Mittwoch, 25. Mai 2016
Gregor Reisch's «Perle der Philosophie».
aus nzz.ch, 25. 5. 2016
Lies nur, dann wirst du gelehrt!
Die «Margarita philosophica» des Kartäusermönchs Gregor Reisch, ein Meilenstein der europäischen Ideengeschichte, liegt nun auf Deutsch vor.
von Ralf Konersmann
Die Perle ist ein besonderes Ding. Direkt aus der Natur hervorgegangen, verschliesst sie sich, einmal gerundet und vollendet, dem unablässigen Wandel der Zeit. Friedrich Ohly, der den Gehalt der Metapher erkundet hat, nennt zahllose Quellen aus Religion und Dichtung, in denen die himmlische Herkunft der Perle besungen wird. Ihr Glanz und die Kugelgestalt tun ein Übriges: Die Perle ist ein Vollkommenes, das dauert.
Das Wissen der Jahrhunderte
Die heutige Leserschaft muss sich die Mit- und Nebenbedeutungen der Metapher vor Augen halten, wenn sie die berühmte «Margarita philosophica» des Gregor Reisch zur Hand nimmt: «Die Perle der Philosophie». Ursprünglich als Lehrbuch für den universitären Unterricht gedacht, ist dieses Werk, das 1503 erstmals im Druck erschien und etliche Neuauflagen erlebte, doch weit mehr als das. Es versammelt, ordnet und erläutert das Wissen der vergangenen Jahrhunderte, um es an die kommenden Generationen weiterzugeben. Sein Anspruch verkörpert den Geist der Renaissance: Erstmals entsteht nun die Vorstellung eines allgemeinen, unabhängig von Nutzanwendungen geltenden Wissens. Gelegentlich tritt der Autor sogar ganz zurück (die «Margarita» erschien in mehreren Auflagen anonym), um das Wissen, als verstünde es sich von selbst, für sich sprechen zu lassen.
Dass der Erwerb all dieser Kenntnisse Mühe und Aufwand erfordert, versucht Reisch, anders als die Bildungsfunktionäre unserer Tage, erst gar nicht zu bemänteln. Doch der Glanz des Wissens, heisst es in der Verlagsbeilage des Jahres 1517, werde den Einsatz wert gewesen sein. Die Bildungsgeschichte Europas ging einst erstaunlich gelassen und selbstbewusst an den Start: «Lies nur, und du wirst gelehrt!»
Reisch, der zwischen 1467 und 1470 geboren wurde, muss ein fleissiger Arbeiter gewesen sein. Schon wenige Jahre nach dem Studium in Freiburg im Breisgau beginnt er mit der Niederschrift der «Margarita», die offenbar schon 1496 in den Hauptzügen vorlag. Die 1503 publizierte Erstausgabe zeigt Reisch zudem als begnadeten Pädagogen. Seine Sprache ist unprätentiös und stets auf der Höhe ihrer Gegenstände, ohne Allwissenheit vorzutäuschen. Wenn der Autor etwas nicht kennt oder unsicher ist, dann sagt er es.
Natürlich ist dieses Eingeständnis des Nichtwissens alles andere als naiv. Reisch hat seinen Platon gelesen und folgt der sokratischen Form des Dialogs. Der ganze gewaltige Stoff – zwölf Bücher mit über fünfhundert grossformatigen Seiten – präsentiert sich als Zwiegespräch zwischen Schüler und Lehrer. Während jedoch Sokrates immer wieder innehält, bohrt und beharrt, bleibt die Sprache des Magisters Reisch stets geschmeidig und im Fluss. «Wichtig» müssen die Gegenstände sein, um überhaupt Erwähnung zu finden, aber auch für beiläufig Hingeworfenes bleibt Raum. Das nachmals so viel besprochene Neutralpronomen «es» («es regnet», «es beginnt»), das noch Nietzsches subjektkritische Einwürfe beflügeln wird, gilt Reisch als Redeform, bei der man «Gott oder die Natur» mit verstehe. Noch in ihren entlegensten Partien hält die «Margarita» ihr übergreifendes Bildungsziel gegenwärtig: die über das Mitverstehen ermöglichte Teilhabe eines jeden am Grossen und Ganzen.
«Trivium» und «Quadrivium»
Die «Margarita» will ein Lehrbuch sein, ein Kanon, und Reisch zögert nicht, seine Favoriten gleich einleitend vorzustellen. Eine bemerkenswerte Illustration [s. u.] zeigt Nikostrate, die legendäre Erfinderin der lateinischen Sprache, wie sie den Schülern den Turm der Bildung aufschliesst, eine Art vertikal gestaltetes Symposion. Über mehrere Etagen gelangen die Schüler über die freien Künste nach oben: erst kommt, wie es sich gehört, das «Trivium»: Grammatik, Dialektik, Rhetorik, und dann das «Quadrivium»: Arithmetik, Geometrie, Musik, Astronomie. Auf der Empore warten die griechische und die römische Philosophie: Aristoteles und Seneca; und ganz an der Spitze hält Petrus Lombardus als Theologe und Metaphysiker die höchsten Formen der Erkenntnis bereit.
Es ist gar nicht zu übersehen: Mit seiner «Margarita» wollte Reisch die Lehre bestreiten – aber auch die Wohlgestalt und Festigkeit eines Gebäudes demonstrieren, in dem Glauben und Wissen zu dauerhafter Einheit gefunden haben. In dieser Welt des Turms leben Autoritäten aller möglichen Provenienz in auskömmlichem Miteinander, und Moses, «der Prophet, Theologe und Philosoph», steht einträchtig neben Aristoteles.
Die meistzitierte Autorität jedoch, auf die Reisch in allen Teilen dieses kolossalen Lehrwerks zu sprechen kommt, ist Augustinus, den er in seinen Freiburger Jahren gründlich studiert hat. Dabei ist weniger dieser Rückgriff selbst erstaunlich als dessen unverkrampfte Art. Reischs Augustinus ist kein Dogmatiker, sondern ein Weiser in der Tradition der antiken Lebenskunstlehren, ein Kenner der Menschen, wie es auch die Vertreter der dann noch im selben Jahrhundert heraufziehenden Moralistik sein wollen. Mit ihrer Art, das Wissen aufzufangen und nach allen Seiten auszustrahlen, ist die «Perle der Philosophie» ein Werk der Epochenschwelle, ein Werk des traditionsbewussten Aufbruchs; und man begreift, weshalb ein unabhängiger Geist wie Erasmus es geschätzt hat. Nach einem halben Jahrtausend liegt dieser Meilenstein der europäischen Ideengeschichte nun erstmals auf Deutsch vor, und das Ergebnis kann sich sehen lassen. Auf der Basis der letzten von Reisch selbst durchgesehenen Ausgabe von 1517 haben Otto und Eva Schönberger das Gelehrtenlatein behutsam übertragen und die Stellen, an denen der Text stockt oder springt, für den heutigen Leser kenntlich gemacht. Entstanden ist eine respektable Leseausgabe, die, wie es heisst, einmal einer «gültigen Version» weichen soll. In der jetzigen Form ist die deutsche Margarita eine Vorleistung im Blick auf eine künftige historisch-kritische Ausgabe. Nun ist es an den Stiftungen und wissenschaftlichen Akademien, für die Bergung und Politur dieser Perle zu sorgen.
Gregor Reisch: Margarita philosophica. Perle (Schatz) der Philosophie. Abdruck der vom Verfasser autorisierten verbesserten und vermehrten 4. Auflage, Basel 1517. Deutsche Übersetzung von Otto und Eva Schönberger. Königshausen & Neumann, Würzburg 2016. 540 S., Fr. 124.90.
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