolf Singer sagen. Kollege Roth hat manchmal einen schwachen Moment, ich für mein’ Teil hätte so eine Einschränkung gar nicht zugegeben: „Im Bezugssystem neu- robiologischer Forschung gibt es keinen Raum für objektive Freiheit, weil die je nächste Handlung, der je nächste Zustand des Gehirns immer determiniert wäre durch das je unmittelbar Vorausgegangene.“ Einem jeden uns als frei gefasst dünkenden Gedanken liegt ein neuronales Ver- schaltungsmuster zu Grunde, das diesen und nur diesen einen Gedanken ‚bedeutet’. Singer sagt uns, „dass unterschiedlichen Gedanken verschiedene neuronale Aktivitätsmuster zugrunde liegen. Kein Gedanke ohne Substrat. Allem, was begrifflich trennbar ist, müssen unterschiedliche Gehirnzustände entsprechen.”
Abbildungs-Modi
(Lassen wir mal das ‚begrifflich’ beiseite, das hier gar nichts verloren hat. Und an dieser Stelle will ich mich auch nicht über die mögliche Umkehrung auslassen: Einer sagt mir das Wort ‚Pferd’, ich denke also ‚Pferd’ – und folglich stellt sich in meinem Hirn dieses eine und kein anderes Verschaltungsmuster ein… Da würde dann der Geist die Materie “determinieren”.)
Hier will ich genauer auf die Frage eingehen, was „zu Grunde liegen“ an dieser Stelle bedeuten mag. Dann werden wir nämlich sehen, dass im Verneinungs-Modus auch ganz ohne Gerhard Roth der Teufel steckt!
Mit Zugrundeliegen dürfte ja wohl Abbilden gemeint sein, wenn Singer das Wort auch meidet. Nämlich in einem analogen Modus „wiedergeben“, „repräsentieren“, „nachzeichnen“.
Zur Erinnerung: ‚Analog’ ist ein Zifferblatt, wenn sich darauf ein Zeiger in konstantem Tempo so dreht, dass die Drehbewegung auf sinnlich wahrnehm bare Weise das gleichmäßige ‚Verlaufen’ der Zeit „darstellt“; selbst wenn gar keine Ziffern zu sehen sind, sondern nur Striche und Punkte. Auf einem ‚digitalen’ Zifferblatt erscheinen dagegen in gleichmäßigen Abständen nach einander die Ziffern selbst und zeigen an, „wie spät“ es ist. Freilich nur dem, der weiß, was diese Ziffern – diese ‘digits’ – bedeuten. Er muss unser Zahlensystem gelernt haben und wissen, dass der Tag vierundzwanzig Stunden hat. Auf dem analogen Ziffernblatt kann ein Fünfjähriger an der Bewegung des Sekundenzeigers zusehen, wie eine Minute vergeht. Er mag sogar geistig zurück geblieben sein: Er sieht es doch!
Das ist der Unterschied zwischen Abbildung und Symbol. Das eine ist analog, das andere ist digital. Eine arabische Ziffer (nur die heißen so!) ist digital; die römischen Zahlen sind analog, aber auch nur die ersten drei. Bei der IV wird’s ebenfalls digital. Dazwischen liegt der Akt der Reflexion, der Akt des Verstehens, das Denken in specie: die Umrechnung einer (sinnlichen) Erscheinung in eine (logische) Bedeutung – mit der in einem so entstehenden logischen Raum ‚operiert’ werden kann, ohne dass irgendwelche Gegenstände sinnlich anwesend wären).
Der Haken: Im analogen Bilderraum gibt es keinen Verneinungs-Modus. Das ist der Vorzug der analogen Darstellung gegenüber der digitalen: Sie ist reicher, sie ist farbiger. Es kann immer noch eine und noch eine Gestaltqualität, noch eine Farbkombination hinzu erfunden werden. Aber die digitale Darstellungsweise ist bestimmter. ‚Digits’ lassen sich eindeutig unterscheiden. Ein Apfel und eine Birne lassen sich – von Weitem schon gar – manchmal nicht so klar unterscheiden.
Und vor allem: Das digitale Repräsentationsmuster erlaubt die Verneinung, das analoge nicht. ‚Ein Pferd’ kann ich mir anschaulich vor Augen führen. Kein Pferd nicht: Wenn ich es mir „vorstelle“, sieht es auch nicht anders aus als, sagen wir, keine Suppenschüssel.
Und was das Schlimmste ist: Wo es keinen Verneinungsmodus gibt, da gibt es erst recht keinen Frage-Modus!
Wolf Singer mag sich drehn und winden wie er mag: Nicht nur haben die Menschen den Frage- und Verneinungsmodus, sondern es gibt sogar gewichtige anthropologische Gründe, darin ein – oder das – auszeichnende Merkmal des Menschlichen zu sehen.
Ein umgedrehter Spieß
Die Freiheit bestreitet Wolf Singer mit dem Argument, die Forschung habe im Menschenhirn keinen ‚Sitz’ des Ich lokalisieren können. Das Ich stelle sich immer wieder situativ neu her durch je andere neuronale Verschaltungen. Mit dem Vernei- nungsmodus dreht sich der Spieß von alleine um: Wenn er uns keine ‚Stelle’ nachweisen kann, wo durch rein neuronale Kettenreaktionen analoge Bilder in digitale Symbole „umgerechnet“ und so die gattungsmäßig unverzichtbaren Frage- und Verneinungsmodi möglich gemacht werden – dann kann unser Wille nicht ‚determiniert’, dann muss er ‚frei’ sein.
PS. Ich will allerdings nicht verhehlen, dass sich Wolf Singer und sein Kollege Roth in eine no-win-Situation begeben haben. Denn wenn sie eines Tages eine solche ‘Stelle’ lokalisieren sollten, dann… werde ich ihnen sagen: “Na da isses ja endlich, das Ich, nach dem Ihr so lange gesucht habt! An der Stelle, wo der physiologische Sinnesreiz mit einer Bedeutung ausgestattet wird, da ist der Sitz unserer Freiheit!”
„Der Mensch ist das Tier, das nein sagen kann“, meint Max Scheler.
Die Ausnahme von der Regel.
Ich will raus in den Park. Ich sehe aus dem Fenster. Eine dunkle Wolkenfront zieht auf. Ich sage „Nein!“
Da habe ich, nach Gerhard Roth, frei gehandelt.
(Ich will raus in…) Ich sehe in den Himmel. „Soll ich oder soll ich nicht?“ Dann greife ich meinen Schirm und gehe doch.
Ich habe ebenfalls frei gehandelt. Denn zu dem Gedanken „ich soll nicht“ habe ich nein gesagt.
Das wird Gerhard Roth kaum bestreiten.
Ich bin im Park, ein unabweisliches Bedürfnis ergreift mich, „nein“ kommt überhaupt nicht in Frage, aber… wie? Taschentücher sind noch genügend da, da vorn ist ein Gebüsch, na wenn das mal nicht in (…) geht…
Eine Wahl habe ich nicht, aber einfach nur ja! sagen kommt schon gar nicht in Frage, es ist so vieles zu berücksichtigen, zu erwägen, in die Wege zu leiten, und alles so schnell…
Und das soll dann unfrei sein?
Schnickschnack, würde Wolf Singer sagen. Kollege Roth hat manchmal einen schwachen Moment, ich für mein’ Teil hätte so eine Einschränkung gar nicht zugegeben: „Im Bezugssystem neu- robiologischer Forschung gibt es keinen Raum für objektive Freiheit, weil die je nächste Handlung, der je nächste Zustand des Gehirns immer determiniert wäre durch das je unmittelbar Vorausgegangene.“ Einem jeden uns als frei gefasst dünkenden Gedanken liegt ein neuronales Ver- schaltungsmuster zu Grunde, das diesen und nur diesen einen Gedanken ‚bedeutet’. Singer sagt uns, „dass unterschiedlichen Gedanken verschiedene neuronale Aktivitätsmuster zugrunde liegen. Kein Gedanke ohne Substrat. Allem, was begrifflich trennbar ist, müssen unterschiedliche Gehirnzustände entsprechen.”
Abbildungs-Modi
(Lassen wir mal das ‚begrifflich’ beiseite, das hier gar nichts verloren hat. Und an dieser Stelle will ich mich auch nicht über die mögliche Umkehrung auslassen: Einer sagt mir das Wort ‚Pferd’, ich denke also ‚Pferd’ – und folglich stellt sich in meinem Hirn dieses eine und kein anderes Verschaltungsmuster ein… Da würde dann der Geist die Materie “determinieren”.)
Hier will ich genauer auf die Frage eingehen, was „zu Grunde liegen“ an dieser Stelle bedeuten mag. Dann werden wir nämlich sehen, dass im Verneinungs-Modus auch ganz ohne Gerhard Roth der Teufel steckt!
Mit Zugrundeliegen dürfte ja wohl Abbilden gemeint sein, wenn Singer das Wort auch meidet. Nämlich in einem analogen Modus „wiedergeben“, „repräsentieren“, „nachzeichnen“.
Zur Erinnerung: ‚Analog’ ist ein Zifferblatt, wenn sich darauf ein Zeiger in konstantem Tempo so dreht, dass die Drehbewegung auf sinnlich wahrnehm bare Weise das gleichmäßige ‚Verlaufen’ der Zeit „darstellt“; selbst wenn gar keine Ziffern zu sehen sind, sondern nur Striche und Punkte. Auf einem ‚digitalen’ Zifferblatt erscheinen dagegen in gleichmäßigen Abständen nach einander die Ziffern selbst und zeigen an, „wie spät“ es ist. Freilich nur dem, der weiß, was diese Ziffern – diese ‘digits’ – bedeuten. Er muss unser Zahlensystem gelernt haben und wissen, dass der Tag vierundzwanzig Stunden hat. Auf dem analogen Ziffernblatt kann ein Fünfjähriger an der Bewegung des Sekundenzeigers zusehen, wie eine Minute vergeht. Er mag sogar geistig zurück geblieben sein: Er sieht es doch!
Das ist der Unterschied zwischen Abbildung und Symbol. Das eine ist analog, das andere ist digital. Eine arabische Ziffer (nur die heißen so!) ist digital; die römischen Zahlen sind analog, aber auch nur die ersten drei. Bei der IV wird’s ebenfalls digital. Dazwischen liegt der Akt der Reflexion, der Akt des Verstehens, das Denken in specie: die Umrechnung einer (sinnlichen) Erscheinung in eine (logische) Bedeutung – mit der in einem so entstehenden logischen Raum ‚operiert’ werden kann, ohne dass irgendwelche Gegenstände sinnlich anwesend wären).
Der Haken: Im analogen Bilderraum gibt es keinen Verneinungs-Modus. Das ist der Vorzug der analogen Darstellung gegenüber der digitalen: Sie ist reicher, sie ist farbiger. Es kann immer noch eine und noch eine Gestaltqualität, noch eine Farbkombination hinzu erfunden werden. Aber die digitale Darstellungsweise ist bestimmter. ‚Digits’ lassen sich eindeutig unterscheiden. Ein Apfel und eine Birne lassen sich – von Weitem schon gar – manchmal nicht so klar unterscheiden.
Und vor allem: Das digitale Repräsentationsmuster erlaubt die Verneinung, das analoge nicht. ‚Ein Pferd’ kann ich mir anschaulich vor Augen führen. Kein Pferd nicht: Wenn ich es mir „vorstelle“, sieht es auch nicht anders aus als, sagen wir, keine Suppenschüssel.
Und was das Schlimmste ist: Wo es keinen Verneinungsmodus gibt, da gibt es erst recht keinen Frage-Modus!
Wolf Singer mag sich drehn und winden wie er mag: Nicht nur haben die Menschen den Frage- und Verneinungsmodus, sondern es gibt sogar gewichtige anthropologische Gründe, darin ein – oder das – auszeichnende Merkmal des Menschlichen zu sehen.
Ein umgedrehter Spieß
Die Freiheit bestreitet Wolf Singer mit dem Argument, die Forschung habe im Menschenhirn keinen ‚Sitz’ des Ich lokalisieren können. Das Ich stelle sich immer wieder situativ neu her durch je andere neuronale Verschaltungen. Mit dem Vernei- nungsmodus dreht sich der Spieß von alleine um: Wenn er uns keine ‚Stelle’ nachweisen kann, wo durch rein neuronale Kettenreaktionen analoge Bilder in digitale Symbole „umgerechnet“ und so die gattungsmäßig unverzichtbaren Frage- und Verneinungsmodi möglich gemacht werden – dann kann unser Wille nicht ‚determiniert’, dann muss er ‚frei’ sein.
PS. Ich will allerdings nicht verhehlen, dass sich Wolf Singer und sein Kollege Roth in eine no-win-Situation begeben haben. Denn wenn sie eines Tages eine solche ‘Stelle’ lokalisieren sollten, dann… werde ich ihnen sagen: “Na da isses ja endlich, das Ich, nach dem Ihr so lange gesucht habt! An der Stelle, wo der physiologische Sinnesreiz mit einer Bedeutung ausgestattet wird, da ist der Sitz unserer Freiheit!”
Das Libet-Experiment und die Fähigkeit, nein zu sagen.
Als
der Hirnforscher Gerhard Roth im Philosophischen Quartett bei
Sloterdijk und Safranski die These von der vollständigen
Determiniertheit unseres durchaus nicht freien Willens vertrat, räumte
er am Ende der Diskussion doch eine Ausnahme ein: „die Verneinung“.
Er hat die Tragweite seiner Einschränkung nicht bedacht. Wenn der Verneinungsmodus eine Ausnahme von der Determiniertheit unseres Willens ist, dann ist der ganze Mensch eine Ausnahme von der Determination. Denn der Mensch kann grundsätzlich Alles verneinen und verleugnen. Könnte er nicht nein sagen, dann könnte er nicht ja sagen. Eben das ist die Freiheit seines Willens. „Der Mensch ist das Tier, das nein sagen kann“ meint Max Scheler.
Das Interesse der Hirnforschung, den Glauben an die Freiheit unseres Willens zu widerlegen, datiert von dem berühmten Libet-Versuch her. Der amerikanische Neuropsychologe Benjamin Libet wollte mit Hilfe der neuen bildgebenden Verfahren der Hirnforschung herausfinden, wie menschliches Handeln strukturiert ist, in welcher Reihenfolge, nach welchem Zeitverlauf Willensakte zustande kommen. Er forderte seine Probanden auf, irgendeinen Körperteil zu bewegen. Libet erwartete folgenden Ablauf: An erster Stelle steht der Willensentschluss, der sich in Aussagen wie „Ich werde jetzt meine rechte Hand heben” artikuliert. Dann baut sich im Gehirn ein Bereitschaftspotenzial auf – das ist der messbare neuronale Prozess der Vorbereitung einer Körperbewegung; und dann kommt es schließlich zur Ausführung der Körperbewegung.
Als Libet das Experiment durchführte, zeigte sich überraschenderweise, dass die angenommene Chronologie falsch war: Das Bereitschafts- potenzial ging nämlich der bewussten Willentscheidung um rund ein Fünftel Sekunde voraus, das heißt: Das Gehirn hatte die Handlung bereits eingeleitet und geplant, bevor sich die Person auf bewusste Weise zu ihr entschließen konnte.
Unter Willen und Ich wird „das Bewusstsein“ verstanden. Aber sie übersehen, dass die Aufgabe: „ein Körperteil bewegen“ im Bewusstsein schon präsent gewesen ist – nämlich als Frage: „welches?“ Kein Wunder, dass das „Bereitschaftspotenzial“ schon da war…
Tasächlich hat Libet nicht den Willensakt selbst beobachtet, sondern den Akt seiner Bewusstwerdung: die Reflexion, durch welche der Wille seiner inne wird. Es handelt sich dabei um eine nachträgliche Kenntnisnahme zum Zweck der Selbstkontrolle – um im gegebenen Fall noch rechtzeitig nein sagen zu können.*
Er setzt voraus eine willentliche Ausrichtung der Aufmerksamkeit.
Im wirkliche Leben geschehen – sagen wir: – neunundneunzigkommaneun Prozent der willkürlichen, nämlich nicht vom Zentralen System gesteuerten Bewegungen ‘vor-bewusst’ und treten in den Kreis der Aufmerksamkeit gar nicht erst ein. Anders käme ich nie zum Handeln. Das an dieser Stelle stets bemühte Beispiel ist das Autofahren. Die Aufmerksamkeit ist gerichtet auf das Verkehrsgeschehen. Meine Muskulatur – Hände und Füße – “wissen von allein”, welche Bewegungen jeweils auszuführen sind. Ich richte meine Aufmerksamkeit nur dann darauf, wenn ich einen sich abzeichnenden Fehler zu unterbinden habe. Während dessen ziehe ich meine Aufmerksamkeit vom Verskehrsstrom ab. Eine Verzögerung von einer Fünftelsekunde geht im Straßenverkehr gerade noch an. Brauche ich länger, wird mich das Verkehrsgeschehen überrollen. Für den Musiker, der seine Stimme oder sein Instrument betätigt, ist eine Fünftelsekunde schon zu lang. Der Rhythmus ist futsch. Da hilft nur üben, üben, üben…**
Ergebnis: Das Ich entsteht da und dann, wo die Reflexion die vorgängigen Willenakte überprüft, um im gegebenen Fall nein sagen zu können. Das Ja ist die ‘natürliche’ Prämisse. Aber erst, wenn ich darauf verzichtet habe, nein zu sagen, kann ich ein Ja auch sagen. In diesem Moment war mein Wille frei. An dieser Stelle ‘ereignete sich’ Ich.
*) Das war auch Libets eigene Interpretation.
Er hat die Tragweite seiner Einschränkung nicht bedacht. Wenn der Verneinungsmodus eine Ausnahme von der Determiniertheit unseres Willens ist, dann ist der ganze Mensch eine Ausnahme von der Determination. Denn der Mensch kann grundsätzlich Alles verneinen und verleugnen. Könnte er nicht nein sagen, dann könnte er nicht ja sagen. Eben das ist die Freiheit seines Willens. „Der Mensch ist das Tier, das nein sagen kann“ meint Max Scheler.
Das Interesse der Hirnforschung, den Glauben an die Freiheit unseres Willens zu widerlegen, datiert von dem berühmten Libet-Versuch her. Der amerikanische Neuropsychologe Benjamin Libet wollte mit Hilfe der neuen bildgebenden Verfahren der Hirnforschung herausfinden, wie menschliches Handeln strukturiert ist, in welcher Reihenfolge, nach welchem Zeitverlauf Willensakte zustande kommen. Er forderte seine Probanden auf, irgendeinen Körperteil zu bewegen. Libet erwartete folgenden Ablauf: An erster Stelle steht der Willensentschluss, der sich in Aussagen wie „Ich werde jetzt meine rechte Hand heben” artikuliert. Dann baut sich im Gehirn ein Bereitschaftspotenzial auf – das ist der messbare neuronale Prozess der Vorbereitung einer Körperbewegung; und dann kommt es schließlich zur Ausführung der Körperbewegung.
Als Libet das Experiment durchführte, zeigte sich überraschenderweise, dass die angenommene Chronologie falsch war: Das Bereitschafts- potenzial ging nämlich der bewussten Willentscheidung um rund ein Fünftel Sekunde voraus, das heißt: Das Gehirn hatte die Handlung bereits eingeleitet und geplant, bevor sich die Person auf bewusste Weise zu ihr entschließen konnte.
Unter Willen und Ich wird „das Bewusstsein“ verstanden. Aber sie übersehen, dass die Aufgabe: „ein Körperteil bewegen“ im Bewusstsein schon präsent gewesen ist – nämlich als Frage: „welches?“ Kein Wunder, dass das „Bereitschaftspotenzial“ schon da war…
Tasächlich hat Libet nicht den Willensakt selbst beobachtet, sondern den Akt seiner Bewusstwerdung: die Reflexion, durch welche der Wille seiner inne wird. Es handelt sich dabei um eine nachträgliche Kenntnisnahme zum Zweck der Selbstkontrolle – um im gegebenen Fall noch rechtzeitig nein sagen zu können.*
Er setzt voraus eine willentliche Ausrichtung der Aufmerksamkeit.
Im wirkliche Leben geschehen – sagen wir: – neunundneunzigkommaneun Prozent der willkürlichen, nämlich nicht vom Zentralen System gesteuerten Bewegungen ‘vor-bewusst’ und treten in den Kreis der Aufmerksamkeit gar nicht erst ein. Anders käme ich nie zum Handeln. Das an dieser Stelle stets bemühte Beispiel ist das Autofahren. Die Aufmerksamkeit ist gerichtet auf das Verkehrsgeschehen. Meine Muskulatur – Hände und Füße – “wissen von allein”, welche Bewegungen jeweils auszuführen sind. Ich richte meine Aufmerksamkeit nur dann darauf, wenn ich einen sich abzeichnenden Fehler zu unterbinden habe. Während dessen ziehe ich meine Aufmerksamkeit vom Verskehrsstrom ab. Eine Verzögerung von einer Fünftelsekunde geht im Straßenverkehr gerade noch an. Brauche ich länger, wird mich das Verkehrsgeschehen überrollen. Für den Musiker, der seine Stimme oder sein Instrument betätigt, ist eine Fünftelsekunde schon zu lang. Der Rhythmus ist futsch. Da hilft nur üben, üben, üben…**
Ergebnis: Das Ich entsteht da und dann, wo die Reflexion die vorgängigen Willenakte überprüft, um im gegebenen Fall nein sagen zu können. Das Ja ist die ‘natürliche’ Prämisse. Aber erst, wenn ich darauf verzichtet habe, nein zu sagen, kann ich ein Ja auch sagen. In diesem Moment war mein Wille frei. An dieser Stelle ‘ereignete sich’ Ich.
*) Das war auch Libets eigene Interpretation.
**)
Und dies nicht zu vergessen: Es handelt sich nicht um ein
abgeschlossenes Stück in drei Akten, sondern um eine willkürlich
herausgegriffene Sequenz eines fortwährenden systemischen Prozesses.
Entscheidet mein Gehirn oder entscheide ich? aus scinexx
„Ampel“ im Gehirn: Verzögerung entscheidet
Verzögerte Hemmung von Nervenzellen ist mögliche Grundlage für Entscheidungen
Verzögerte Hemmung von Nervenzellen ist mögliche Grundlage für Entscheidungen
In jeder wachen Minute müssen wir Entscheidungen treffen – manchmal im Bruchteil einer Sekunde. Neurowissenschaftler haben jetzt eine mögliche Erklärung gefunden, wie im Gehirn zwischen Alternativen gewählt wird: Offenbar könen schon winzigste Verzögerungen zwischen erregenden und hemmenden Signalen über Pro oder Contra entscheiden, berichten sie im Journal of Neuroscience.
Die Ampel springt von Grün auf Gelb: Schnell noch Gas geben oder doch auf die Bremse treten? Unser tägliches Leben ist eine lange Reihe von Entscheidungen. Im Gehirn besteht dieser Vorgang oft darin, dass einem Gehirnprozess der Vorzug gegenüber einem anderen gegeben wird, wobei beide auf dieselben Ressourcen im Nervensystem zugreifen wollen. Was genau im Gehirn geschieht, wenn zwischen Alternativen gewählt wird, war aber bislang ein Rätsel.
Nervenzell-Netzwerk im Rechner nachgebaut
Wissenschaftler des Bernstein Center an der Universität Freiburg um Jens Kremkow, Arvind Kumar und Professor Ad Aertsen stellen nun einen Mechanismus vor, mit dem das Gehirn bereits auf der Ebene einzelner Nervenzellen innerhalb von Sekundenbruchteilen aus mehreren Aktionen wählen kann. Da Struktur und Aktivität des Gehirns zu komplex sind, um diese Frage im einfachen biologischen Experiment zu beantworten, bauten die Wissenschaftler ein Netzwerk aus Nervenzellen im Computer nach.
Abstand zwischen erregenden und hemmenden Signalen entscheidend
Neuronen des Gehirns können erregend oder hemmend auf die Aktivität anderer Nervenzellen wirken. In dem von den Forschern konstruierten Netzwerk agierten zwei Gruppen von Neuronen als Sender zweier unterschiedlicher Signale. In einem nachgeschalteten Bereich, dem „Gatter“, sollten andere Neurone kontrollieren, welches der Signale weitergeleitet wird. Da die Zellen innerhalb des Netzwerks sowohl mit erregenden als auch mit hemmenden Neuronen verknüpft waren, erreichten die Signale das Gatter jeweils in erregender wie auch – nach kurzer Verzögerung – in hemmender Form.
Die Forscher fanden in ihren Simulationen heraus, dass für die „Entscheidung“ der Neurone zugunsten eines der Signale diese Verzögerung den Schlüssel darstellte: War sie sehr klein, wurden die Zellen im Gatter in ihrer Aktivität zu schnell gehemmt, als dass sie das Signal hätten weiterleiten können. Umgekehrt führte eine größere Verzögerung dazu, dass sich das Gatter für das Signal öffnete. Ergebnisse aus neurophysiologischen Experimenten zeigten bereits, dass in echten Nervenzellen eine Veränderung der Verzögerung möglich ist und unterstützen somit den Befund von Kremkow und Kollegen, dass auf dieser Basis die Auswahl aus mehreren Alternativen im Gehirn realisiert sein
kann.
Nota.
Das "Was" einer Entscheidung ist also sozusagen von alleine da – "determiniert" durch den je vorangegangenen Zustand des Gehirns, wie Wolf Singer sich ausdrücken würde. Die Entscheidung selber geschieht aber erst als eine alternative Wahl zwischen Ja und Nein - wobei das Ja eine Art ausgebliebenes Nein darstellt. Nun soll uns Wolf Singer noch erklären, wie eine alternative Wahl zwischen nur zwei Möglichkeiten von irgendwas oder irgendwem vorab "determiniert" werden könnte!
J. E.
Da sitzt es ja, das Ich!
aus: scinexx
Selbstreflektion zeigt sich in GehirnUnterschiede im präfrontalen Cortex bei introspektiven Menschen entdeckt
Ob ein Mensch über eine gute Selbstreflektion verfügt und die Richtigkeit seiner Entscheidungen realistisch einschätzen kann, zeigt sich auch am Gehirn. Wissenschaftler haben festgestellt, dass eine spezifische Region des Stirnhirns bei introspektiven Menschen leicht vergrößert ist. Wie sie in „Science“ berichten, eröffnet dies wertvolle Einblicke in die Biologie unsers Bewusstseins.
Entscheidung über Fleckenmuster
Für ihre Studie entwickelten die Wissenschaftler um Geraint Rees, Stephen Fleming und Rimona Weil vom University College London zunächst ein spezielles Experiment, mit dem sie die Selbsteinschätzung von Probanden nach dem Lösen einer Aufgabe spezifisch abfragen und die Übereinstimmung mit dem tatsächlichen Abschneiden ermitteln konnten. In den Experimenten bekamen die 32 Freiwilligen jeweils zwei Computerbildschirme mit jeweils sechs gemusterten Flecken gezeigt. Auf einem der beiden Screens war einer der Flecken eine Winzigkeit heller als die anderen fünf.
Die Probanden sollten diesen Bildschirm identifizieren und gleichzeitig angeben, wie sicher sie sich über die Korrektheit ihrer Entscheidung waren. Das Experiment war dabei von den Forschern bewusst so angelegt, dass die Identifikation der richtigen Grafik für jeden Probanden etwa gleich schwer war. Dafür wurde der Schwierigkeitsgerad jeweils individuell auf die Fähigkeiten der Personen eingestellt. Unterschiedlich war damit in erster Linie die Einschätzung ihrer getroffenen Entscheidung.
Wie in einer Quizshow
Nach Ansicht der Wissenschaftler sollten Personen, die gute Fähigkeiten der Selbsteinschätzung und -beobachtung besitzen, sich nach einer richtigen Entscheidung sicherer sein als nach einer falschen. „Es ist wie in der Quizshow ‚Wer wird Millionär’“, erklärt Weil. „Ein introspektiver Kandidat wird seine finale Antwort abgeben, wenn er sich relativ sicher ist und vielleicht einen Freund anrufen, wenn er unsicher ist. Ein Kandidat, der über weniger gute Selbstbeobachtung verfügt, wird auch weniger effektiv einschätzen können, mit welcher Wahrscheinlichkeit seine Antwort die richtige ist.“
Mehr graue Substanz
Nach dem Experiment untersuchten die Forscher zusätzlich die Hirnstruktur und Aktivität der Probanden mittels Magnetresonanztomografie (MRI) und setzten die Ergebnisse der Scans mit der Fähigkeit zu korrekten Selbsteinschätzung ins Verhältnis. Tatsächlich stießen sie auf eine Korrelation: Eine kleines Gebiet grauer Hirnsubstanz im rechten vorderen Bereich der Hirnrinde, dem präfrontalen Cortex, war bei den Probanden mit guter Selbstbeobachtung etwas größer ausgeprägt als bei ihren weniger erfolgreichen Kollegen. Auch die Struktur der benachbarten weißen Substanz zeigte Unterschiede.
Einblick in Biologie des Bewusstseins
Nach Ansicht der Wissenschaftler könnte demnach die Ausprägung dieses kleinen Gehirnbereichs, der direkt hinter unseren Augenliegt, ein Indikator für unsere Fähigkeiten zu Introspektion sein. Wie genau dieser Zusammenhang zwischen Selbsteinschätzung und der weißen und grauen Substanz aber funktioniert, ist noch absolut unklar. Die Forscher betonen auch, dass ihre Ergebnisse nicht notwendigerweise bedeuten, dass Individuen mit mehr grauer Substanz in diesem Bereich mehr Selbstbeobachtung betreiben als andere Menschen. Sie könnten aber ein Hinweis auf das Niveau der Selbstbeobachtung sein, zu dem ein Individuum fähig ist.
„Wir wollen wissen, warum wir uns bestimmter mentaler Prozesse bewusst sind, während andere sich in Abwesenheit abspielen“, erklärt Fleming. „Es könnte unterschiedliche Niveaus des Bewusstseins geben, von der einfachen Erfahrung bis zur Reflektion über diese Erfahrung. Introspektion liegt am oberen Ende dieses Spektrums – indem wir diesen Prozess erforschen und ihn zum Gehirn in Beziehung setzen, hoffen wir mehr Einblick in die Biologie des bewussten Denkens zu erhalten.“
(American Association for the Advancement of Science, 20.09.2010 – NPO)
Nota. - Na schön, lassen wir die Kirche im Dorf: Ob da “das Ich” sitzt, steht noch in dern Sternen. Und ob Introspektion und Reflexion schlicht dasselbe sind, wäre noch zu diskutieren. Das Wort ‘Selbstreflektion’ verbirgt mehr, als es entdeckt. Und dann sind es ja mehrere Zentren, deren vorgängiges Zusammenspiel ein ‘Ich’ immer wieder erst werden lässt. Und schließlich handelt es sich augenscheinlich um keine positive, sondern um eine kritische Funktion – die Fähigkeit zum Problematisieren. Das Ich als das Vermögen, Fragen zu stellen – damit kann sich auch der Transzendentalphilosoph anfreunden.
Und auf jeden Fall sind Wolf Singer und seine Parteigänger um ihr bestes Streitross ärmer.
Klarträume und Selbstreflexion.
aus scinexx
Größeres Hirnareal für Selbstreflexion zeichnet bewusste Träumer aus
Wie kann ich wissen, dass ich gerade träume? Die Fähigkeit zum Klarträumen hängt offenbar direkt mit dem Nachdenken über das eigene Denken zusammen: Der für die sogenannte Metakognition verantwortliche Hirnbereich ist bei Klarträumern größer als bei anderen Menschen, haben Wissenschaftler herausgefunden. Klarträumer können deshalb möglicherweise auch im Alltag ihr eigenes Denken besser reflektieren, vermuten die Forscher im "Journal of Neuroscience".
Manche Menschen sind sich während des Schlafens bewusst, dass sie gerade träumen. Bei diesem sogenannten Klarträumen kann der Schlafende den Traum manchmal sogar selbst mitgestalten. Die meisten Klarträumer erleben dieses Phänomen aber nicht mehr als ein paar Mal im Jahr und nur sehr wenige fast täglich. Andere Menschen wiederum erleben dieses Phänomen nur extrem selten oder sogar überhaupt nicht. Dabei ist bekannt, dass spezifische Hirnregionen für das Klarträumen verantwortlich sind, die sich sogar künstlich dazu anregen lassen. Doch wie kommt es, dass die einen klarträumen und die anderen nicht? Hat dies etwas mit der menschlichen Fähigkeit zu tun, über das eigene Denken nachdenken zu können – der sogenannten Metakognition?
Vorderes Stirnhirn ermöglicht Klarträume
Obwohl diese Verbindung naheliegt, war bisher unklar, ob Klartraum und Metakognition tatsächlich miteinander zusammenhängen. Hirnforscher um Elisa Filevich vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin haben darum im Gehirn nach einem solchen Zusammenhang gesucht. Dazu verglichen sie mit Hilfe der Magnetresonanztomographie (MRT) die Hirnstrukturen von 31 Probanden, die häufig klarträumen, mit denen von 31 Probanden, die nicht oder nur selten klarträumen.
Bei Klarträumern ist das vordere Stirnhirn größer, welches auch für die Metakognition eine wichtige Rolle spielt. Es zeigte sich, dass bei Klarträumern ein bestimmter Bereich im Gehirn tatsächlich größer ist: Der anteriore präfrontale Kortex, auch vorderes Stirnhirn genannt, steuert als Kontrollinstanz bewusste, kognitive Prozesse. Derselbe Bereich der Hirnrinde spielt auch für die Metakognition eine wichtige Rolle. Die Unterschiede zwischen Klarträumern und Nicht-Klarträumern in der Größe dieses Bereichs deuten darauf hin, dass Klarträumen und Metakognition tatsächlich miteinander zusammenhängen.
Bessere Metakognition auch im Wachzustand
Dafür sprechen auch Tests, bei denen die Probanden im Wachzustand Aufgaben lösen sollten, die den Grad ihrer Selbstreflektion anzeigen. Die währenddessen erstellten Hirnbilder zeigen, dass die Aktivität im Stirnhirn bei den Klarträumern höher war. „Das Ergebnis unserer Studie lässt vermuten, dass Menschen, die ihre Träume kontrollieren können, auch in ihrem Alltag besonders gut über ihr eigenes Denken nachdenken können“, fasst Filevich zusammen.
Doch lässt sich das Klarträumen auch erlernen, wie verschiedenste Tipps in Blogs und Internetforen nahelegen? "Als nächstes interessiert uns, ob sich metakognitive Fähigkeiten trainieren lassen", sagt Filevich. Dazu wollen die Forscher in einer nächsten Studie Probanden im luziden Träumen trainieren, um zu untersuchen, ob das Training die Metakognition positiv beeinflusst. (The Journal of Neuroscience, 2015; doi: 10.1523/JNEUROSCI.3342-14.2015)
Nota. - Die Hirnforscher haben keine Stelle im Gehirn auffinden können, die das Oberkommando führt, wo alle Informationsstränge zusammenlaufen und wo die Entscheidungen fallen. Ein Ich, von dem die Philosophie so viel Aufhebens macht, gäbe es daher gar nicht, war ihre Schlussfolgerung,
Und unser sogenanntes Bewusstsein sei nur ein evolutionär eingeübter Spiegelungseffekt ohne eine Spur von Freiheit. Und ist im Prinzip nichts anderes als was die Tiere auch haben, kann man hinzufügen. Plausibel, wenigstens auf den ersten Blick, wäre das aber nur, solange es sich um das schlichte Wissen von diesem oder von jenem handelt - so etwas haben die Tiere offenkundig ja auch. Aber was wir unser Bewusstsein nennen, ist ja das Wissen, dass wir wissen. Es ist die Fähigkeit der Reflexion oder, richtiger gesagt, die Unfähigkeit, nicht zu reflektieren.
An der Stelle hatte sich Wolf Singer in seinen besseren Tagen schon früher die Zähne ausgebissen und entschuldigte sich mit einem verlegenen Hinweis auf die "Iteration", die rasche häufige Wiederholung Desselben, als ob die Vorstellung dabei quasi über ihre eigenen Füße stolperte und es irgendwie fertigbrächte, sich an sich selbst zurückzuwenden.
Metakognition - das ist der springende Punkt in Sachen Ich, Bewusstsein und der Freiheit, nein zu sagen. Wenn seine Kollegen nun doch noch ein Areal, ein Zentrum im Gehirn lokalisiert haben, wo die Stattfindet, dann sind alle früheren Auseinandersetzung mit Singers Angriff auf die Willensfreiheit überflüssig geworden; wir haben ein Oberste Instanz, die indessen nicht Substanz ist (was die Kritische Philosophiestets heftig bestritten hat), sondern Funktion - die nur "ist", wenn und indem sie wirkt.
JE
Ein Dr. Eisenbarth der Hirnforschung
aus Neue Zürcher Zeitung, 16. 1. 2010Selbstverlust im Ego-Tunnel
Thomas Metzinger ist auf der Suche nach einer Theorie dessen, was es gar nicht gibt
Von Uwe Justus Wenzel
Das Staunen ist – wenig erstaunlich – eng mit der Philosophie verknüpft. Dass es sogar, wie Aristoteles glaubte, der Beginn allen Philosophierens sei, heisst nicht, dass nicht auch noch im Zuge eines fortschreitenden Nachdenkens staunenswerte Sätze geschrieben werden können. Über einen solchen Satz stolpert der Leser bei der Lektüre des neuen Buches von Thomas Metzinger, einem in der noch immer boomenden Branche der Neurophilosophie prominenten Kopf. Im vorletzten Kapitel heisst es: «Wie sollen wir mit diesem Gehirn leben?» – Unwillkürlich meldet sich eine Sorge um den Philosophen: Was hat ihn von seinem Gehirn entfremdet?
Die Antwort vom Dienst
Philosophie, das ist auch die Kunst, auf jede Antwort noch eine Frage zu haben: alles Selbstverständliche unselbstverständlich werden zu lassen. Die wichtigste der Fragen, die Metzinger auf den annähernd dreihundert Seiten zu beantworten versucht, die jener überraschenden Frage vorausgehen, lautet in etwa: Wie kommt es zu so etwas wie einem «ganzheitlichen Ichgefühl»? Die Antwort darauf – es ist seit Jahren die Antwort vom Dienst auf sehr viele andere Fragen auch – lässt sich knapp formulieren: durch das Gehirn. Ausführlicher: Das menschliche Gehirn bewerkstelligt es, dass seine Träger Bewusstsein und Selbstbewusstsein haben, dass sie sich fühlen, als hätten sie ein Selbst, ein Ich.
Das aber haben sie in Wahrheit gar nicht: «Ganz im Gegensatz zu dem, was die meisten Menschen glauben, war oder hatte niemand je ein Selbst.» So sagt uns Menschen schon der zweite Satz der Einleitung des Buches, dessen Untertitel eine Theorie dessen, was es gar nicht gibt, in Aussicht stellt: eine «neue Philosophie des Selbst». Woher der Philosoph weiss, dass es «keine einzelne unteilbare Entität, die wir selbst sind», gebe, verrät er an dieser Stelle noch nicht. Man darf aber vermuten, er verdanke sein Wissen nicht unwesentlich dem Umstand, dass bei der Öffnung einer Schädeldecke, soweit bekannt, noch nie ein Selbst – man malt sich aus: aufgeschreckt – aus der Hirnschale gesprungen oder ein Geist sichtbarlich entwichen ist.
Das Gehirn schafft also etwas recht eigentlich Unmögliches, wenn es denjenigen, der eines hat, glauben macht, er habe ausser dem Gehirn (und einem Körper) noch etwas, was es «so» gar nicht gibt: ein Selbst, ein Ich, einen Geist oder gar eine Seele. Kein Wunder mithin, dass ein Philosoph, der diesen Gedanken eines «unmöglichen» Gehirns zu denken versucht, innehält und verwundert fragt: «Wie sollen wir mit diesem Gehirn bloss leben?» Gaukelt es uns etwas vor? Gaukelt es uns uns vor, unser Selbst? Das hinwiederum tut es anscheinend nicht. Das bewusste Selbst, so das Fazit des von der Hirnforschung und der Neuropsychologie faszinierten Philosophen, sei «weder eine Form von Wissen noch eine Illusion». Sondern? «Es ist einfach das, was es ist.» Diese Auskunft, obgleich sie immerhin lehrt, dass das Selbst doch etwas und nicht vielmehr nichts ist, befriedigt den neugierigen Leser naturgemäss noch nicht ganz.
Thomas Metzinger hat auf ihn aber zuvor eine ganze Kaskade von Thesen niedergehen lassen: Das bewusste Selbst sei ein Modell, das vom Gehirn zusammen mit einem Weltmodell erzeugt werde; ein inneres Bild unserer selbst als einer körperlichen Ganzheit, die in das Bild von einer Welt eingebettet sei; eine Simulation, die wir «naiven Realisten» als Simulation nicht durchschauen können, ausser vielleicht in Klarträumen oder in sogenannten ausserkörperlichen Erfahrungen, von denen der Autor manches zu berichten weiss. Experimente aus der Psychologie der Selbstwahrnehmung – wie etwa die Gummihand-Illusion, bei der der Proband sich eine vor ihm liegende Handattrappe anstelle der eigenen, verdeckten Hand gefühlsmässig einverleibt – sollen die Annahme einer an Körperbildern orientierten Selbstmodellierung ohne «wirkliches» Selbst stützen.
Die naturalistische Theorie des Geistes, die Metzinger verficht, hat allerdings mit Widrigkeiten zu kämpfen. Erstens gibt es sie noch gar nicht. Zweitens soll eine solche Theorie, wie ihr Fürsprecher mehrfach fordert, «alle» von der Psychologie und der Hirnforschung erhobenen Daten in ein «empirisch plausibles Modell» integrieren können. Das ist ein enormes Pensum. Drittens müsste sie all die Metaphern begrifflich zu verdauen imstande sein, die dem Philosophen in den Sinn kommen, vom titelgebenden Bild des «Ego-Tunnels», der auch an die platonische Höhle erinnert, über die «Insel», die aus dem Meer der Neuronen auftauche, und die «Informationswolke», die über dem «neurobiologischen Substrat» schwebe, bis hin zum «totalen Flugsimulator», mit dem er das Funktionieren unseres Bewusstseins ebenfalls vergleicht. Viertens wäre die Theorie, nach ihren eigenen Vorgaben – soweit sie sich abzeichnen -, unbeweisbar. Die Wände des Tunnels unserer subjektiven Weltperspektive, aus denen wir wie aus der eigenen Haut nicht heraus können, müssten sich, so jedenfalls Metzinger, auflösen, «wenn wir diese Theorie auch als wahr erleben wollten».
«Bewusstseinsethik»
Wer zu meditieren verstünde, bekäme aber wohl einen Vorgeschmack von diesem sehr anderen Zustand. Das deutet Metzinger beiläufig an; und er empfiehlt Meditation am Ende des Buches, wo es kulturkritisch wird, auch tatsächlich als «flächendeckendes» Schulfach. Nicht freilich, um seine Theorie einsichtig zu machen, sondern damit die Menschen der Gegenwart nicht in einer «Mischung aus Traum, Demenz, Berauschtheit und Infantilisierung» vor sich hindämmern. Der Trend zur «Depersonalisierung» scheint nicht nur von den elektronischen Medien und ihrer Virtualisierung der Welt befördert zu werden; auch die «Entzauberung des Selbst», zu der die Hirnforschung angeblich führe, soll dazu beitragen. Die «Bewusstseinsethik», die Metzinger als Antidot verschreibt, ist noch nicht viel mehr als ein gutgemeintes Etikett. Und die Spiritualität, auf deren Erfahrung in den Tiefendimensionen des Ego-Tunnels er hofft, um das «Vakuum» im sozusagen selbstlos gewordenen Menschen wieder zu füllen? Sie ist nur erst das weiche Reversbild des harten Naturalismus und gemahnt ein wenig an jene Sentimentalität, die sich gerne mit Brutalität paart.
Thomas Metzinger: Der Ego-Tunnel. Eine neue Philosophie des Selbst: Von der Hirnforschung zur Bewusstseinsethik. Aus dem Englischen von Thomas Metzinger und Thorsten Schmidt. Berlin-Verlag, Berlin 2009. 378 S., Fr. 44.50.
Merken und erinnern sind eine Sache des Takts.mv-berndorf
.aus scinexx
Taktstock im Gehirn
Forscher entschlüsseln Signalgeber für den Rhythmus des Gedächtnisses
Dauerfeuer im Gehirn: Wenn wir uns neue Dinge merken, arbeiten unsere Gedächtniszellen plötzlich im Gleichtakt. Hirnforscher haben nun aufgeklärt, wie der Taktgeber dieser Synchronisierung funktioniert. Dies gewährt wichtige neue Einblicke in die Arbeitsweise unseres Gedächtnisses und könnte auch neue Erkenntnisse zu Demenz-Erkrankungen liefern, schreiben die Wissenschaftler im "Journal of Neuroscience".
Im Zentrum unseres Gedächtnisses, dem Hippocampus, herrscht Dauerfeuer: Wenn wir uns Dinge einprägen, feuern die Nervenzellen ihre Signale bis zu zehn Mal in der Sekunde. Dies geschieht jedoch nicht in wildem Durcheinander – im Gegenteil: Die Zellen arbeiten im schönsten Gleichtakt zusammen wie die Instrumente eines Orchesters. Taktgeber für diesen gemeinsamen Rhythmus ist das sogenannte mediale Septum im Vorderhirn, etwas entfernt vom Hippocampus.
Taktgeber im Vorderhirn
Funktioniert das Septum nicht richtig, verwandelt sich die rhythmische Zusammenarbeit in eine chaotische Kakofonie. Gleichzeitig versorgt das Septum auch den Hippocampus mit dem Nervenzell-BotenstoffAcetylcholin. Dieser ist wichtig, damit wir neue Gedächtnisinhalte abspeichern können. Menschen mit einem geschädigten Septum haben daher Probleme, sich neue Geschehnisse zu merken.
Diese beiden Wechselwirkungen zwischen Septum und Hippocampus sind seit einigen Jahrzehnten bekannt. Unerforscht war dagegen bislang, wie die Acetylcholin-Ausschüttung und die Taktgeber-Funktion miteinander zusammenhängen. Diese Frage haben Wissenschaftler um Holger Dannenberg von der Universität Bonn nun geklärt.
Präzise und synchrone Nervensignale
Eine Schlüsselrolle übernehmen demnach Acetylcholin-produzierende Zellen im Septum. Diese"cholinergen" Zellen sind mit dem Hippocampus verkabelt, so dass sie dort Acetylcholin ausschütten können. Das Acetylcholin bremst im Hippocampus die Gedächtniszellen, so dass diese langsamer feuern.
Gleichzeitig aktivieren die cholinergen Zellen im Septum selbst die eigentlichen Taktgeber-Zellen. Auch diese entsenden Steuersignale in den Hippocampus. Darüber können sie sehr genau regeln, wann und mit welcher Frequenz die Gedächtniszellen feuern. Zusammen bewirken diese zwei Effekte, dass die Gedächtniszellen im Hippocampus zwar seltener feuern, dafür aber sehr präzise und synchron. Die cholinergen Zellen sind also gewissermaßen der Taktstock, mit dem das Septum den Rhythmus vorgibt.
Merken und Erinnern geht nicht zur gleichen Zeit
Doch warum ist es überhaupt nötig, dass die Nervenzellen im Hippocampus synchron aktiv werden? "Vermutlich ist der Rhythmus wichtig, um die Funktionen des Gedächtnisses zu koordinieren", spekuliert Dannenberg. "So ist es wahrscheinlich nur in bestimmten Phasen des Rhythmuses möglich, Inhalte zu speichern, und in anderen Phasen, gespeicherte Inhalte zu laden."
Merken und Erinnern werden so zeitlich voneinander entkoppelt. Wenn das nicht funktioniert, gerät unser Gedächtnis durcheinander. Eventuell erlauben die Ergebnisse daher auch neue Einblicke in die Entstehung von Demenz-Erkrankungen. So gibt es bereits Hinweise darauf, dass bei Alzheimer-Patienten die Funktion des Septums gestört ist. Auch der Botenstoff Acetylcholin spielt bei der Alzheimer-Krankheit eine zentrale Rolle. (Journal of Neuroscience, 2015; doi: 10.1523/JNEUROSCI.4460-14.2015)
(Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, 03.06.2015 - AKR)
Forscher entschlüsseln Signalgeber für den Rhythmus des Gedächtnisses
Dauerfeuer im Gehirn: Wenn wir uns neue Dinge merken, arbeiten unsere Gedächtniszellen plötzlich im Gleichtakt. Hirnforscher haben nun aufgeklärt, wie der Taktgeber dieser Synchronisierung funktioniert. Dies gewährt wichtige neue Einblicke in die Arbeitsweise unseres Gedächtnisses und könnte auch neue Erkenntnisse zu Demenz-Erkrankungen liefern, schreiben die Wissenschaftler im "Journal of Neuroscience".
Im Zentrum unseres Gedächtnisses, dem Hippocampus, herrscht Dauerfeuer: Wenn wir uns Dinge einprägen, feuern die Nervenzellen ihre Signale bis zu zehn Mal in der Sekunde. Dies geschieht jedoch nicht in wildem Durcheinander – im Gegenteil: Die Zellen arbeiten im schönsten Gleichtakt zusammen wie die Instrumente eines Orchesters. Taktgeber für diesen gemeinsamen Rhythmus ist das sogenannte mediale Septum im Vorderhirn, etwas entfernt vom Hippocampus.
Taktgeber im Vorderhirn
Funktioniert das Septum nicht richtig, verwandelt sich die rhythmische Zusammenarbeit in eine chaotische Kakofonie. Gleichzeitig versorgt das Septum auch den Hippocampus mit dem Nervenzell-BotenstoffAcetylcholin. Dieser ist wichtig, damit wir neue Gedächtnisinhalte abspeichern können. Menschen mit einem geschädigten Septum haben daher Probleme, sich neue Geschehnisse zu merken.
Cholinerge Zellen (grün) schütten Acetylcholin aus und sorgen dafür, dass die Gedächtniszellen langsamer, aber synchron feuern.
Diese beiden Wechselwirkungen zwischen Septum und Hippocampus sind seit einigen Jahrzehnten bekannt. Unerforscht war dagegen bislang, wie die Acetylcholin-Ausschüttung und die Taktgeber-Funktion miteinander zusammenhängen. Diese Frage haben Wissenschaftler um Holger Dannenberg von der Universität Bonn nun geklärt.
Präzise und synchrone Nervensignale
Eine Schlüsselrolle übernehmen demnach Acetylcholin-produzierende Zellen im Septum. Diese"cholinergen" Zellen sind mit dem Hippocampus verkabelt, so dass sie dort Acetylcholin ausschütten können. Das Acetylcholin bremst im Hippocampus die Gedächtniszellen, so dass diese langsamer feuern.
Gleichzeitig aktivieren die cholinergen Zellen im Septum selbst die eigentlichen Taktgeber-Zellen. Auch diese entsenden Steuersignale in den Hippocampus. Darüber können sie sehr genau regeln, wann und mit welcher Frequenz die Gedächtniszellen feuern. Zusammen bewirken diese zwei Effekte, dass die Gedächtniszellen im Hippocampus zwar seltener feuern, dafür aber sehr präzise und synchron. Die cholinergen Zellen sind also gewissermaßen der Taktstock, mit dem das Septum den Rhythmus vorgibt.
Merken und Erinnern geht nicht zur gleichen Zeit
Doch warum ist es überhaupt nötig, dass die Nervenzellen im Hippocampus synchron aktiv werden? "Vermutlich ist der Rhythmus wichtig, um die Funktionen des Gedächtnisses zu koordinieren", spekuliert Dannenberg. "So ist es wahrscheinlich nur in bestimmten Phasen des Rhythmuses möglich, Inhalte zu speichern, und in anderen Phasen, gespeicherte Inhalte zu laden."
Merken und Erinnern werden so zeitlich voneinander entkoppelt. Wenn das nicht funktioniert, gerät unser Gedächtnis durcheinander. Eventuell erlauben die Ergebnisse daher auch neue Einblicke in die Entstehung von Demenz-Erkrankungen. So gibt es bereits Hinweise darauf, dass bei Alzheimer-Patienten die Funktion des Septums gestört ist. Auch der Botenstoff Acetylcholin spielt bei der Alzheimer-Krankheit eine zentrale Rolle. (Journal of Neuroscience, 2015; doi: 10.1523/JNEUROSCI.4460-14.2015)
(Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, 03.06.2015 - AKR)
Das Gehirn 'nimmt' nicht 'wahr', sondern interpretiert - und manchmal zu viel.
aus scinexx
Wie Halluzinationen entstehen
Gehirn ergänzt unvollständige Seh-Informationen zu gut
Halluzinationen sind keineswegs die Folge eines "kaputten" Gehirns. Im Gegenteil: Wer solche Trugbilder sieht, bei dem arbeitet das Gehirn sogar zu gut. Es interpretiert mehr in das Gesehene hinein als drinsteckt, wie ein Experiment nun belegt. Das Spannende daran: Der Übergang zwischen dem normalen Ergänzen unvollständiger Seh-Informationen und der Halluzination ist fließend – und keineswegs eine Domäne psychisch kranker Menschen.
Die Informationen, die unsere Augen oder anderen Sinnesorgane wahrnehmen, sind oft unvollständig. "Erst unser Gehirn lässt die Welt entstehen, die wir sehen", erklärt Erstautor Christoph Teufel von der Cardiff University. "Es füllt die Lücken und ignoriert die Dinge, die nicht passen. Dadurch präsentiert es uns ein Bild der Welt, das bereits bearbeitet ist und zu dem passt, was wir erwarten." Diese selbstständige Ergänzung ist auch für optische Täuschungen oder das Funktionieren des Daumenkinos
Teufel und seine Kollegen belegen nun, dass die "Einmi-schung" des Gehirns in unsere Wahrnehmung auch bei Halluzinationen eine entscheidende Rolle spielt. "Ein vorausschauendes Gehirn zu haben ist sehr nützlich – es bedeutet aber auch, dass wir nicht sehr weit davon entfernt sind, Dinge wahrzunehmen, die gar nicht vorhanden sind."
Können Sie erkennen, was dieses Schwarz-Weiß-Bild darstellt?
Schwarz-Weiß-Bilder als Test
Doch die Teilnehmer bekamen Hilfe: Als nächstes zeigten die Forscher ihnen Farbfotos, unter denen auch die Vorlagen für die verfremdeten Schwarz-Weiß-Bilder waren. Die Frage war: Würde das Gehirn der Probanden diese Information nutzen, um später dann die Schwarz-Weiß-Bilder wiederzuerkennen und korrekt zu interpretieren? Tatsächlich verbesserte sich die Trefferquote der Teilnehmer in einem erneuten Durchgang.
Gehirn schmückt zu viel aus
Dabei gab es jedoch auffällige Unterschiede: Die Probanden, die an einer frühen Psychose litten, schnitten etwa doppelt so gut ab wie die Kontrollpersonen. "Sie können offensichtlich das zuvor erworbene Wissen besser abrufen", so die Forscher. Ihrer Ansicht sind Halluzinationen nur eine Folge eines übersteigerten "Einmischens" des Gehirns: Es interpretiert so viel in die visuellen oder akustischen Reize hinein, dass wir Dinge oder Personen zu sehen oder hören glauben, die Wirklichkeit nicht vorhanden sind – wir leiden an einer Halluzination.
Nachdem Sie dieses Farbfoto gesehen haben, dürfte es Ihnen leichter fallen, das obige Schwarz-Weiß-Bild zu enträtseln.
"Das deutet darauf hin, dass diese Symptome und Erfahrungen nicht ein 'kaputtes' Gehirn widerspiegeln, sondern eines, das auf sehr natürliche Weise versucht, sich einen Reim aus den von außen eintreffenden Reizen zu machen", erklärt Koautor Naresh Subramaniam von der University of Cambridge.
Fließender Übergang
Dass der Übergang vom normalen Interpretieren unserer Sinneswahrnehmungen zu krankhaften Halluzinationen dabei fließend sein kann, machte eine Wiederholung des Experiments mit 40 weiteren gesunden Freiwilligen deutlich. Diese schnitten nach dem Sehen der Farbbilder ebenfalls leicht unterschiedlich ab. Am besten konnte dabei diejenigen die Aufgabe lösen, die in einem vorherigen Test der Psychoseanfälligkeit die höchsten Werte erzielt hatten.
"Das zeigt, dass veränderte Wahrnehmungen keineswegs auf Menschen mit psychischen Erkrankungen beschränkt sind", betont Teufel. "Stattdessen sind sie in milderer Form sogar in der gesamten Bevölkerung ziemlich verbreitet. Viele von uns haben vermutlich schon einmal Dinge gesehen oder gehört, die nicht da sind." Nach Ansicht der Forscher bestätigt dies, dass Psychosen nur ein Extrem auf einer fließenden Skala mentaler Zustände sind, zu dem auch die "Normalität" gehört. (Proceedings of the National Academy of Sciences, 2015 doi: 10.1073/pnas.1503916112
(University of Cambridge, 13.10.2015 - NPO)
Wie Halluzinationen entstehen
Gehirn ergänzt unvollständige Seh-Informationen zu gut
Halluzinationen sind keineswegs die Folge eines "kaputten" Gehirns. Im Gegenteil: Wer solche Trugbilder sieht, bei dem arbeitet das Gehirn sogar zu gut. Es interpretiert mehr in das Gesehene hinein als drinsteckt, wie ein Experiment nun belegt. Das Spannende daran: Der Übergang zwischen dem normalen Ergänzen unvollständiger Seh-Informationen und der Halluzination ist fließend – und keineswegs eine Domäne psychisch kranker Menschen.
Die Informationen, die unsere Augen oder anderen Sinnesorgane wahrnehmen, sind oft unvollständig. "Erst unser Gehirn lässt die Welt entstehen, die wir sehen", erklärt Erstautor Christoph Teufel von der Cardiff University. "Es füllt die Lücken und ignoriert die Dinge, die nicht passen. Dadurch präsentiert es uns ein Bild der Welt, das bereits bearbeitet ist und zu dem passt, was wir erwarten." Diese selbstständige Ergänzung ist auch für optische Täuschungen oder das Funktionieren des Daumenkinos
Teufel und seine Kollegen belegen nun, dass die "Einmi-schung" des Gehirns in unsere Wahrnehmung auch bei Halluzinationen eine entscheidende Rolle spielt. "Ein vorausschauendes Gehirn zu haben ist sehr nützlich – es bedeutet aber auch, dass wir nicht sehr weit davon entfernt sind, Dinge wahrzunehmen, die gar nicht vorhanden sind."
Können Sie erkennen, was dieses Schwarz-Weiß-Bild darstellt?
Schwarz-Weiß-Bilder als Test
Um das zu prüfen, zeigten die Forscher 18 Versuchsper-sonen im Frühstadium einer Psychose und 16 gesunden Menschen eine Reihe von halbabstrakten, unvollstän-digen Schwarz-Weiß-Bildern, ähnlich dem oben gezeig-ten. Die Probanden sollten angeben, auf welchen Bildern ein Mensch zu erkennen war und auf welchen nicht – eine nahezu unmögliche Aufgabe.
Doch die Teilnehmer bekamen Hilfe: Als nächstes zeigten die Forscher ihnen Farbfotos, unter denen auch die Vorlagen für die verfremdeten Schwarz-Weiß-Bilder waren. Die Frage war: Würde das Gehirn der Probanden diese Information nutzen, um später dann die Schwarz-Weiß-Bilder wiederzuerkennen und korrekt zu interpretieren? Tatsächlich verbesserte sich die Trefferquote der Teilnehmer in einem erneuten Durchgang.
Gehirn schmückt zu viel aus
Dabei gab es jedoch auffällige Unterschiede: Die Probanden, die an einer frühen Psychose litten, schnitten etwa doppelt so gut ab wie die Kontrollpersonen. "Sie können offensichtlich das zuvor erworbene Wissen besser abrufen", so die Forscher. Ihrer Ansicht sind Halluzinationen nur eine Folge eines übersteigerten "Einmischens" des Gehirns: Es interpretiert so viel in die visuellen oder akustischen Reize hinein, dass wir Dinge oder Personen zu sehen oder hören glauben, die Wirklichkeit nicht vorhanden sind – wir leiden an einer Halluzination.
Nachdem Sie dieses Farbfoto gesehen haben, dürfte es Ihnen leichter fallen, das obige Schwarz-Weiß-Bild zu enträtseln.
"Das deutet darauf hin, dass diese Symptome und Erfahrungen nicht ein 'kaputtes' Gehirn widerspiegeln, sondern eines, das auf sehr natürliche Weise versucht, sich einen Reim aus den von außen eintreffenden Reizen zu machen", erklärt Koautor Naresh Subramaniam von der University of Cambridge.
Fließender Übergang
Dass der Übergang vom normalen Interpretieren unserer Sinneswahrnehmungen zu krankhaften Halluzinationen dabei fließend sein kann, machte eine Wiederholung des Experiments mit 40 weiteren gesunden Freiwilligen deutlich. Diese schnitten nach dem Sehen der Farbbilder ebenfalls leicht unterschiedlich ab. Am besten konnte dabei diejenigen die Aufgabe lösen, die in einem vorherigen Test der Psychoseanfälligkeit die höchsten Werte erzielt hatten.
"Das zeigt, dass veränderte Wahrnehmungen keineswegs auf Menschen mit psychischen Erkrankungen beschränkt sind", betont Teufel. "Stattdessen sind sie in milderer Form sogar in der gesamten Bevölkerung ziemlich verbreitet. Viele von uns haben vermutlich schon einmal Dinge gesehen oder gehört, die nicht da sind." Nach Ansicht der Forscher bestätigt dies, dass Psychosen nur ein Extrem auf einer fließenden Skala mentaler Zustände sind, zu dem auch die "Normalität" gehört. (Proceedings of the National Academy of Sciences, 2015 doi: 10.1073/pnas.1503916112
(University of Cambridge, 13.10.2015 - NPO)
Ist das Konnektom eine Schablone?
aus nzz.ch, 7. 11. 2015
Konnektomforschung
Die Entschlüsselung des Denkens
Der Hirnforscher Winfried Denk plant, ein komplettes Schaltdiagramm des Mausgehirns zu erstellen. Er hofft, damit die Rechenprinzipien des Hirns zu ergründen.
Interview von Fabienne Hübener
Herr Denk, Sie wollen das gesamte Netzwerk eines Mausgehirns entziffern. Was soll uns das bringen?
Nur so wird man in den Neurowissenschaften weiterkommen. Wir können Gehirnfunktionen nicht verstehen, wenn wir uns nur isolierte Schaltkreise anschauen, wie es im Moment geschieht. Wir brauchen das Verschaltungsdiagramm des gesamten Gehirns, das sogenannte Konnektom. Das Fehlen solcher Diagramme ist der Flaschenhals der modernen Neurowissenschaften.
Mit der von Ihnen entwickelten Zwei-Photonen-Mikroskopie können Sie Nervenzellen beim Feuern zuschauen. Das klingt spannender als Ihr derzeitiger Plan, Mausgehirne in Scheibchen mit einem Elektronenmikroskop abzubilden und nachher die Routen der Nervenzellen zu verfolgen. Warum haben Sie die Methode gewechselt?
Tatsächlich kann man mit dem Zwei-Photonen-Mikroskop dem Gehirn beim Denken zusehen. Man hört das Ploppen, wenn die Neuronen feuern, und sieht auf dem Monitor, wie die Nervenzellen aufleuchten – eine sehr befriedigende Arbeit. Aber die Frage ist doch: Warum feuert eine Nervenzelle gerade jetzt? Jede Zelle bekommt Informationen von Tausenden anderen Zellen und trifft dann eine Entscheidung: feuern oder nicht feuern. Nur wenn ich diese Verbindungen kenne, kann ich verstehen, warum eine Zelle unter bestimmten Umständen aktiv wird. So, wie ein Ingenieur beim Betrachten einer Konstruktionszeichnung bereits die arbeitende Maschine vor sich sieht, wird uns das Verknüpfungsdiagramm erlauben, Rückschlüsse auf die Funktionsweise des Schaltkreises zu ziehen. Um das Verbindungsdiagramm zu entziffern, brauche ich Bilder des Gehirns mit einer Auflösung, wie sie bis jetzt nur ein Elektronenmikroskop erreicht.
Wie weit sind Sie mit der Entschlüsselung des Mausgehirns?
Ich schätze, die Optimierung der Geräte wird noch ein paar Jahre dauern. Steht die Technik, können wir die Rohdaten innerhalb von zwei Jahren haben. Dann fängt die eigentliche Entschlüsselung an.
Wer soll die gigantische Datenmenge analysieren?
Im Moment müssen die Daten noch von Menschen analysiert werden. Ich gehe jedoch davon aus, dass die Veröffentlichung des Datensatzes einen so starken Reiz ausübt, dass Informatiker anfangen werden, automatische Analysemethoden zu entwickeln. Im besten Fall analysiert sich der Datensatz damit quasi von alleine. Aber vielleicht bin ich da auch etwas zu naiv.
Kann man Aktivität oder Funktionen mithilfe eines statischen Bilds, eben des Konnektoms, untersuchen? Das Konnektom des Fadenwurms Caenorhabditis elegans ist zum Beispiel schon lange bekannt, doch fehlt ein komplettes Modell, wie sich der Wurm fortbewegt.
Um ausgehend von der Struktur das Verhalten eines Systems vorherzusagen, muss man die dynamischen Eigenschaften der einzelnen Schaltelemente kennen, in diesem Fall der Zellen und ihrer Verbindungen, der Synapsen. Das könnte beim Mausgehirn sogar eher der Fall sein als beim Wurm, da sich weitaus mehr Neurowissenschafter mit dem Mausgehirn beschäftigen. Die Eigenschaften der Schaltelemente sind daher besser verstanden als bei C. elegans.
Was muss die Maus haben, deren Konnektom Sie aufdecken?
Da Labormäuse praktisch nichts für ihr Futter tun müssen, wird ihr Gehirn wenig gefordert. Vielleicht machen wir eine Art Mäuse-Olympiade, und die klügste Maus gewinnt. Letztlich wird man auch die Schaltpläne beider Geschlechter brauchen, schon, um sich die Unterschiede genau anzuschauen.
Welche Kritik macht Ihnen am meisten zu schaffen?
Die Kritik, es sei technisch unmöglich, spornt mich nur an. Die Kritik, wir hätten nicht genug Speicherplatz für unsere Daten, wird mit jedem Monat hinfälliger. Eine Kritik, die ich ernst nehme, aber kaum höre: Würde man wirklich verstehen, wie die Gene die Entwicklung der neuronalen Verschaltungen kontrollieren, wäre die Suche nach dem Konnektom und damit meine Arbeit überflüssig. Die Prinzipien des Denkens sind vererbt und werden nicht von jeder Generation neu erfunden.
Aber ein Grossteil der Verschaltungen entsteht durch Erfahrung. Kennen wir die beteiligten Gene, kennen wir doch immer nur einen Teil der Verschaltungen.
Sicher, zum Denken gehört auch das Gedächtnis. Aus Sicht des Neurobiologen ist jedoch vor allem das Prinzip der Gedächtnisspeicherung interessant, weniger das, an was sich eine bestimmte Maus genau erinnert. Die Prinzipien dieser Speicherung sind einfacher zu beschreiben als die Gedächtnisinhalte. Ich denke dabei an Gleichungen in der Mathematik und Physik, die mit wenigen Zeichen komplexe Phänomene beschreiben. Ganz so einfach wird es nicht sein, die Prinzipien des Denkens zusammenzufassen. Aber die Beschreibung wird viel weniger Bits benötigen als der Schaltplan eines bestimmten Gehirns.
Die Vorstellung ist ernüchternd, unser Gehirn liesse sich auf ein paar simple Prinzipien zurückführen.
Die Natur zu verstehen, bedeutet auch, sie zu entmystifizieren. Das macht sie jedoch nicht weniger grossartig. Es ist das Schöne an der Physik, dass sich mit ihr komplexe Phänomene auf einfachste Regeln zurückführen lassen. Das wird beim Gehirn nicht anders sein. Manche befürchten, die Entschlüsselung des Denkens könne dem Menschen seine Würde nehmen. Diese Sorge teile ich nicht.
Gibt es bereits Daten aus der Konnektomforschung, die etwas über Gehirnfunktionen aussagen?
Durchaus! Nehmen wir eine Zelle in der Netzhaut, die richtungsselektive Ganglienzelle. Bewegt sich das Bild auf der Netzhaut in die eine Richtung, feuert die Zelle. Bewegt es sich in die andere Richtung, wird die Aktivität unterdrückt. Erfolgt die Bewegung in einem rechten Winkel dazu, passiert nichts. Wie entsteht diese Reaktion, die so entscheidend zu unserem Sehen beiträgt? Entschlüsselt die Zelle selber die Richtung, oder erledigen das schon andere Zellen vor ihr? Das klingt nach einer einfachen Frage, war aber jahrzehntelang ein ungelöstes Rätsel der Hirnforschung. Mithilfe der Konnektomforschung haben wir herausgefunden, dass die Ganglienzelle nur Verknüpfungen mit bestimmten vorgeschalteten Zellen «zulässt» und dadurch richtungsselektiv wird. Es wäre kaum möglich gewesen, das mit einer anderen Methode herauszufinden. Allerdings gibt es bis heute weniger Erfolgsmeldungen, als mir lieb ist. Das liegt daran, dass wir nur kleine Stückchen des Konnektoms kennen. Daher will ich den ganzen Schaltplan eines Mausgehirns vor mir haben. Dann können wir die Logik hinter den Verschaltungen verstehen, davon bin ich überzeugt.
Wie repräsentativ ist das Konnektom eines einzelnen Mausgehirns?
Das wissen wir noch nicht. Aber wir wissen, dass Gehirne verschiedener Mäuse ähnliche Fähigkeiten besitzen, zumindest, wenn diese nahe verwandt sind. Das beruht vermutlich auf der Ähnlichkeit der zugrundeliegenden Rechenprozesse im Gehirn. Die Variabilität des Konnektoms von Maus zu Maus ist zwar interessant, aber für das Entdecken der Rechenprinzipien wahrscheinlich nicht so wichtig. Der Schlüssel zum wissenschaftlichen Fortschritt liegt oft darin, manche Informationen – zumindest zeitweise – wegzulassen.
Könnte man das Verschaltungsdiagramm nutzen, um es über Aktivitätsmuster, die man in anderen Studien gewonnen hat, zu legen?
Das könnte bis zu einem gewissen Grad möglich sein. Der Schaltplan wird schon während seiner Entstehung frei zugänglich sein. Jeder Wissenschafter kann dann selbst entscheiden, wie er die Informationen verwendet. Ziel ist jedoch, die mit den verschiedenen Methoden gewonnenen Einsichten miteinander zu vergleichen und nicht einfach die Daten zu überlagern.
Sie zerbrechen sich das Gehirn über das Mauskonnektom. Die Verantwortlichen des mit einer Milliarde Euro dotierten Human Brain Project wollen gleich ein ganzes menschliches Gehirn simulieren. Ist das machbar?
Wie will man etwas simulieren, dessen Struktur man nicht kennt? In meinen Augen ist das Projekt eine Fehlallokation von Forschungsgeldern. Ich bin mir zudem nicht sicher, ob die Neurowissenschaften schon reif für ein echtes Grossprojekt sind. Dafür sollte man schon genauer wissen, was am Ende herauskommt. Das war etwa beim Human-Genom-Projekt oder beim Teilchenbeschleuniger Cern der Fall. Die wahren Erfolge der Neurowissenschaft kommen bis anhin noch aus kleinen Forschergruppen, die von Neugier und Risikofreude getrieben sind. Wir müssen noch scheitern dürfen.
Immerhin veröffentlichte das Human-Brain-Projekt-Team um Henry Markram kürzlich erstmals Ergebnisse, die belegen, dass sich ein Stück Rattengehirn tatsächlich im Computer simulieren lässt.
Ich begrüsse natürlich die Veröffentlichung, aber die Ergebnisse ändern nichts an meiner grundsätzlichen Meinung zum Human Brain Project.
Ein Science-Fiction-Autor braucht Ideen für einen Roman. Was fällt Ihnen ein?
Stellen Sie sich vor, man könnte in 100 Jahren mithilfe von Konnektomdaten ein gestorbenes Gehirn wiederaufleben lassen. Das wirft romanfüllende moralische und philosophische Fragen auf.
Winfried Denk ist Biophysiker und Hirnforscher. Seit 2011 ist er Direktor des Max-Planck-Instituts für Neurobiologie in Martinsried, Deutschland.
Nota. - Ich habs mehrmals durchgesehen: Die Frage, wie aufschlussreich ein Mäusehirn für das Denken sein möchte, hat sie tatsächlich nicht gestellt. Er meint aber gar nicht denken; er meint verschalten: "Sicher, zum Denken gehört auch das Gedächtnis. Aus Sicht des Neurobiologen ist jedoch vor allem das Prinzip der Gedächtnisspeicherung interessant, weniger das, an was sich eine bestimmte Maus genau erinnert."
Sicher, zum Denken gehört auch das, was gedacht wird. Den Konnektomforscher interessiert aber eher, wie es gespeichert wird. Und zu dem Behuf setzt er einfach mal voraus, dass das, was gespeichert ist, gleich-gültig ist dafür, wie es gespeichert wird. Als heuristische Arbeitserleichterung mag das zweckmäßig sein, wenn sich's der Laie auch schlecht vorstellen kann.
Doch "andersrum wird ein Schuh draus": Worauf es beim Denken ankommt, ist ja nicht, dass man die Sinngehalte ablegen, sondern... dass man sie wiederfinden kann, nämlich wenn man sie zu etwas brauchen will. Das Wozu-man-sie-braucht bedingt offenkundig, wie man sie sucht. Und wie man sie sucht, bedingt, ob und wie man sie findet. Wenn man das Speichern vielleicht als einen rein formal beschreibbaren Schaltkreis auffassen kann, dann doch aber ganz sicher nicht das Wiederfinden.
Hat eine Maus Zwecke, um deretwillen sie nach Erinnerungen sucht? Denkt die Maus? Mir schwirrt der Kopf. Ob seine Mauseforschung womöglich auch eine Fehlallokation von Mitteln ist?
JE
Das Gehirn hat weit schnelleren Zugriff auf Erinnerungen als gedacht
Statt der biblischen Zeitspanne von etwa einer halben Sekunde reichen schon 100 bis 200 Millisekunden
Bochum – Erinnerungen an Erlebtes kann das Gehirn offenbar weit schneller abrufen als bisher angenommen: Die sensorischen Hirnbereiche werden binnen 100 bis 200 Millisekunden aktiv, berichten Neurowissenschafter der Universitäten Konstanz und Birmingham nach einer Reihe von Experimenten im "Journal of Neuroscience".
Hintergrund
Bei Erinnerungen an Erlebtes sind im Gehirn zum großen Teil dieselben Areale aktiv wie beim Abspeichern dieser Erlebnisse. Jede episodische Erinnerung ist einzigartig und an einen bestimmten Ort und Zeitpunkt gebunden. Im Erinnerungsprozess werden die Sinnesinformationen reaktiviert – also zum Beispiel Areale des Sehsinns wieder aktiv. Angenommen wurde, dass das Gehirn länger nach Erinnerungen im Hippocampus suchen müsse.
"Wir gingen bisher von etwa einer halben Sekunde aus. Das ist in den Dimensionen der Gehirntätigkeit sehr lang", sagte Gerd Waldhauser, der inzwischen an der Ruhr-Universität Bochum forscht. Doch er kam mit seinen Kollegen auf ein Fünftel bis weniger als die Hälfte.
Die Untersuchung
Die Wissenschafter baten Probanden zunächst, sich bestimmte Objekte möglichst genau einzuprägen. Später wurden die Erinnerungen wieder abgefragt. Als Analysemethode wurde die Elektroenzephalografie (EEG) verwendet, bei der aus Spannungsschwankungen an der Kopfoberfläche mit hoher zeitlicher Auflösung auf die Aktivität einzelner Hirnbereiche geschlossen werden kann. "Man hat gedacht, dass das Gehirn eine Weile braucht, um im Hippocampus – einer wichtigen Region für das Langzeitgedächtnis – danach zu suchen", erklärte Simon Hanslmayr von der Universität Birmingham. "Unsere Ergebnisse rütteln an dieser Vorstellung, denn sie zeigen eine sehr schnelle Reaktion des Gehirns." Erste Hinweise darauf hätten zuvor bereits andere Studien ergeben.
Episodisches und semantisches Gedächtnis
Gerade diese frühen [?] Prozesse seien entscheidend für das erfolgreiche Erinnern an ein Geschehen, fanden die Forscher zudem heraus. Hemmten sie die frühe Reaktivierung mit sogenannter transkranieller Magnetstimulation (rTMS), störte das den Abruf der Erinnerungen. "Die Ergebnisse helfen uns, das episodische Gedächtnis, also die Erinnerung an Erlebnisse des Menschen, besser zu verstehen", erklärte Waldhauser. Im Unterschied dazu speichert das semantische Gedächtnis Fakten* – wie zum Beispiel, dass Paris die Hauptstadt von Frankreich ist.
Einen Nutzen könne möglicherweise die Psychiatrie haben, so die Forscher. "Es wäre hilfreich, in den Abruf von Erinnerungen eingreifen zu können, zum Beispiel bei Menschen mit posttraumatischen Belastungsstörungen, die von wiederkehrenden unerwünschten Erinnerungen geplagt werden", so Waldhauser. Womöglich könne man in Zukunft einmal gezielt gegen diese immer wieder auftretenden Bilder vorgehen – allerdings seien zunächst weitere Studien nötig. (APA, red.)
Link
Journal of Neuroscience
*Nota. - Semantisch heißt dieser Teil des Gedächtnisses, weil darin Zeichen - gr. semai - gespeichert sind; nein, eben nicht die Zeichen, sondern ihre Bedeutung, die freilich nur durch Zeichen im Gedächtnis ver-zeichnet werden können. Die Bedeutungen sind ohne Raum und Zeit. Der Weg zu ihnen muss im Gedächt-nis über verwandte Bedeutungen gesucht werden, während die Erinnerungen des episodischen Gedächtnis über ähnliche Bilder aufgefunden werden.
JE
aus spektrum.de, 21.11.2018
Rückwärtslaufen hilft beim Erinnern
Experimente belegen ein kurioses Phänomen: Eine mentale Reise in die Vergangenheit beginnt man am besten mit einem Schritt rückwärts.
Man möchte es für einen Aprilscherz halten, was vier britische Psychologen da gerade im Fachblatt »Cog- nition« veröffentlicht haben. Zumal sie ihr Ergebnis publikumswirksam als »time-travel effect«, also als Zeitreise-Effekt bezeichnen: Rückwärtslaufen helfe dem Gedächtnis auf die Sprünge, so das Team von der University of Roehampton. So merkwürdig das klingt, schließen ihre Experimente doch an jene an, die unter dem Stichwort »Embodied Cognition« schon manche merkwürdige Verbindung zwischen Körper und Geist offenbarten. Sie gründen sich unter anderem auf bekannte Zusammenhänge zwischen Raum und Zeit in Sprache und Denken: Wir sprechen beispielsweise davon, dass künftige Ereignisse »vor der Tür stehen« oder dass wir die Vergangenheit »hinter uns« lassen.
Ob diese Assoziation eine gedankliche Reise in die Vergangenheit und somit sogar das Erinnerungsvermö- gen fördert, untersuchten Aleksandar Aksentijevic und seine Kollegen in einer Reihe von Experimenten. Zunächst bekamen die jeweils etwas mehr als 100 Probandinnen und Probanden entweder einen andert- halbminütigen Videoclip von einem Diebstahl präsentiert, oder sie sollten sich 20 Wörter oder 18 Farb- fotografien merken. Um sie davon ein wenig abzulenken, ließen die Forscher sie danach zehn Minuten lang Sudokus lösen.
Darauf folgte der entscheidende Part, die Bewegung, in etlichen Varianten: Die Versuchspersonen liefen entweder zehn Meter rückwärts oder vorwärts (oder blieben ebenso lang sitzen), und das einmal mit offenen, einmal mit geschlossenen Augen. Ein andermal sollten sie sich die Rückwärtsbewegung lediglich vorstellen oder bekamen ein Video von einem fahrenden Zug vorgespielt, um damit die Illusion einer Rückwärts- oder Vorwärtsbewegung zu erzeugen. Direkt darauf sollten sie in ihrem Gedächtnis kramen und so so viele Wörter beziehungsweise Bilder wie möglich ins Gedächtnis zurückholen oder Fragen zur Filmszene beantworten.
Hatten sie sich real, mittels optischer Illusion oder gedanklich rückwärts bewegt, gaben sie im Schnitt rund zwei richtige Antworten mehr als nach keiner oder nach vorwärts gerichteter Bewegung. Beim Erinnern an Wörter und Bilder zeigten sich vergleichbare statistisch bedeutsame Effekte. Die Autoren schließen daraus, dass das Gedächtnis Erinnerungen räumlich geordnet ablegt, gemäß einem »zeitlichen Index« entlang einer subjektiven Timeline. Sie spekulieren außerdem, dass es eine besondere Assoziation zwischen vorgestellter Bewegung und dem Gedächtnis für dynamische Szenen geben könnte, derart, dass beide einer symmetri- schen Topografie folgen und die vorgestellten Bewegungen so den Abruf erleichtern könnten. »Man kann das Gedächtnis nicht isoliert vom übrigen menschlichen Denken und Erleben betrachten«, denn es sei »un- trennbar mit der Erfahrung der Gegenwart verbunden«.
Eine Verbindung zwischen Denken und Bewegung hat Aksentijevic schon vor einigen Jahren im Zusam- menhang mit dem »psychologischen Doppler-Effekt« untersucht: Offenbar neigen wir dazu, die Zukunft als näher zu empfinden als eine (zeitlich gleich weit entfernte) Vergangenheit. Die Asymmetrie im Erleben, so vermuten auch andere Forscher, könnte in der subjektiven Erfahrung begründet sein, dass wir uns durch die Zeit vorwärts bewegen, wobei sich künftige Ereignisse stets nähern und vergangene von uns entfernen.
Nota. - Haben Sie's bemerkt? Zum Schluss sprechen die Forscher schon nicht mehr von 'Raum', sondern von Bewegung. Die ist nicht bloß Raum und Zeit; sie veranschaulicht auch den Elementarmodus unseres Erlebens: als Tätigkeit (auch das Naturgeschehen wird ursprünglich als deren Tätigkeit aufgefasst). Wenn auch die Gedächtniselemente räumlich zu einander abgelegt sind - aufgesucht werden müssen sie im zeit- lichen Modus: eins nach dem andern; und das kann dauern (weil Räume zu durchmessen sind).
JE
Das Gefühl, die Qual der Wahl zu haben, kann uns in den Wahnsinn treiben. Woher soll man auch wissen, welches der zehn Nudelgerichte im Restaurant am besten schmeckt. Geschweige denn, was nach dem umfangreichen Wocheneinkauf zuerst gekocht werden soll.
Falls du glaubst, dass dieses Wohlstandsproblem erst durch den Massenkonsum in der heutigen Zeit entstanden ist, irrst du dich. Wissenschaftler der Universität Kalifornien stießen nämlich schon vor über 20 Jahren auf das Phänomen der Auswahlüberforderung.
Eigentlich wollten die Psychologen nur beweisen, dass eine große Produktauswahl für Kunden attraktiv ist. Für ihre Studie stellten sie in einem Lebensmittelgeschäft 24 Marmeladengläser zum Probieren zur Verfügung. Im zweiten Durchlauf waren es gerade einmal sechs Marmeladensorten.
Der überfüllte Tisch mit den 24 Marmeladengläsern stieß bei den Kunden auf große Nachfrage, und sie probierten fleißig.
Allerdings waren sie überraschenderweise kaum daran interessiert, etwas zu kaufen. Bei den sechs Sorten hielten zwar weniger Menschen an dem Tisch an, jedoch war es zehnmal wahrscheinlicher, dass sie am Ende ein Glas mitnahmen. Eine zu große Auswahl schien die Menschen also letztendlich abzuschrecken.
Wenn das Gehirn mit einer überwältigenden Anzahl ähnlicher Optionen konfrontiert ist, hat es große Mühe, Entscheidungen zu treffen.
So weit, so gut. Was bei diesem Prozess in dem Gehirn genau vor sich geht, konnte vor 20 Jahren mangels technischer Möglichkeiten nicht genauer untersucht werden.
Colin Camerer, Professor für Verhaltensökonomie am California Institute of Technology, führte deswegen erneut eine Studie durch, um das Phänomen der Wahlüberforderung auf kognitiver Ebene zu untersuchen.
Freiwillige Teilnehmer wählten aus Bildersets mit sechs, zwölf oder 24 Bildern aus, welches Motiv sie auf eine Tasse drucken lassen wollen. Während sie ihre endgültige Entscheidung trafen, zeichnete eine funktionelle Magnetresonanztomografie-Maschine die Gehirnaktivität auf. Dabei stießen die Psychologen auf eine besonders hohe Aktivität in zwei Regionen des Gehirns.
Neben dem vorderen Teil des cingulären Cortex, der potenzielle Kosten und Nutzen von Entscheidungen abwiegt, war auch das Striatum, das für Wertebestimmung verantwortlich ist, beim Treffen der Entscheidung aktiv beteiligt.
In den beiden Gehirnregionen zeigte sich die höchste Aktivität, als zwölf Bilder zur Auswahl standen. Bei den sechs und 24 Bildersets waren sie dagegen nicht besonders aktiv.
Die zwei Gehirnregionen wägen gemeinsam das zunehmende Potenzial für Belohnung gegen die Arbeitsmenge ab, die das Gehirn tun muss, um mögliche Ergebnisse zu bewerten. Steigt die Anzahl der Optionen, erhöht sich auch die potenzielle Belohnung. Allerdings pendelt sich diese bei steigenden Auswahlmöglichkeiten ein.
Der Aufwand, die vorhandenen Möglichkeiten zu bewerten, steigt nämlich mit zunehmender Anzahl der Optionen. Unser Gehirn muss also einen Ausgleich zwischen mentalen Anstrengungen und möglichen Belohnungen finden. Schließlich soll am Ende die Belohnung nicht zu niedrig und Anstrengung nicht zu hoch sein.
Von einer zu großen Auswahl profitieren wir demnach nicht. Es wird eher die Gehirnfähigkeit behindert, eine Entscheidung zu treffen.
Die Verhaltenspsychologen schätzen, dass die ideale Anzahl von Optionen zwischen acht und 15 liegt, damit wir uns einigermaßen gut entscheiden können. Natürlich spielt dabei die wahrgenommene Belohnung und die Bewertungsschwierigkeit eine Rolle.
Nota. - Bin das schon ich, oder ist das erst noch mein Hirn? - Immerhin läuft es auf dasselbe hinaus. Die Abwägung zwischen nötigem Aufwand und möglichem Gewinn müsste ich vernünftigerweise ja selber auch treffen, doch das Hirn "hat darin mehr Erfahrung" als meine Verunft, es wägt schneller ab. Aber Ich werde ich in eminentem Sinn, indem ich meinem Gehirn ja stets gewissermaßen auf die Finger schaue: Ist das alles richtig? Und ich kann jederzeit Halt! rufen - und mir vornehmen, mich doch nochmal etwas gründlicher umzusehen. 'Ich' sind wir eigentlich immer nur beide zusammen; einen von beiden allein gibt es in Wahrheit nicht.
JE
Konnektomforschung
Die Entschlüsselung des Denkens
Der Hirnforscher Winfried Denk plant, ein komplettes Schaltdiagramm des Mausgehirns zu erstellen. Er hofft, damit die Rechenprinzipien des Hirns zu ergründen.
Interview von Fabienne Hübener
Herr Denk, Sie wollen das gesamte Netzwerk eines Mausgehirns entziffern. Was soll uns das bringen?
Nur so wird man in den Neurowissenschaften weiterkommen. Wir können Gehirnfunktionen nicht verstehen, wenn wir uns nur isolierte Schaltkreise anschauen, wie es im Moment geschieht. Wir brauchen das Verschaltungsdiagramm des gesamten Gehirns, das sogenannte Konnektom. Das Fehlen solcher Diagramme ist der Flaschenhals der modernen Neurowissenschaften.
Mit der von Ihnen entwickelten Zwei-Photonen-Mikroskopie können Sie Nervenzellen beim Feuern zuschauen. Das klingt spannender als Ihr derzeitiger Plan, Mausgehirne in Scheibchen mit einem Elektronenmikroskop abzubilden und nachher die Routen der Nervenzellen zu verfolgen. Warum haben Sie die Methode gewechselt?
Tatsächlich kann man mit dem Zwei-Photonen-Mikroskop dem Gehirn beim Denken zusehen. Man hört das Ploppen, wenn die Neuronen feuern, und sieht auf dem Monitor, wie die Nervenzellen aufleuchten – eine sehr befriedigende Arbeit. Aber die Frage ist doch: Warum feuert eine Nervenzelle gerade jetzt? Jede Zelle bekommt Informationen von Tausenden anderen Zellen und trifft dann eine Entscheidung: feuern oder nicht feuern. Nur wenn ich diese Verbindungen kenne, kann ich verstehen, warum eine Zelle unter bestimmten Umständen aktiv wird. So, wie ein Ingenieur beim Betrachten einer Konstruktionszeichnung bereits die arbeitende Maschine vor sich sieht, wird uns das Verknüpfungsdiagramm erlauben, Rückschlüsse auf die Funktionsweise des Schaltkreises zu ziehen. Um das Verbindungsdiagramm zu entziffern, brauche ich Bilder des Gehirns mit einer Auflösung, wie sie bis jetzt nur ein Elektronenmikroskop erreicht.
Wie weit sind Sie mit der Entschlüsselung des Mausgehirns?
Ich schätze, die Optimierung der Geräte wird noch ein paar Jahre dauern. Steht die Technik, können wir die Rohdaten innerhalb von zwei Jahren haben. Dann fängt die eigentliche Entschlüsselung an.
Wer soll die gigantische Datenmenge analysieren?
Im Moment müssen die Daten noch von Menschen analysiert werden. Ich gehe jedoch davon aus, dass die Veröffentlichung des Datensatzes einen so starken Reiz ausübt, dass Informatiker anfangen werden, automatische Analysemethoden zu entwickeln. Im besten Fall analysiert sich der Datensatz damit quasi von alleine. Aber vielleicht bin ich da auch etwas zu naiv.
Kann man Aktivität oder Funktionen mithilfe eines statischen Bilds, eben des Konnektoms, untersuchen? Das Konnektom des Fadenwurms Caenorhabditis elegans ist zum Beispiel schon lange bekannt, doch fehlt ein komplettes Modell, wie sich der Wurm fortbewegt.
Um ausgehend von der Struktur das Verhalten eines Systems vorherzusagen, muss man die dynamischen Eigenschaften der einzelnen Schaltelemente kennen, in diesem Fall der Zellen und ihrer Verbindungen, der Synapsen. Das könnte beim Mausgehirn sogar eher der Fall sein als beim Wurm, da sich weitaus mehr Neurowissenschafter mit dem Mausgehirn beschäftigen. Die Eigenschaften der Schaltelemente sind daher besser verstanden als bei C. elegans.
Was muss die Maus haben, deren Konnektom Sie aufdecken?
Da Labormäuse praktisch nichts für ihr Futter tun müssen, wird ihr Gehirn wenig gefordert. Vielleicht machen wir eine Art Mäuse-Olympiade, und die klügste Maus gewinnt. Letztlich wird man auch die Schaltpläne beider Geschlechter brauchen, schon, um sich die Unterschiede genau anzuschauen.
Welche Kritik macht Ihnen am meisten zu schaffen?
Die Kritik, es sei technisch unmöglich, spornt mich nur an. Die Kritik, wir hätten nicht genug Speicherplatz für unsere Daten, wird mit jedem Monat hinfälliger. Eine Kritik, die ich ernst nehme, aber kaum höre: Würde man wirklich verstehen, wie die Gene die Entwicklung der neuronalen Verschaltungen kontrollieren, wäre die Suche nach dem Konnektom und damit meine Arbeit überflüssig. Die Prinzipien des Denkens sind vererbt und werden nicht von jeder Generation neu erfunden.
Aber ein Grossteil der Verschaltungen entsteht durch Erfahrung. Kennen wir die beteiligten Gene, kennen wir doch immer nur einen Teil der Verschaltungen.
Sicher, zum Denken gehört auch das Gedächtnis. Aus Sicht des Neurobiologen ist jedoch vor allem das Prinzip der Gedächtnisspeicherung interessant, weniger das, an was sich eine bestimmte Maus genau erinnert. Die Prinzipien dieser Speicherung sind einfacher zu beschreiben als die Gedächtnisinhalte. Ich denke dabei an Gleichungen in der Mathematik und Physik, die mit wenigen Zeichen komplexe Phänomene beschreiben. Ganz so einfach wird es nicht sein, die Prinzipien des Denkens zusammenzufassen. Aber die Beschreibung wird viel weniger Bits benötigen als der Schaltplan eines bestimmten Gehirns.
Die Vorstellung ist ernüchternd, unser Gehirn liesse sich auf ein paar simple Prinzipien zurückführen.
Die Natur zu verstehen, bedeutet auch, sie zu entmystifizieren. Das macht sie jedoch nicht weniger grossartig. Es ist das Schöne an der Physik, dass sich mit ihr komplexe Phänomene auf einfachste Regeln zurückführen lassen. Das wird beim Gehirn nicht anders sein. Manche befürchten, die Entschlüsselung des Denkens könne dem Menschen seine Würde nehmen. Diese Sorge teile ich nicht.
Gibt es bereits Daten aus der Konnektomforschung, die etwas über Gehirnfunktionen aussagen?
Durchaus! Nehmen wir eine Zelle in der Netzhaut, die richtungsselektive Ganglienzelle. Bewegt sich das Bild auf der Netzhaut in die eine Richtung, feuert die Zelle. Bewegt es sich in die andere Richtung, wird die Aktivität unterdrückt. Erfolgt die Bewegung in einem rechten Winkel dazu, passiert nichts. Wie entsteht diese Reaktion, die so entscheidend zu unserem Sehen beiträgt? Entschlüsselt die Zelle selber die Richtung, oder erledigen das schon andere Zellen vor ihr? Das klingt nach einer einfachen Frage, war aber jahrzehntelang ein ungelöstes Rätsel der Hirnforschung. Mithilfe der Konnektomforschung haben wir herausgefunden, dass die Ganglienzelle nur Verknüpfungen mit bestimmten vorgeschalteten Zellen «zulässt» und dadurch richtungsselektiv wird. Es wäre kaum möglich gewesen, das mit einer anderen Methode herauszufinden. Allerdings gibt es bis heute weniger Erfolgsmeldungen, als mir lieb ist. Das liegt daran, dass wir nur kleine Stückchen des Konnektoms kennen. Daher will ich den ganzen Schaltplan eines Mausgehirns vor mir haben. Dann können wir die Logik hinter den Verschaltungen verstehen, davon bin ich überzeugt.
Wie repräsentativ ist das Konnektom eines einzelnen Mausgehirns?
Das wissen wir noch nicht. Aber wir wissen, dass Gehirne verschiedener Mäuse ähnliche Fähigkeiten besitzen, zumindest, wenn diese nahe verwandt sind. Das beruht vermutlich auf der Ähnlichkeit der zugrundeliegenden Rechenprozesse im Gehirn. Die Variabilität des Konnektoms von Maus zu Maus ist zwar interessant, aber für das Entdecken der Rechenprinzipien wahrscheinlich nicht so wichtig. Der Schlüssel zum wissenschaftlichen Fortschritt liegt oft darin, manche Informationen – zumindest zeitweise – wegzulassen.
Könnte man das Verschaltungsdiagramm nutzen, um es über Aktivitätsmuster, die man in anderen Studien gewonnen hat, zu legen?
Das könnte bis zu einem gewissen Grad möglich sein. Der Schaltplan wird schon während seiner Entstehung frei zugänglich sein. Jeder Wissenschafter kann dann selbst entscheiden, wie er die Informationen verwendet. Ziel ist jedoch, die mit den verschiedenen Methoden gewonnenen Einsichten miteinander zu vergleichen und nicht einfach die Daten zu überlagern.
Sie zerbrechen sich das Gehirn über das Mauskonnektom. Die Verantwortlichen des mit einer Milliarde Euro dotierten Human Brain Project wollen gleich ein ganzes menschliches Gehirn simulieren. Ist das machbar?
Wie will man etwas simulieren, dessen Struktur man nicht kennt? In meinen Augen ist das Projekt eine Fehlallokation von Forschungsgeldern. Ich bin mir zudem nicht sicher, ob die Neurowissenschaften schon reif für ein echtes Grossprojekt sind. Dafür sollte man schon genauer wissen, was am Ende herauskommt. Das war etwa beim Human-Genom-Projekt oder beim Teilchenbeschleuniger Cern der Fall. Die wahren Erfolge der Neurowissenschaft kommen bis anhin noch aus kleinen Forschergruppen, die von Neugier und Risikofreude getrieben sind. Wir müssen noch scheitern dürfen.
Immerhin veröffentlichte das Human-Brain-Projekt-Team um Henry Markram kürzlich erstmals Ergebnisse, die belegen, dass sich ein Stück Rattengehirn tatsächlich im Computer simulieren lässt.
Ich begrüsse natürlich die Veröffentlichung, aber die Ergebnisse ändern nichts an meiner grundsätzlichen Meinung zum Human Brain Project.
Ein Science-Fiction-Autor braucht Ideen für einen Roman. Was fällt Ihnen ein?
Stellen Sie sich vor, man könnte in 100 Jahren mithilfe von Konnektomdaten ein gestorbenes Gehirn wiederaufleben lassen. Das wirft romanfüllende moralische und philosophische Fragen auf.
Winfried Denk ist Biophysiker und Hirnforscher. Seit 2011 ist er Direktor des Max-Planck-Instituts für Neurobiologie in Martinsried, Deutschland.
Nota. - Ich habs mehrmals durchgesehen: Die Frage, wie aufschlussreich ein Mäusehirn für das Denken sein möchte, hat sie tatsächlich nicht gestellt. Er meint aber gar nicht denken; er meint verschalten: "Sicher, zum Denken gehört auch das Gedächtnis. Aus Sicht des Neurobiologen ist jedoch vor allem das Prinzip der Gedächtnisspeicherung interessant, weniger das, an was sich eine bestimmte Maus genau erinnert."
Sicher, zum Denken gehört auch das, was gedacht wird. Den Konnektomforscher interessiert aber eher, wie es gespeichert wird. Und zu dem Behuf setzt er einfach mal voraus, dass das, was gespeichert ist, gleich-gültig ist dafür, wie es gespeichert wird. Als heuristische Arbeitserleichterung mag das zweckmäßig sein, wenn sich's der Laie auch schlecht vorstellen kann.
Doch "andersrum wird ein Schuh draus": Worauf es beim Denken ankommt, ist ja nicht, dass man die Sinngehalte ablegen, sondern... dass man sie wiederfinden kann, nämlich wenn man sie zu etwas brauchen will. Das Wozu-man-sie-braucht bedingt offenkundig, wie man sie sucht. Und wie man sie sucht, bedingt, ob und wie man sie findet. Wenn man das Speichern vielleicht als einen rein formal beschreibbaren Schaltkreis auffassen kann, dann doch aber ganz sicher nicht das Wiederfinden.
Hat eine Maus Zwecke, um deretwillen sie nach Erinnerungen sucht? Denkt die Maus? Mir schwirrt der Kopf. Ob seine Mauseforschung womöglich auch eine Fehlallokation von Mitteln ist?
JE
Semantisches und episodisches Gedächtnis.
aus derStandard.at, 6. Jänner 2016, 05:30
Das Gehirn hat weit schnelleren Zugriff auf Erinnerungen als gedacht
Statt der biblischen Zeitspanne von etwa einer halben Sekunde reichen schon 100 bis 200 Millisekunden
Bochum – Erinnerungen an Erlebtes kann das Gehirn offenbar weit schneller abrufen als bisher angenommen: Die sensorischen Hirnbereiche werden binnen 100 bis 200 Millisekunden aktiv, berichten Neurowissenschafter der Universitäten Konstanz und Birmingham nach einer Reihe von Experimenten im "Journal of Neuroscience".
Hintergrund
Bei Erinnerungen an Erlebtes sind im Gehirn zum großen Teil dieselben Areale aktiv wie beim Abspeichern dieser Erlebnisse. Jede episodische Erinnerung ist einzigartig und an einen bestimmten Ort und Zeitpunkt gebunden. Im Erinnerungsprozess werden die Sinnesinformationen reaktiviert – also zum Beispiel Areale des Sehsinns wieder aktiv. Angenommen wurde, dass das Gehirn länger nach Erinnerungen im Hippocampus suchen müsse.
"Wir gingen bisher von etwa einer halben Sekunde aus. Das ist in den Dimensionen der Gehirntätigkeit sehr lang", sagte Gerd Waldhauser, der inzwischen an der Ruhr-Universität Bochum forscht. Doch er kam mit seinen Kollegen auf ein Fünftel bis weniger als die Hälfte.
Die Untersuchung
Die Wissenschafter baten Probanden zunächst, sich bestimmte Objekte möglichst genau einzuprägen. Später wurden die Erinnerungen wieder abgefragt. Als Analysemethode wurde die Elektroenzephalografie (EEG) verwendet, bei der aus Spannungsschwankungen an der Kopfoberfläche mit hoher zeitlicher Auflösung auf die Aktivität einzelner Hirnbereiche geschlossen werden kann. "Man hat gedacht, dass das Gehirn eine Weile braucht, um im Hippocampus – einer wichtigen Region für das Langzeitgedächtnis – danach zu suchen", erklärte Simon Hanslmayr von der Universität Birmingham. "Unsere Ergebnisse rütteln an dieser Vorstellung, denn sie zeigen eine sehr schnelle Reaktion des Gehirns." Erste Hinweise darauf hätten zuvor bereits andere Studien ergeben.
Episodisches und semantisches Gedächtnis
Gerade diese frühen [?] Prozesse seien entscheidend für das erfolgreiche Erinnern an ein Geschehen, fanden die Forscher zudem heraus. Hemmten sie die frühe Reaktivierung mit sogenannter transkranieller Magnetstimulation (rTMS), störte das den Abruf der Erinnerungen. "Die Ergebnisse helfen uns, das episodische Gedächtnis, also die Erinnerung an Erlebnisse des Menschen, besser zu verstehen", erklärte Waldhauser. Im Unterschied dazu speichert das semantische Gedächtnis Fakten* – wie zum Beispiel, dass Paris die Hauptstadt von Frankreich ist.
Einen Nutzen könne möglicherweise die Psychiatrie haben, so die Forscher. "Es wäre hilfreich, in den Abruf von Erinnerungen eingreifen zu können, zum Beispiel bei Menschen mit posttraumatischen Belastungsstörungen, die von wiederkehrenden unerwünschten Erinnerungen geplagt werden", so Waldhauser. Womöglich könne man in Zukunft einmal gezielt gegen diese immer wieder auftretenden Bilder vorgehen – allerdings seien zunächst weitere Studien nötig. (APA, red.)
Link
Journal of Neuroscience
*Nota. - Semantisch heißt dieser Teil des Gedächtnisses, weil darin Zeichen - gr. semai - gespeichert sind; nein, eben nicht die Zeichen, sondern ihre Bedeutung, die freilich nur durch Zeichen im Gedächtnis ver-zeichnet werden können. Die Bedeutungen sind ohne Raum und Zeit. Der Weg zu ihnen muss im Gedächt-nis über verwandte Bedeutungen gesucht werden, während die Erinnerungen des episodischen Gedächtnis über ähnliche Bilder aufgefunden werden.
JE
Ist das Gedächtnis räumlich organisiert?
Rückwärtslaufen hilft beim Erinnern
Experimente belegen ein kurioses Phänomen: Eine mentale Reise in die Vergangenheit beginnt man am besten mit einem Schritt rückwärts.
Man möchte es für einen Aprilscherz halten, was vier britische Psychologen da gerade im Fachblatt »Cog- nition« veröffentlicht haben. Zumal sie ihr Ergebnis publikumswirksam als »time-travel effect«, also als Zeitreise-Effekt bezeichnen: Rückwärtslaufen helfe dem Gedächtnis auf die Sprünge, so das Team von der University of Roehampton. So merkwürdig das klingt, schließen ihre Experimente doch an jene an, die unter dem Stichwort »Embodied Cognition« schon manche merkwürdige Verbindung zwischen Körper und Geist offenbarten. Sie gründen sich unter anderem auf bekannte Zusammenhänge zwischen Raum und Zeit in Sprache und Denken: Wir sprechen beispielsweise davon, dass künftige Ereignisse »vor der Tür stehen« oder dass wir die Vergangenheit »hinter uns« lassen.
Ob diese Assoziation eine gedankliche Reise in die Vergangenheit und somit sogar das Erinnerungsvermö- gen fördert, untersuchten Aleksandar Aksentijevic und seine Kollegen in einer Reihe von Experimenten. Zunächst bekamen die jeweils etwas mehr als 100 Probandinnen und Probanden entweder einen andert- halbminütigen Videoclip von einem Diebstahl präsentiert, oder sie sollten sich 20 Wörter oder 18 Farb- fotografien merken. Um sie davon ein wenig abzulenken, ließen die Forscher sie danach zehn Minuten lang Sudokus lösen.
Darauf folgte der entscheidende Part, die Bewegung, in etlichen Varianten: Die Versuchspersonen liefen entweder zehn Meter rückwärts oder vorwärts (oder blieben ebenso lang sitzen), und das einmal mit offenen, einmal mit geschlossenen Augen. Ein andermal sollten sie sich die Rückwärtsbewegung lediglich vorstellen oder bekamen ein Video von einem fahrenden Zug vorgespielt, um damit die Illusion einer Rückwärts- oder Vorwärtsbewegung zu erzeugen. Direkt darauf sollten sie in ihrem Gedächtnis kramen und so so viele Wörter beziehungsweise Bilder wie möglich ins Gedächtnis zurückholen oder Fragen zur Filmszene beantworten.
Hatten sie sich real, mittels optischer Illusion oder gedanklich rückwärts bewegt, gaben sie im Schnitt rund zwei richtige Antworten mehr als nach keiner oder nach vorwärts gerichteter Bewegung. Beim Erinnern an Wörter und Bilder zeigten sich vergleichbare statistisch bedeutsame Effekte. Die Autoren schließen daraus, dass das Gedächtnis Erinnerungen räumlich geordnet ablegt, gemäß einem »zeitlichen Index« entlang einer subjektiven Timeline. Sie spekulieren außerdem, dass es eine besondere Assoziation zwischen vorgestellter Bewegung und dem Gedächtnis für dynamische Szenen geben könnte, derart, dass beide einer symmetri- schen Topografie folgen und die vorgestellten Bewegungen so den Abruf erleichtern könnten. »Man kann das Gedächtnis nicht isoliert vom übrigen menschlichen Denken und Erleben betrachten«, denn es sei »un- trennbar mit der Erfahrung der Gegenwart verbunden«.
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Eine Verbindung zwischen Denken und Bewegung hat Aksentijevic schon vor einigen Jahren im Zusam- menhang mit dem »psychologischen Doppler-Effekt« untersucht: Offenbar neigen wir dazu, die Zukunft als näher zu empfinden als eine (zeitlich gleich weit entfernte) Vergangenheit. Die Asymmetrie im Erleben, so vermuten auch andere Forscher, könnte in der subjektiven Erfahrung begründet sein, dass wir uns durch die Zeit vorwärts bewegen, wobei sich künftige Ereignisse stets nähern und vergangene von uns entfernen.
Nota. - Haben Sie's bemerkt? Zum Schluss sprechen die Forscher schon nicht mehr von 'Raum', sondern von Bewegung. Die ist nicht bloß Raum und Zeit; sie veranschaulicht auch den Elementarmodus unseres Erlebens: als Tätigkeit (auch das Naturgeschehen wird ursprünglich als deren Tätigkeit aufgefasst). Wenn auch die Gedächtniselemente räumlich zu einander abgelegt sind - aufgesucht werden müssen sie im zeit- lichen Modus: eins nach dem andern; und das kann dauern (weil Räume zu durchmessen sind).
JE
Das Hirn ist kein Rechenautomat, sondern ein Stratege.
Das passiert im Gehirn, wenn du die Qual der Wahl hast
Zu viel Auswahl lässt uns schnell verzweifeln. Schuld daran ist unser
Gehirn. Verhaltenspsychologen haben nun ganz genau hingeschaut, was in
unserem Gehirn passiert, wenn wir die Qual der Wahl haben.
Das Gefühl, die Qual der Wahl zu haben, kann uns in den Wahnsinn treiben. Woher soll man auch wissen, welches der zehn Nudelgerichte im Restaurant am besten schmeckt. Geschweige denn, was nach dem umfangreichen Wocheneinkauf zuerst gekocht werden soll.
Falls du glaubst, dass dieses Wohlstandsproblem erst durch den Massenkonsum in der heutigen Zeit entstanden ist, irrst du dich. Wissenschaftler der Universität Kalifornien stießen nämlich schon vor über 20 Jahren auf das Phänomen der Auswahlüberforderung.
Eigentlich wollten die Psychologen nur beweisen, dass eine große Produktauswahl für Kunden attraktiv ist. Für ihre Studie stellten sie in einem Lebensmittelgeschäft 24 Marmeladengläser zum Probieren zur Verfügung. Im zweiten Durchlauf waren es gerade einmal sechs Marmeladensorten.
Der überfüllte Tisch mit den 24 Marmeladengläsern stieß bei den Kunden auf große Nachfrage, und sie probierten fleißig.
Allerdings waren sie überraschenderweise kaum daran interessiert, etwas zu kaufen. Bei den sechs Sorten hielten zwar weniger Menschen an dem Tisch an, jedoch war es zehnmal wahrscheinlicher, dass sie am Ende ein Glas mitnahmen. Eine zu große Auswahl schien die Menschen also letztendlich abzuschrecken.
Psychologen nennen dieses Gefühl Wahlüberlastung.
Wenn das Gehirn mit einer überwältigenden Anzahl ähnlicher Optionen konfrontiert ist, hat es große Mühe, Entscheidungen zu treffen.
So weit, so gut. Was bei diesem Prozess in dem Gehirn genau vor sich geht, konnte vor 20 Jahren mangels technischer Möglichkeiten nicht genauer untersucht werden.
Colin Camerer, Professor für Verhaltensökonomie am California Institute of Technology, führte deswegen erneut eine Studie durch, um das Phänomen der Wahlüberforderung auf kognitiver Ebene zu untersuchen.
Freiwillige Teilnehmer wählten aus Bildersets mit sechs, zwölf oder 24 Bildern aus, welches Motiv sie auf eine Tasse drucken lassen wollen. Während sie ihre endgültige Entscheidung trafen, zeichnete eine funktionelle Magnetresonanztomografie-Maschine die Gehirnaktivität auf. Dabei stießen die Psychologen auf eine besonders hohe Aktivität in zwei Regionen des Gehirns.
Neben dem vorderen Teil des cingulären Cortex, der potenzielle Kosten und Nutzen von Entscheidungen abwiegt, war auch das Striatum, das für Wertebestimmung verantwortlich ist, beim Treffen der Entscheidung aktiv beteiligt.
In den beiden Gehirnregionen zeigte sich die höchste Aktivität, als zwölf Bilder zur Auswahl standen. Bei den sechs und 24 Bildersets waren sie dagegen nicht besonders aktiv.
Die zwei Gehirnregionen wägen gemeinsam das zunehmende Potenzial für Belohnung gegen die Arbeitsmenge ab, die das Gehirn tun muss, um mögliche Ergebnisse zu bewerten. Steigt die Anzahl der Optionen, erhöht sich auch die potenzielle Belohnung. Allerdings pendelt sich diese bei steigenden Auswahlmöglichkeiten ein.
Der Aufwand, die vorhandenen Möglichkeiten zu bewerten, steigt nämlich mit zunehmender Anzahl der Optionen. Unser Gehirn muss also einen Ausgleich zwischen mentalen Anstrengungen und möglichen Belohnungen finden. Schließlich soll am Ende die Belohnung nicht zu niedrig und Anstrengung nicht zu hoch sein.
Von einer zu großen Auswahl profitieren wir demnach nicht. Es wird eher die Gehirnfähigkeit behindert, eine Entscheidung zu treffen.
Die Verhaltenspsychologen schätzen, dass die ideale Anzahl von Optionen zwischen acht und 15 liegt, damit wir uns einigermaßen gut entscheiden können. Natürlich spielt dabei die wahrgenommene Belohnung und die Bewertungsschwierigkeit eine Rolle.
Nota. - Bin das schon ich, oder ist das erst noch mein Hirn? - Immerhin läuft es auf dasselbe hinaus. Die Abwägung zwischen nötigem Aufwand und möglichem Gewinn müsste ich vernünftigerweise ja selber auch treffen, doch das Hirn "hat darin mehr Erfahrung" als meine Verunft, es wägt schneller ab. Aber Ich werde ich in eminentem Sinn, indem ich meinem Gehirn ja stets gewissermaßen auf die Finger schaue: Ist das alles richtig? Und ich kann jederzeit Halt! rufen - und mir vornehmen, mich doch nochmal etwas gründlicher umzusehen. 'Ich' sind wir eigentlich immer nur beide zusammen; einen von beiden allein gibt es in Wahrheit nicht.
JE
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