Dienstag, 31. Mai 2016

"Resilienz".


aus nzz.ch, 27.5.2016, 05:30 Uhr

Traumatisiert und dann?
Was Resilienz ausmacht
Manche Menschen können schlimme Erlebnisse gut verarbeiten, andere gehen daran zugrunde. Nur langsam ergründen Forscher, woran das liegt.

von Lena Stallmach

Kriegsflüchtlinge haben schreckliche Dinge erlebt. Viele haben enge Vertraute sterben sehen und waren selbst dem Tod nahe. Sie mussten alles zurücklassen, erlebten Gefahren auf der Flucht und wussten nicht, ob sie jemals wieder in Sicherheit leben würden. Viele von ihnen sind schwer traumatisiert.

Wenn Menschen die erlebten Traumata nicht verarbeiten können, entwickeln sie oft eine sogenannte posttraumatische Belastungsstörung (PTBS). Sie werden von Albträumen und «Flashbacks» verfolgt und erleben die Angst immer wieder. Viele sind schreckhaft und gereizt, ziehen sich zurück und werden emotional taub. 30 Prozent der Flüchtlinge leiden an einer solchen PTBS, ebenso viele haben eine Depression, wie eine Metaanalyse aus dem Jahr 2009 zeigt, die 181 Studien und 82 000 Flüchtlinge berücksichtigt.

Aber nicht nur Flüchtlinge trifft dies. Viele Menschen erleben irgendwann in ihrem Leben ein Trauma, etwa einen Verkehrsunfall, ein Gewaltverbrechen oder den plötzlichen Tod einer nahestehenden Person. Im Durchschnitt entwickeln 20 Prozent eine PTBS, je nach Art und Schwere des Traumas. Dabei schaffen es auch schwer traumatisierte Personen, sich wieder aufzurappeln. Mitunter wachsen sie sogar an der Überwindung der schlimmen Erlebnisse. Welche Eigenschaften sie dazu befähigen, wird seit einigen Jahrzehnten erforscht. Im Fokus stehen Persönlichkeitsmerkmale, die Genetik und Umwelteinflüsse.

Neuer Ansatz in der Medizin

Üblicherweise konzentriert sich die Medizin darauf, kranke Menschen zu untersuchen und nicht gesunde. Die Resilienzforschung steckt daher noch in den Kinderschuhen. In den 1980er Jahren prägte der Sozialmediziner Aaron Antonovsky den Begriff der Salutogenese, eine neue Sichtweise in der Medizin, bei der die Gesundheit im Zentrum steht. Antonovsky war beeindruckt davon, dass sich ein Teil der Holocaust-Überlebenden von den schweren psychischen und physischen Belastungen im Konzentrationslager erholte und sich Jahrzehnte später einer guten Gesundheit erfreute. Er fragte sich, welche Eigenschaften und Ressourcen diese Menschen besassen, und entwickelte in den folgenden Jahren das Konzept der Kohärenz. Als Kohärenzsinn wird die Eigenschaft bezeichnet, traumatische Erfahrungen gedanklich einordnen und verarbeiten zu können. Es ist eine Fähigkeit, die im Jugend- und jungen Erwachsenenalter gebildet wird und ein Leben lang stabil bleibt.

Dabei sind laut Antonovsky drei Aspekte zentral: das Vertrauen, dass alles, was geschieht, vorhersagbar und erklärbar ist; dass man über die Ressourcen verfügt, um die Anforderungen des Lebens zu meistern; und dass diese Anforderungen Herausforderungen sind, die des Engagements und der Mühe wert sind.

Fragebogen erfasst einen Faktor der Resilienz

Antonovsky publizierte 1979 einen Fragebogen, mit dem der Kohärenzsinn einer Person bestimmt wird – je höher die Werte, desto resilienter die Person. Viele Studien haben dies seither bestätigt. Allerdings wurden auch einige Mängel des Tests offensichtlich. Beispielsweise veränderte sich der Kohärenzsinn im Angesicht von Lebenskrisen und mit dem Alter. Dies sollte laut Definition nicht passieren, sagt Andreas Maercker, Psychologe an der Universität Zürich. Der Fragebogen sei offensichtlich nicht spezifisch genug. Deshalb hat Maercker vor kurzem eine revidierte Version veröffentlicht. Ob sich dieser Fragebogen bewähren wird, muss sich allerdings noch zeigen.

Laut Ulrike Ehlert, Psychologin an der Universität Zürich, gibt es noch andere Persönlichkeitsmerkmale, die die Resilienz begünstigen. Sie untersucht Menschen, die berufsbedingt häufig Traumata erleben, wie etwa Feuerwehrleute oder Bergführer. Es zeigte sich, dass ein hohes Mass an Selbstwirksamkeit – das Gefühl, kompetent zu sein und die Anforderungen im Leben meistern zu können – die Menschen davor schützt, nach einem oder mehreren Traumata eine posttraumatische Belastungsstörung zu entwickeln. Günstig wirkt sich ausserdem aus, wenn Menschen die Fähigkeit besitzen, die eigenen Emotionen zu reflektieren und zu regulieren. Ein hohes Mass an Feindseligkeit fördert dagegen die Entstehung einer PTBS.

Erfahrungen beeinflussen die Resilienz

Erfahrungen beeinflussen die Entwicklung der Persönlichkeit und so auch die Resilienz. Vor allem einschneidende Erlebnisse. Ein Kindheitstrauma erschüttere das Selbstvertrauen und das Weltbild und erschwere die Ausbildung von Resilienz, sagt Matthis Schick, Oberarzt am Ambulatorium für Folter- und Kriegsopfer der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsspital Zürich.

Wie stark Menschen dadurch verändert werden, zeigt sich auch in ihrer biologischen Stressreaktion. Wie Ulrike Schmidt vom Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München erklärt, können Erwachsene, die als Kinder traumatisiert worden sind und dadurch eine posttraumatische Belastungsstörung entwickelt haben, mit Stress schlecht umgehen. Sogenannte epigenetische Veränderungen seien schuld daran. Das sind kleine Moleküle, die an die DNA angeheftet werden und beeinflussen, wie viel Protein von einem Gen hergestellt wird. Ein Kindheitstrauma kann das epigenetische Muster verändern und damit die Menge der Stresshormone. Diese Hormone beeinflussen wiederum die Botenstoffe im Gehirn und damit unser Befinden.

Die Gene spielen mit

Dann kommt auch noch die Genetik ins Spiel, denn wie stark die Erfahrungen diese Systeme beeinflussen, hängt von den Genen ab. Laut Schmidt gibt es Genvarianten, die anfälliger sind für epigenetische Veränderungen. Damit sind ihre Träger allgemein anfälliger für Umwelteinflüsse, sowohl positive als auch negative.

Es handelt sich vor allem um Gene, die bei der Stressreaktion oder in verschiedenen Botenstoffsystemen im Gehirn beteiligt sind. So zeigtenTerrie Moffitt und Avshalom Caspi von der Duke University in den USA vor vielen Jahren, dass Kinder, die ein Trauma erlebt hatten und eine oder mehrere Risikovarianten verschiedener Gene trugen, als Erwachsene ein höheres Risiko hatten, an psychischen Erkrankungen wie Depressionen oder der PTBS zu erkranken.

Später wiesen andere Forscher darauf hin, dass sich Kinder mit solchen «Risikovarianten», die kein Trauma erlebt hatten und in einem fördernden Umfeld aufwuchsen, besser als der Durchschnitt entwickelten. Diese Träger reagierten allgemein stärker auf ihre Umwelt sowohl im Guten als auch im Schlechten, erklärten sie. Umgekehrt sind Menschen mit weniger veränderbaren Genvarianten wohl besser gegen negative Erfahrungen gewappnet.

Da bei der Regulation der Stressreaktion und der Botenstoffe im Gehirn viele Gene beteiligt sind, ist es unwahrscheinlich, dass jemand nur günstige oder ungünstige Varianten trägt. Es ist daher schwer zu sagen, in welchem Ausmass die Gene die individuelle Resilienz beeinflussen.

Für Flüchtlinge schwieriger

Unabhängig davon, welche Genvarianten und welche Persönlichkeitsmerkmale jemand trägt, spielen die soziale Unterstützung und eine sichere Umgebung bei der Verarbeitung eines Traumas eine wichtige Rolle – Bedingungen, die bei Flüchtlingen oft nicht gegeben sind. Dies erschwere auch die Therapie, sagt Schick, der am Ambulatorium für Kriegs- und Folteropfer schon viele Flüchtlinge behandelt hat.

Viele von ihnen seien nicht als Flüchtlinge anerkannt, befänden sich seit langem im Asylverfahren oder hätten nur eine vorläufige Aufnahmebewilligung. Wenn jemand jahrelang im Provisorium lebe, keine Arbeit und kein Geld habe, dann fördere dies die Unsicherheit und das Gefühl der Ohnmacht – Gefühle, die bei einer posttraumatischen Belastungsstörung oft auftreten. Eine Behandlung unter solchen Umständen sei sehr schwierig. Deshalb versuche man, den Flüchtlingen ein Stück ihrer Selbstwirksamkeit zurückzugeben und ihnen beim Aufnahmeprozess, bei der Integration und dem Spracherwerb zu helfen. Die Unterstützung bei diesen akuten Problemen erleichtere auch die Behandlung des Traumas.

Bei vielen Flüchtlingen gehe die Traumatisierung aber weiter. Wenn jemand Angehörige im Kriegsgebiet habe und sich jeden Tag frage, ob der Vater oder die Kinder noch lebten, sei es sehr schwierig, sich auf den Aufbau einer neuen Existenz oder eine Therapie zu konzentrieren. 


Nota. - Einer sagt: "Er war sehr tapfer!" Ein andrer sagt: "Ja, Mann, der ist zäh", und jeder versteht, was der andere meint, und keiner glaubt, eine wissenschaftlich haltbare Diagnose gegeben zu haben: Es war ja bloß eine Unterhaltung, eine vage bildhafte Umschreibung reicht aus, denn das, was gemeint ist, hat viele Facetten.

Bringt es einen Vorteil, der Sache nun einen wissenschaftlich klingenden lateinischen Namen zu geben, so, als würde das Bezeichnete dadurch eindeutiger, weniger komplex, weniger auslegungsfähig? Wie bei der pp. Intelligenz spielen unzählig viele Faktoren eine Rolle. Aber nach der Karriere, die jenes Wort im vorigen Jahrhundert genommen hat, liegt die Vorstellung in der Luft, es handle sich um ein besonderes Persönlichkeitsmerkmal, mehr oder minder eindeutig bestimmt durch zwei, drei, vier Gene, das man aber durch reguläre Pädagogisierung 'fördern' und 'ausbilden' könne. Es würden dann neue 'Angebote', neue Arbeitsplatzmerkmale und neue Stellen entstehen, und glauben Sie mir: Wo sich so eine Möglichkeit auftut, finden sich welche, die sie nutzen.

Nein, ich ziehe es vor, die neue Vokabel nicht in meinen Wortschatz aufzunehmen; ich meine: nichtmal in den passiven; wann immer einer "R." sagt, werde ich fragen: Was heißt denn das?
JE
 

Montag, 30. Mai 2016

Eine fünfte Grundkraft?

Teilchendetektor. Mit diesem Elektron-Positron-Spektrometer wollen die ungarischen Forscher ein neues Teilchen entdeckt haben. Es soll etwa 34-mal schwerer sein als ein Elektron.
aus Tagesspiegel.de, 30. 5. 2016

Hinweise auf eine fünfte Kraft?
Experimente ungarischer Forscher und die Interpretation von US-Kollegen sorgen für Gesprächsstoff: Gibt es eine fünfte Grundkraft?


von

So schön sich viele Entdeckungen der letzten Zeit ins Standardmodell der Teilchenphysik fügen – wie zum Beispiel das Higgs-Boson – so klar ist den Forschern zugleich, dass dieses Theoriegebäude Schwächen hat. Die Gravitation zum Beispiel kann es nicht erklären. Daher suchen sie nach „neuer Physik“, die das Standardmodell erweitern oder ganz ersetzen könnte. Experimente ungarischer Forscher und deren Interpretation durch ein US-Team sorgen aktuell für Gesprächsstoff. Es könnte sich um Hinweise auf eine fünfte Grundkraft handeln.

Vier Grundkräfte sind etabliert

Bisher kennen Physiker nur vier: die Gravitation, die elektromagnetische Kraft sowie die starke und die schwache Kernkraft. Die letzten beiden wirken jedoch nur über extrem kurze Distanzen. Sie haben mit dem, was man landläufig unter „Kraft“ versteht wie etwa eine Anziehung wenig zu tun, sagt Kai Schmidt-Hoberg vom Forschungszentrum Desy in Hamburg.

Physiker sprechen lieber von Wechselwirkung, zu der beispielsweise der radioaktive Zerfall gehört. Auch die neue fünfte Kraft würde nur über eine Distanz von wenigen Atomkerndurchmessern wirken – sofern es sie tatsächlich gibt.

Forscher um Attila Krasznahorkay von der ungarischen Akademie der Wissenschaften haben 2015 Daten eines Experiments veröffentlicht, die zunächst kaum beachtet wurden. Sie hatten Protonen auf Lithium geschossen, worauf Berylliumkerne entstand, die bald wieder zerfielen. Dabei wurden Paare von Elektronen und Positronen abgegeben, wobei deren Flugbahnen bevorzugt in bestimmten Richtungen verlaufen sollten. Zwischen theoretischer Vorhersage und realer Messung gab es aber deutliche Unterschiede. Krasznahorkay meint, dass während der Versuche ein bisher unbekanntes Teilchen entstanden ist mit einer Masse von rund 17 Megaelektronenvolt. Das ist etwa 34-mal mehr als ein Elektron hat, also ein echtes Leichtgewicht.

Kollegen sind interessiert - und skeptisch

Jonathan Feng von der Universität von Kalifornien in Irvine und Kollegen publizierten Ende April die Interpretation, wonach es sich hierbei um einen Hinweis auf eine fünfte Kraft handeln könnte. Auf einem Expertentreffen in Menlo Park sei dieser Befund mit großem Interesse, aber auch mit Skepsis aufgenommen worden, berichtet das Fachblatt „Nature“. Es wurde sogleich diskutiert, wie das Resultat durch andere Experimente überprüft werden könne.

Das sei dringend nötig, meint auch der Desy-Forscher Schmidt-Hoberg. Was ihn skeptisch macht: Anders als beim Higgs, bei dem einigermaßen klar war, wonach man sucht, handelt es sich hierbei um einen völlig unerwartetes Teilchen. „Wenn das gemessene Signal echt ist, müsste man schon Handstände machen, um das theoretisch beschreiben zu können“, sagt er.

Die Auflösung könnte schon in den nächsten Monaten kommen. Mehrere Experimente, darunter am Jefferson Laboratory in Virginia und am Forschungszentrum Cern, sind in der Lage, im Massebereich um 17 Megaelektronenvolt nach neuen Teilchen zu suchen. Vielleicht finden sie ja doch etwas.


Nota. - Es mag sein, dass sich diese voreilige Veröffentlichung mal wieder als bloße Marktschreierei entpuppt. Aber wenn sie auch nur eine interessierte Öffentlichkeit daran erinnert, dass einige unserer elementarsten wissenschaftlichen Selbstverständlichkeiten auf Hypothesen beruhen, die jederzeit durch einen unerwarteten empirischen Befund widerlegt werden können, hat sie ihre Rechtfertigung schon gefunden.
JE

Mittwoch, 25. Mai 2016

Gregor Reisch's «Perle der Philosophie».


aus nzz.ch, 25. 5. 2016

Lies nur, dann wirst du gelehrt!
Die «Margarita philosophica» des Kartäusermönchs Gregor Reisch, ein Meilenstein der europäischen Ideengeschichte, liegt nun auf Deutsch vor.

von Ralf Konersmann

Die Perle ist ein besonderes Ding. Direkt aus der Natur hervorgegangen, verschliesst sie sich, einmal gerundet und vollendet, dem unablässigen Wandel der Zeit. Friedrich Ohly, der den Gehalt der Metapher erkundet hat, nennt zahllose Quellen aus Religion und Dichtung, in denen die himmlische Herkunft der Perle besungen wird. Ihr Glanz und die Kugelgestalt tun ein Übriges: Die Perle ist ein Vollkommenes, das dauert.

Das Wissen der Jahrhunderte

Die heutige Leserschaft muss sich die Mit- und Nebenbedeutungen der Metapher vor Augen halten, wenn sie die berühmte «Margarita philosophica» des Gregor Reisch zur Hand nimmt: «Die Perle der Philosophie». Ursprünglich als Lehrbuch für den universitären Unterricht gedacht, ist dieses Werk, das 1503 erstmals im Druck erschien und etliche Neuauflagen erlebte, doch weit mehr als das. Es versammelt, ordnet und erläutert das Wissen der vergangenen Jahrhunderte, um es an die kommenden Generationen weiterzugeben. Sein Anspruch verkörpert den Geist der Renaissance: Erstmals entsteht nun die Vorstellung eines allgemeinen, unabhängig von Nutzanwendungen geltenden Wissens. Gelegentlich tritt der Autor sogar ganz zurück (die «Margarita» erschien in mehreren Auflagen anonym), um das Wissen, als verstünde es sich von selbst, für sich sprechen zu lassen.

Dass der Erwerb all dieser Kenntnisse Mühe und Aufwand erfordert, versucht Reisch, anders als die Bildungsfunktionäre unserer Tage, erst gar nicht zu bemänteln. Doch der Glanz des Wissens, heisst es in der Verlagsbeilage des Jahres 1517, werde den Einsatz wert gewesen sein. Die Bildungsgeschichte Europas ging einst erstaunlich gelassen und selbstbewusst an den Start: «Lies nur, und du wirst gelehrt!»

Reisch, der zwischen 1467 und 1470 geboren wurde, muss ein fleissiger Arbeiter gewesen sein. Schon wenige Jahre nach dem Studium in Freiburg im Breisgau beginnt er mit der Niederschrift der «Margarita», die offenbar schon 1496 in den Hauptzügen vorlag. Die 1503 publizierte Erstausgabe zeigt Reisch zudem als begnadeten Pädagogen. Seine Sprache ist unprätentiös und stets auf der Höhe ihrer Gegenstände, ohne Allwissenheit vorzutäuschen. Wenn der Autor etwas nicht kennt oder unsicher ist, dann sagt er es.

Natürlich ist dieses Eingeständnis des Nichtwissens alles andere als naiv. Reisch hat seinen Platon gelesen und folgt der sokratischen Form des Dialogs. Der ganze gewaltige Stoff – zwölf Bücher mit über fünfhundert grossformatigen Seiten – präsentiert sich als Zwiegespräch zwischen Schüler und Lehrer. Während jedoch Sokrates immer wieder innehält, bohrt und beharrt, bleibt die Sprache des Magisters Reisch stets geschmeidig und im Fluss. «Wichtig» müssen die Gegenstände sein, um überhaupt Erwähnung zu finden, aber auch für beiläufig Hingeworfenes bleibt Raum. Das nachmals so viel besprochene Neutralpronomen «es» («es regnet», «es beginnt»), das noch Nietzsches subjektkritische Einwürfe beflügeln wird, gilt Reisch als Redeform, bei der man «Gott oder die Natur» mit verstehe. Noch in ihren entlegensten Partien hält die «Margarita» ihr übergreifendes Bildungsziel gegenwärtig: die über das Mitverstehen ermöglichte Teilhabe eines jeden am Grossen und Ganzen.

«Trivium» und «Quadrivium»

Die «Margarita» will ein Lehrbuch sein, ein Kanon, und Reisch zögert nicht, seine Favoriten gleich einleitend vorzustellen. Eine bemerkenswerte Illustration [s. u.] zeigt Nikostrate, die legendäre Erfinderin der lateinischen Sprache, wie sie den Schülern den Turm der Bildung aufschliesst, eine Art vertikal gestaltetes Symposion. Über mehrere Etagen gelangen die Schüler über die freien Künste nach oben: erst kommt, wie es sich gehört, das «Trivium»: Grammatik, Dialektik, Rhetorik, und dann das «Quadrivium»: Arithmetik, Geometrie, Musik, Astronomie. Auf der Empore warten die griechische und die römische Philosophie: Aristoteles und Seneca; und ganz an der Spitze hält Petrus Lombardus als Theologe und Metaphysiker die höchsten Formen der Erkenntnis bereit.

Es ist gar nicht zu übersehen: Mit seiner «Margarita» wollte Reisch die Lehre bestreiten – aber auch die Wohlgestalt und Festigkeit eines Gebäudes demonstrieren, in dem Glauben und Wissen zu dauerhafter Einheit gefunden haben. In dieser Welt des Turms leben Autoritäten aller möglichen Provenienz in auskömmlichem Miteinander, und Moses, «der Prophet, Theologe und Philosoph», steht einträchtig neben Aristoteles.

Die meistzitierte Autorität jedoch, auf die Reisch in allen Teilen dieses kolossalen Lehrwerks zu sprechen kommt, ist Augustinus, den er in seinen Freiburger Jahren gründlich studiert hat. Dabei ist weniger dieser Rückgriff selbst erstaunlich als dessen unverkrampfte Art. Reischs Augustinus ist kein Dogmatiker, sondern ein Weiser in der Tradition der antiken Lebenskunstlehren, ein Kenner der Menschen, wie es auch die Vertreter der dann noch im selben Jahrhundert heraufziehenden Moralistik sein wollen. Mit ihrer Art, das Wissen aufzufangen und nach allen Seiten auszustrahlen, ist die «Perle der Philosophie» ein Werk der Epochenschwelle, ein Werk des traditionsbewussten Aufbruchs; und man begreift, weshalb ein unabhängiger Geist wie Erasmus es geschätzt hat. Nach einem halben Jahrtausend liegt dieser Meilenstein der europäischen Ideengeschichte nun erstmals auf Deutsch vor, und das Ergebnis kann sich sehen lassen. Auf der Basis der letzten von Reisch selbst durchgesehenen Ausgabe von 1517 haben Otto und Eva Schönberger das Gelehrtenlatein behutsam übertragen und die Stellen, an denen der Text stockt oder springt, für den heutigen Leser kenntlich gemacht. Entstanden ist eine respektable Leseausgabe, die, wie es heisst, einmal einer «gültigen Version» weichen soll. In der jetzigen Form ist die deutsche Margarita eine Vorleistung im Blick auf eine künftige historisch-kritische Ausgabe. Nun ist es an den Stiftungen und wissenschaftlichen Akademien, für die Bergung und Politur dieser Perle zu sorgen.


Gregor Reisch: Margarita philosophica. Perle (Schatz) der Philosophie. Abdruck der vom Verfasser autorisierten verbesserten und vermehrten 4. Auflage, Basel 1517. Deutsche Übersetzung von Otto und Eva Schönberger. Königshausen & Neumann, Würzburg 2016. 540 S., Fr. 124.90.



Freitag, 20. Mai 2016

Reiner Humbug ist die Alchemie nicht gewesen.

Blick in ein Alchemistenlabor des 15. Jahrhunderts
aus scinexx

Alchemie
Forscher entschlüsseln die geheimen Rezepte der Alchemisten
Sie wollten Blei zu Gold machen und suchten nach dem Stein der Weisen: Die Alchemisten des Mittelalters und der Renaissance galten lange als Pseudogelehrte oder sogar Quacksalber. Doch ihre Methoden und geheimen Rezepte haben es durchaus in sich – wenn man sie denn entschlüsseln kann.

von Nadja Podbregar

Die Alchemie war weit mehr als nur mystisch verbrämtes Unwissen oder gar Quacksalberei. Im Gegenteil: Heute gilt die Herangehensweise dieser frühen Gelehrten sogar als wegweisend für die Chemie und die Wissenschaft insgesamt. Denn die Alchemisten gehörten zu den ersten, die moderne Deduktionsmethoden nutzen: Sie führten systematische Experimente zum Test von Hypothesen durch und zogen daraus ihre Schlüsse.

Aus ihren Niederschriften lässt sich daher auch heute noch einiges lernen - vorausgesetzt man versteht diese oft sehr verklausulierten Hinweise. Den Versuch, die Rezepte und Methoden der alten Alchemisten zu enträtseln und nachzuvollziehen, machen zurzeit gleich mehrere Forschungsprojekte – mit durchaus spannenden Ergebnissen.
 

Inhalt:

  1. Nur Hokuspokus und Quacksalberei?
    Der schlechte Ruf der Alchemie
  2. Innovative Pioniere
    Alchemie als Basis moderner Wissenschaft
  3. Geheime Rezepte
    Wenn der Drache den Mond verschluckt
  4. Baum aus Gold und gelbes Glas
    Die Tücke liegt im Detail
  5. Das Geheimnis der Tiegel
    "Geheime Zutat" entpuppt sich als Hightech-Mineral
  6. Blei zu Gold
    Den "Stein der Weisen" gibt es doch


Stand 20.05.2016

Donnerstag, 19. Mai 2016

Am Anfang war der Geschmack.

aus scinexx

Feinschmecker im Fruchtwasser
Der Geschmack entwickelt sich als erstes
Warm und geschützt schwimmt das Ungeborene in seiner Fruchtblase. Was aber bekommt es von der Außenwelt mit? Mehr als man lange Zeit gedacht hat, das weiß man inzwischen. Welche Sinne sich in welchem Alter des Fötus entwickeln, ist inzwischen recht gut untersucht. Vor allem der Geschmack und das Gehör entwickeln sich demnach schon sehr früh.

von Nadja Podbregar

Igitt, bitter!

Den Anfang macht der Geschmack: Noch bevor wir hören oder sehen können, schmecken wir. Als Ungeborene schlucken wir schon sehr früh das uns umgebende Fruchtwasser und nehmen dabei die typischen Komponenten dieser nährenden Flüssigkeit auf. Schon in der achten Schwangerschaftswoche bildet der heranwachsende Fötus die ersten Geschmacksrezeptoren. 

Ab der 15. Woche nimmt das Ungeborene nach und nach auch die Aromen des geschluckten Fruchtwassers wahr, wie Versuche zeigen: Fügt man dem Fruchtwasser durch eine Kanüle eine sterile Zuckerlösung hinzu, dann beginnt das Ungeborene, häufiger zu schlucken. Macht man das Fruchtwasser dagegen bitterer, sinkt die Schluckrate.

Prägende Aromen

Spätestens mit Beginn des letzten Schwangerschaftsdrittels ist das Ungeborene ein echter "Mitschmecker": Was die Mutter isst, das kostet auch ihr Kind. Denn die meisten Aromastoffe finden sich nach kurzer Zeit im Blut und Fruchtwasser der Schwangeren wieder. Und diese Aromen können die Geschmacksvorlieben des Ungeborenen fürs Leben prägen. Isst die Mutter beispielsweise viel Süßes, stärkt dies den ohnehin angeborenen Süßhunger des Nachwuchses.

Nimmt sie dagegen in der Schwangerschaft viel Knoblauch zu sich, dann schmeckt auch den Neugeborenen anschließend Muttermilch mit leichter Knoblauchnote besser als die "ungewürzte" Milch, wie ein Experiment zeigte. Ähnlich prägend erwiesen sich darin Anis, Karotten, Minze, Vanille und Blauschimmelkäse. Wer daher sein Kind schon früh auf abwechslungsreiche und gesunde Essensvorlieben eichen möchte, der sollte in der Schwangerschaft am besten schon selbst das richtige essen – das gibt dem Kind wortwörtlich einen ersten Vorgeschmack.
neunte Woche
Das Sehen: Licht ja, Details nein

Etwa ab dem sechsten Monat beginnt auch der Sehsinn des Ungeborenen aktiv zu werden. Zwar sind seine Augen noch geschlossen, doch auch durch die geschlossenen Lider kann der Fötus jetzt schon Licht wahrnehmen. Strahlt man mit einer starken Taschenlampe auf den Bauch, kann es passieren, dass das ungeborene Kind seinen Kopf wegdreht.

Allerdings: Formen und Details kann das Ungeborene noch nicht erkennen. Erst wenn sich seine Augen in der 26. Woche öffnen, beginnt der Sehsinn weiter zu reifen. Dennoch hinkt er den anderen Sinnen des Kindes stark hinterher. Deshalb ist ein Säugling nach der Geburt extrem kursichtig und sieht die Welt um sich herum zunächst nur unscharf und zweidimensional. Farben erkennt das Baby sogar erst nach rund zwei Monaten.


Stand 13.05.2016


Dienstag, 17. Mai 2016

Erwartungen dringen darauf, erfüllt zu werden; oder: Sind Männer suggestibler als Frauen?

aus scinexx                        Wie sehr schmerzt es? Je nach Erwartung bewerten Männer Schmerzen anders

Erwartungen beeinflussen Schmerzempfinden
Schmerztoleranz von Männern ist manipulierbar
Schmerzlindernde Wirkung: Werden Männer mit der Information versorgt, dass sie Schmerzen besser ertragen können als Frauen, wirkt sich das prompt aus – sie bewerten Hitzereize dann als weniger unangenehm. Umgekehrt funktioniert der Effekt aber auch, wie ein Experiment zeigt: Wer denkt, Frauen hätten eine höhere Schmerztoleranz, kann Schmerzen weniger gut aushalten als ohne diese Erwartung.

Unsere eigenen Erwartungen sind machtvolle Manipulateure: Sie beeinflussen, wie wir andere Menschen wahrnehmen, wirken sich auf unsere Leistungen aus – und sind der Grund dafür, dass es den Placebo-Effekt gibt. "Der Placebo-Effekt funktioniert gerade bei der Behandlung von Schmerzen oft sehr gut", sagen Wissenschaftler um Katharina Schwarz von der Universität Würzburg.

Die pure Erwartung, ein Medikament zu bekommen, kann das Befinden verbessern. Doch nicht nur die Gabe eines vermeintlichen Arzneimittels lindert mitunter Schmerzen. Vorurteile über die persönliche Schmerzempfindlichkeit haben einen ähnlichen Effekt, wie die Forscher nun bei einem Experiment herausfanden.
 

Männer beim Schmerztest

Für ihre Untersuchung unterzogen Schwarz und ihre Kollegen Männer einem Hitzetest. Dabei wurden die Probanden mithilfe eines Umschnallbands am Unterarm mit verschiedenen Temperaturreizen konfrontiert. Den dabei empfundenen Schmerz mussten die Teilnehmer dann auf einer Skala von "kein Schmerz" bis "unerträglich" bewerten.

Am nächsten Tag wiederholten die Wissenschaftler diese Prozedur – mit einem einzigen Unterschied: Eher beiläufig ließen sie die Männer vorher auf einem Infoblatt wissen, dass sie entweder weniger empfindlich oder empfindlicher gegen Schmerzen seien als Frauen. Begründet wurde das jeweils evolutionspsychologisch: Eine Versuchsgruppe erhielt die Information, dass Männer beispielsweise als Jäger besonders gut an Schmerzen gewöhnt seien. Die andere Gruppe bekam zu lesen, dass Frauen durch die Schmerzen der Geburt besonders abgehärtet sind.

 

Deutlicher Effekt


Diese neue Information beeinflusste das Schmerzempfinden der Männer deutlich: Beim erneuten Hitzeexperiment, bewerteten die Probanden, die Männer für weniger empfindlich hielten, den Schmerz als deutlich schwächer als am Tag davor. Wer dagegen von der höheren Schmerztoleranz der Frauen gelesen hatte, stufte sich jetzt im Vergleich als schmerzempfindlicher ein. Schon die Aussage "Du bist viel unempfindlicher gegen Schmerzen als andere", kann demnach kleine Wunder bewirken.

Die Wissenschaftler wollen künftig weiter untersuchen, wie weit der Einfluss von Erwartungen beim Menschen gehen kann. Praktisch bedeutsam seien solche Mechanismen nicht nur für Therapien, sondern auch in der psychologischen Forschung: "Auch Wissenschaftler haben bei ihrer Arbeit gewisse Erwartungen. Falls sie die ins Versuchsdesign einfließen lassen und die Probanden – ganz ohne böse Absicht – entsprechend beeinflussen, kann das Ergebnisse verfälschen", schließen sie. (Trends in Cognitive Sciences, in press; doi: 10.1016/j.tics.2016.04.001)
(Julius-Maximilians-Universität Würzburg, 13.05.2016 - DAL)


Nota. - Und Sie haben jetzt erwartet, Sie erführen etwas über den Unterschied schwischen Mann uund Frau! Ach - Sie sind gar kein Mann, sondern eine LeserIn? Dann werden Sie sich ohnehin gefragt haben: Und was ist mit den Frauen? Und haben gemerkt: Darüber sagt der Test nichts. Aber vielleicht erst hinterher gemerkt! Männer, die es eilig hatten, hab en es vielleicht auch dann nicht bemerkt. Und sehen Sie: So hat sich die Erwartung doch erfüllt; Männer sind suggestibler!
JE 

Freitag, 6. Mai 2016

Wir haben uns das Menschsein erfressen.

aus derStandard.at, 4. Mai 2016, 19:00


Warum wir mehr Kalorien verbrauchen als Gorillas
Menschen haben eine höhere Metabolismusrate als die übrigen Menschenaffen – laut einer neuen Studie liegt hier ein Schlüssel zur Intelligenz

New York – Menschen verbrauchen im Schnitt deutlich mehr Kalorien als ihre unmittelbaren Verwandten. Forscher mehrerer US-amerikanischer Universitäten analysierten die verschiedenen Arten von Menschenaffen (Hominidae), indem sie zu jeder Spezies den durchschnittlichen Kalorienverbrauch errechneten und anschließend hypothetische Vertreter von jeweils gleicher Masse miteinander verglichen.
 
In Relation zur Körpergröße ergab sich dabei, dass ein Mensch täglich 400 Kalorien mehr verbraucht als ein Schimpanse oder Bonobo von gleichem Gewicht, um 635 mehr als ein Gorilla und gar um 820 mehr als ein Orang-Utan. Der absolute Verbrauch sieht aufgrund der erheblichen körperlichen Unterschiede etwa zwischen Gorillas oder Bonobos natürlich anders aus.
 
Knapp 200 Probanden
 
In die Studie, die im Fachmagazin "Nature" veröffentlicht wurde, sind Daten über 141 Menschen und 56 Zootiere eingeflossen: 27 Schimpansen, 8 Bonobos, 10 Gorillas und 11 Orang-Utans. Menschen wie auch Nichtmenschen wurden über sieben bis zehn Tage hinweg bei ihren täglichen Routinen unter Beobachtung gehalten, die Forscher maßen den Kalorienverbrauch sowohl in Ruhephasen als auch bei körperlicher Aktivität.
 
Die Daten der menschlichen Probanden wurden übrigens nicht auf dieselbe Weise erhoben wie die der anderen: Sie stammen aus einer separaten Studie, der Epidemiological Transition Study (METS). Die Teilnehmer daran kamen aus den USA, Südafrika, Ghana, den Seychellen und Jamaika.

Interpretationen
 
Studienerstautor Herman Pontzer vom New Yorker Hunter College sieht in den Ergebnissen die Ausgangshypothese bestätigt, dass Menschen eine höhere Metabolismusrate haben als andere Menschenaffen. Das, so der Forscher, habe dem Menschen ein "höheres Energiebudget" eingebracht und dieses die Entwicklung eines größeren Gehirns ermöglicht. Auch dass bei den Menschen im Schnitt ein wesentlich höherer Anteil an Körperfett festzustellen sei, passe ins Bild – es handle sich dabei um notwendige Reserven.
 
Im Nachhinein ist die Kausalität nicht mehr so einfach zu bestimmen: Menschen entwickeln ein größeres Gehirn, und dieses verbraucht mehr Kalorien. Pontzer und seine Kollegen glauben aber, dass sich ohne eine vorherige Veranlagung des Menschen zu einem schnelleren Metabolismus das größere Gehirn nicht entwickeln hätte können.
 
Die Forscher verweisen dabei auf die oft beklagte Veranlagung des Menschen, Fett anzusetzen. Unsere Verwandten hingegen würden vergleichsweise schlank bleiben – auch in Gefangenschaft, wo das Level an Aktivität gering ist. Was heute primär als gesundheitlicher Nachteil betrachtet wird, sei also ursprünglich ein evolutionärer Vorteil gewesen. (red.)


Abstract
Nature: "Metabolic acceleration and the evolution of human brain size and life history"



Nota. - Aber das ist doch eine olle Kamelle, dass das enorme Wachstum des Gehirns in der Familien Homo auf einen veränderten Energieumsatz zurückzufüren sei; allerdings ging es dabei nicht um die Menge, sondern auf die Qualität der Nahrung: Mit dem aufrechten Gang seien die Frühmenschen schließlich zu regelmäßigen Jäger geworden, die ständig eiweißhaltige Fleischkost zu sich nahmen (während selbst Schnimpansen nur ganz ausnahmsweise jagen). Es ist vor allem Eiweiß, das zum Gehirnaufbau nötig war.
JE

Donnerstag, 5. Mai 2016

'Information' als Wortschleier.

aus NZZ, 10. 10. 06 

Information als Legende 
Peter Janichs philosophischer Einspruch

von Bernhard Dotzler

Ein Missstand mehr in der Welt. Zu den vielen Unseligkeiten, die uns die beste aller Welten vergällen, zählt nach Ansicht des Marburger Philosophen Peter Janich auch die Inflationierung des Informationsbegriffs. «Allgegenwärtig», sagt er, «ist die Legende von der Naturalisierung der Information»: «Ob als Grundbegriff von Theorien des Kultürlichen oder als natürliche Erbinformation, ob als Namengeber einer jungen Wissenschaft oder als Politikum, ob als Bezugspunkt einer gewaltigen Technologie oder als Fixpunkt einer wirtschaftlichen Heilsbotschaft, die Legende von der Information hat viele Formen, Erzähler und Adressaten.»

Ginge es nur um diese Häufung, wäre Janichs Buch freilich nichts als ein Teil des inkriminierten Übels. Aber die Kritik gilt dem, was sein Autor die «Naturalisierung» der Information nennt, sowie dem Umstand, dass es sich dabei um eine «Legende» handelt. Den faktischen Stellenwert der Informationstechnologie zieht Janich nicht in Zweifel. Nur wenn darüber hinaus eine einseitig natur- und technikwissenschaftliche Zurichtung des Begriffs der Information die Folge ist, soll darin eine gefährliche Fehlentwicklung zu erkennen sein. «Naturalisierung» meint ebendiese Zurichtung. Es sei, klagt Janich an, regelrecht das Programm der Naturwissenschaften, die alleinige und deshalb auch die volle Zuständigkeit für Information zu beanspruchen. Statt dadurch aber zu einer Sache allein von Experten geworden zu sein, habe ausgerechnet dieser naturwissenschaftlich okkupierte Informationsbegriff – so unbemerkt wie effizient – weite Kreise gezogen. Insofern sei «Information als Naturgegenstand» zur «Legende» geworden: zu einer Geschichte, die man für wahr hält, ohne dass ihre Wahrheit gesichert wäre.

Aufklärung, sagt da der Philosoph, tut not. Das Argument, mit dem er sie leisten will, hat eine sehr einfache Grundform. «Information» gehört ursprünglich in den Zusammenhang menschlicher Kommunikation. Der Begriff ist oder war Element «einer Sprache, die üblicherweise nur auf redende und schreibende Menschen angewandt wird». Dasselbe Vokabular wurde dann jedoch herangezogen, um nachrichtentechnische Vorgänge zu beschreiben; und diese technischen Beschreibungen wiederum wurden auf Gebiete wie die Molekularbiologie und die Hirnforschung übertragen. Auf einmal schienen technische Objekte nicht anders als die Bausteine des menschlichen Genoms oder Gehirnzellen Eigenschaften des Menschen zu besitzen. Ja, in der neuen «Werbesprache» geschieht das Gleiche noch mit den einfachsten Dingen: «Da halten bei einem neuen Autotyp Form und Funktion Zwiegespräch, da erkennt ein Shampoo die Nöte des Haares… Immer, so scheint es, dient es der Aufwertung einer Sache, sie als sprachlich, kommunikativ oder kognitiv darzustellen.» So wird «spezifisch Menschliches» einerseits auf alle möglichen Bereiche ausgedehnt, während andererseits dieses Menschliche – Sprache, Kommunikation und Erkenntnis – längst «auf nachrichtentechnische Strukturen» reduziert worden ist.

Man kennt die Stoßrichtung dessen, was hier als «Kritik einer Legende» vorgetragen wird. Dass diese Art von Einspruch gegen den Reduktionismus einer naturwissenschaftlich-technisch dominierten Denk- und Redekultur einer solchen Neuauflage bedurft hätte oder dass er gar mehr hilft als die Regalmeter seit langem geführter Debatten, darf man mit Fug und Recht bezweifeln. Doch gibt es noch eine andere Lesart, welche diesem Buch vielleicht etwas mehr abzugewinnen erlaubt. Es ist auch, so schlicht wie darin verdienstvoll, eine Erinnerung an einige der kanonischen Texte zur Zeichen- und Informationstheorie: Texte von Morris, von Shannon und Weaver, von Wiener, von Turing.

Im Rückgang auf deren Aussagen aber ruft es einen heute fast vergessenen Impuls der Technikentwicklung des letzten halben Jahrhunderts ins Gedächtnis, die anfängliche Hoffnung nämlich, «Maschinen bauen zu können, die in ihren Leistungen von denen des Menschen ununterscheidbar sind». In den Medien werden die zugehörigen Phantasien durchaus noch gepflegt, man denke an Filme wie «I Robot» oder die Fortsetzung von «Ghost in the Shell», die unlängst in den Handel kam. Aber niemand würde die Medien selber für eine Realisierung jenes zweifelhaften Traums halten. Insoweit hat die Internetkultur ihn verdrängt. Das Menetekel trog, sagen die Marketingleute; das Menetekel, sagen die Philosophen, konnte und kann nicht eintreffen. Sieht man dagegen, welche kategorialen Überlagerungen die Menschen- und die Medienwelt dennoch in eins setzen, gilt es zu überlegen, ob es nicht doch längst wahr geworden ist. 

Peter Janich: Was ist Information? Kritik einer Legende. Suhrkamp-Verlag, Frankfurt am Main 2006. 181 S., Fr. 27.10.


Nota. Der Schluss ist überheblich. Allerdings ist das rezensierte Buch – womöglich um der Schärfe der Polemik willen – ein wenig halbherzig. –

Was ist falsch daran, wenn ich sage, nachdem ich gegen einen Stein getreten und ihm eine bestimmte Flug-richtung mitgeteilt habe, ich hätte ihm  "Information" gegeben? Es kommt immer auf den Sinnzusammen-hang an, in den diese Formulierung passt oder nicht passt. Es ist mystifizierend und wichtigtuerisch, das Wort in allen erdenklichen und am liebsten jenen Fällen zu gebrauchen, wo es nichts sagt, nämlich keine zusätzliche 'Information' mitteilt. Und wo passt es? Überall da, wo darauf abgesehen wird, dass einem Etwas eine Eigenschaft von außen hinzugefügt wird. Wo ein Organismus eine Eigenschaft sponte sua aus sich heraus entwickelt, ist es sinnlos und irreführend, wenn man sagt, er habe sich selber 'eine Information gegeben'.

Womit das Wort seine eigentliche Spitze nicht an dem bekommt, was es bezeichnet, sondern an dem, was es folglich nicht bezeichnet: Die unter Didaktikern gängige Vorstellung, 'Wissen' käme schlechthin nur als 'Information' zu Stande, entlarvt sich dadurch als später Widerhall des plumpsten philosophischen Dogma-tismus. Tatsächlich geschieht Information ja nicht aus dem Umstand, dass sie 'gegeben' oder 'genommen' wird, sondern indem eine Organismus sie 'sich zu eigen' macht. Erst diese Einsicht macht die Frage nach dem Anteil sinnvoll, den der freie Wille dabei spielt – und der Einfluss, den die Didaktik auf ihn nehmen kann. Merke: Nicht die Nachricht 'in/formiert' den Organismus, sondern ihre Zurkenntnisnahme.  
JE




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Mittwoch, 4. Mai 2016

Selektive Wahrnehmung: Auch das Herz filtert.

aus nzz.ch, 4.5.2016, 13:47 Uhr

Hirnforschung
Warum wir unser Herz nicht schlagen hören
Das menschliche Gehirn unterdrückt die Sinneseindrücke des eigenen Herzschlags, wie Lausanner Forscher herausgefunden haben. Das hilft dem Gehirn, die Aussenwelt ungestört wahrzunehmen – hat aber einen Preis. 

(sda) Meistens spüren wir unser Herz nicht schlagen. Verantwortlich ist eine Filterfunktion des Gehirns, wie ein Wissenschafterteam der ETH Lausanne (EPFL) im Fachjournal «The Journal of Neuroscience» berichtet. Die Forschenden hätten entdeckt, dass eine bestimmte Hirnregion darüber entscheidet, wie äussere und innere Sinneseindrücke zusammenspielen, schrieb die EPFL am Mittwoch in einer Mitteilung.



Den Wissenschaftern fiel auf, dass das menschliche Denkorgan visuelle Reize weniger effizient verarbeitet, wenn sie zeitgleich mit dem Herzschlag auftreten. «Wir sind nicht objektiv und wir sehen nicht alles, was auf unsere Netzhaut trifft, wie eine Videokamera», liess sich Studienautor Roy Salomon in der Mitteilung zitieren.

Das Herz beeinflusst, was wir sehen

Das Gehirn entscheide, welche Informationen ins Bewusstsein dringen sollen. «Aber überraschend ist, dass auch unser Herz beeinflusst, was wir sehen», so Salomon weiter.

Die Forschenden zeigten mehr als 150 Freiwilligen eine achteckige Form, die auf einem Bildschirm aufblinkte. Wenn das Bild gleichzeitig mit dem Herzschlag blinkte, hatten die Probanden mehr Mühe, die Form zu erkennen.

Anschliessend wiederholten die Wissenschafter das Experiment in einem Hirnscanner. Blinkte die Form nicht im Rhythmus des Herzschlags, funktionierte eine bestimmten Hirnregion, die sogenannte Inselrinde, normal, und die Probanden hatten keine Probleme, die Form zu erkennen.

Leuchtete das Bild im Takt mit dem Herzschlag auf, war die Inselrinde viel weniger aktiv, und die Teilnehmenden waren sich der Form, die sie sahen, weniger oder sogar gar nicht bewusst. Offenbar ist das die Kehrseite davon, dass das Hirn die Wahrnehmung des Herzschlags unterdrückt: Wir sind in diesem Moment auch weniger empfänglich für andere Sinneseindrücke.

Sinnvoller Filter

Interne Reize sollten nicht die Wahrnehmung äusserer Reize stören, sagte Salomon. «Da unser Herz schon schlug, als sich unser Gehirn noch formte, waren wir dem Herzschlag schon vom Beginn unserer Existenz an ausgesetzt.» Es sei daher nicht überraschend, dass das Gehirn die Wahrnehmung des Herzens grösstenteils unterdrücke.

Dass diese Filterfunktion Sinn ergibt, zeigt sich auch, wenn sie nicht richtig funktioniert. Sich des eigenen Herzschlags bewusst zu sein, hänge mit einer Reihe psychologischer Probleme zusammen, schrieb die EPFL.

Beispielsweise nehmen Patienten mit Angststörungen ihren Herzschlag viel deutlicher wahr als andere. Aber auch Personen ohne solche Probleme können ihren Herzschlag spüren, wenn sie zum Beispiel grosse Aufregung oder Angst erleben.

Ob Angststörungen Ursache oder Folge einer defekten Filterfunktion sind, sei indes nicht klar. «Wir wissen nur, dass wir uns meistens unseres Herzschlags nicht bewusst sind und dass eine bestimmte Hirnregion dafür zuständig ist, seine Wahrnehmung zu unterdrücken», so Salomon.


Nota. - Wir wissen, dass das Merken in zeitlichen Intervallen geschieht - der für uns selbstverständliche, aber unbegreifliche Unterschied von bewusst und unbewusst beruht darauf. Auch hier haben wir es mit ein Rhythmisierung des Für-wahr-Nehmens zu tun. Ist Rhythmus überhaupt eine Determinante unserer Geistigkeit? Verhalten sich unregelmäßige zu regelmäßigen Rhythmen u8ngefaähr so wie Dissonanzen zu Harmonien?
JE




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Dienstag, 3. Mai 2016

Empathie und Perpektivwechsel sind nicht dasselbe.

 aus scinexx 

Intensives Mitgefühl kann Verstehen beeinträchtigen
Starke Aktivität in Empathie-relevanten Hirnregionen hemmt Hirnbereiche für Verstehen
Wer empathisch ist, kann andere auch gut verstehen? Diese Gleichung geht Forschern zufolge nicht immer auf. Sie zeigen mit einem Experiment, dass überbordendes Einfühlen das kognitive Verstehen sogar beeinträchtigen kann. Demnach können die für die beiden Fähigkeiten zuständigen neuronalen Netzwerke einander hemmen. Die Folge: Fühlen wir intensiv und emotional mit, verstehen wir mitunter schlechter, was das Gegenüber weiß, plant oder will.
Die Fähigkeit, sich in die Gefühlswelt von anderen hineinversetzen zu können, ist bei Menschen unterschiedlich stark ausgeprägt. Veränderte Hirnaktivitäten machen Studien zufolge rund ein Fünftel der Bevölkerung zu besonders sensiblen und empathischen Personen. Im Umgang mit Mitmenschen kann diese Eigenschaft zum Vorteil werden. "Eine erfolgreiche soziale Interaktion basiert auf unserer Fähigkeit, an den Gefühlen anderer teilzuhaben", sagen Psychologen um Philipp Kanske vom Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig.

Ebenso wichtig wie Empathie ist es aber, die Gedanken und Absichten anderer erennen zu können. Doch können Menschen, die sich gut in andere hineinfühlen können, diese auch zwangsläufig gut verstehen? Dieser Frage ist das Team um Kanske nun nachgegangen – und hat Erstaunliches festgestellt.


Gute Empathie gleich gutes Verständnis?

Die Forscher wollten wissen, ob Empathie und die sogenannte kognitive Perspektivübernahme – also das Vermögen zu verstehen, was andere Menschen wissen, planen oder wollen – miteinander einhergehen. Dafür untersuchten sie, wie unterschiedliche Personen auf bestimmte Videosequenzen reagieren – und welche Hirnareale dabei aktiv sind.

Kanske und seine Kollegen zeigten rund 200 Studienteilnehmern eine Reihe von kurzen Filmen, in denen der Erzähler mal mehr, mal weniger emotional war. Anschließend sollten die Probanden angeben, wie sie sich selbst fühlten und wie sehr sie mit der Person in dem Film mitgefühlt hatten. Zudem mussten sie Fragen zu den Filmen beantworten, beispielsweise was die Personen gedacht, gewusst oder gemeint haben könnten.


Hirnaktivität im Blick 

Auf diese Weise identifizierten die Psychologen Probanden mit einem hohen Maß an Empathie. Anschließend untersuchten sie, wie die empathischen Menschen im Vergleich zu den weniger einfühlsamen bei dem Test zur kognitiven Perspektivübernahme abgeschnitten hatten. Hatten sie die Personen im Film womöglich auch besser verstanden?

Zudem beobachteten die Wissenschaftler mithilfe der funktionellen Magnetresonanztomographie, welche Bereiche des Gehirns der Teilnehmer während des Tests aktiv waren. "Uns interessierte, ob sich die für die beiden Leistungen Empathie und Perspektivübernahme zuständigen neuronalen Netze gegenseitig beeinflussen", schreiben die Forscher.


Starkes Mitgefühl beeinträchtigt Verstehen 

Die Hirnbilder offenbarten: Tatsächlich interagieren diese beiden Netzwerke im Gehirn miteinander – und sie scheinen sich gegenseitig ausbremsen zu können, wie die Wissenschaftler berichten. In sehr emotionalen Situationen, zum Beispiel wenn jemand vom Tod eines Freundes erzählt, kann demnach eine Aktivierung in einem Teil des Empathie-relevanten Netzwerkes, der sogenannten Insula, bei manchen Menschen einen hemmenden Einfluss auf die für die Perspektivübernahme relevanten Gehirnareale haben.

"Das führt wiederum dazu, dass überbordendes Einfühlen Verstehen sogar beeinträchtigen kann", schreiben Kanske und seine Kollegen. Ihre Studie habe gezeigt: "Menschen, die zu Mitgefühl neigen, sind demzufolge nicht notwendigerweise diejenigen, die andere Menschen kognitiv gut verstehen." 

Die Fähigkeit zur Empathie geht demnach nicht automatisch mit der Fähigkeit zum Verstehen einher. Vielmehr beruhe soziale Kompetenz auf verschiedenen und voneinander unabhängigen Fertigkeiten, so das Fazit der Forscher. So sollten Trainings, die das Ziel haben, soziale Kompetenz zu verbessern, die Bereitschaft sich in andere einzufühlen und die Fähigkeit, andere kognitiv zu verstehen, getrennt voneinander fördern, berichten sie. (Social Cognitive and Affective Neuroscience, 2016; doi: 10.1093/scan/nsw052)
(Julius-Maximilians-Universität Würzburg, 02.05.2016 - DAL)
Nota. -  Empathie und Perspektivwechsel sind nicht dasselbe. Sie haben 'miteinander zu tun', aber nicht als Verbündete, sondern als Rivalen. (Erkennen ist kein Identifizieren, sondern ein Unterscheiden.) JE




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