Wie sozialer Wandel Worte macht
An der Häufigkeit der Verwendung einzelner Wörter in der Literatur kann man rekonstruieren, wie Gesellschaften sich über lange Zeiten verändert haben.
Von Jürgen Langenbach
"Gemeinschaft und Gesellschaft. Abhandlung des Socialismus und des Communismus als empirischer Culturformen“. Das Buch mit diesem gewundenen Titel begründete 1887 in Deutschland die Soziologie, es stammt von Ferdinand Thönnies und verstaubt heute allenfalls noch in den hintersten Winkeln der Fachbibliotheken. Aber nun hat Patricia Greenfield, Psychologin an der UC Los Angeles, den Klassiker ausgegraben und seine zentralen Begriffe übernommen, in deutscher Sprache, sie schreibt sie klein und kursiv: „gemeinschaft (community)“ und „gesellschaft (society)“. Thönnies definierte damit Weisen des Zusammenlebens: In der Gemeinschaft gliedern sich die Mitglieder in ein größeres Ganzes ein („Communismus“), in der Gesellschaft („Socialismus“) nabeln die Individuen sich ab. Und in diese Richtung sah Thönnies den Zug der Geschichte fahren.
So fuhr er auch, man kann es den unterschiedlichsten Indikatoren ablesen. Nun fügt Greenfield einen hinzu, den des Wandels der Sprache bzw. der Verwendung einzelner Wörter. Die sind, was das geschriebene amerikanische Englisch betrifft, von 1600 bis heute bei Google digitalisiert und können mit dem Google Books Ngram Viewer blitzschnell auf einzelne Wörter durchforstet werden, man kann etwa „duty“ eingeben, oder „decision“. Greenfield hat das für die 1.160.000 Bücher getan, die von 1800 bis 2000 in den USA erschienen sind.
Weniger „duty“, mehr „decision“
Der „duty“ erging es schlecht: Um 1800 war sie sieben Mal so häufig wie die „decision“, dann ging es stetig bergab, 1920 schnitten sich die Kurven, 2000 war der Gebrauch von „decision“ drei Mal so hoch wie der von „duty“. Ja, und? Die „Pflicht“ gehört zur gemeinschaft, und die gibt es vor allem auf dem Land – um 1800 lebten dort 93,9 Prozent der US-Bevölkerung –, die „Entscheidung“ hingegen gedeiht in der freien Stadtluft, die heute 79 Prozent der US-Bürger atmen. Und nicht nur „decision“ hat Karriere gemacht – und ihr ganzes Umfeld: „ego“, „unique“, „individual“, „self“ –, auch das Innenleben wurde mehr nach außen gestülpt („feel“ und „emotion“), und das Familiäre wurde häufiger Thema, etwa mit dem Wort „child“.
Im Gegenzug kam all das aus der Mode, was für gemeinschaft steht bzw. in ihr praktiziert wird, „obedience“, „authority“, „pray“. Und: „give“. In ihm bzw. seinem Pendant – „get“ – geht alles zusammen: Die Gemeinschaft teilt und gibt ab, die Individualisten der gesellschaft halten die Hand offen. Wieder um 1800 tauchte „give“ fünf Mal so oft in der Literatur auf wie „get“, dann näherten sich die Kurven, 1930 lag „get“ voran, heute wird es doppelt so oft verwendet wie „give“.
Aber zwischendurch schwächelte es, die USA kehrten zu den Tugenden der gemeinschaft zurück, in den 40er- und in den 60er-Jahren, Greenfield führt das auf den Weltkrieg bzw. die Bürgerrechtsbewegung zurück (Psychological Science, 7. 8.). Aber das ist die Ausnahme, generell schließt die Forscherin: „Die Befunde zeigen, dass der derzeit diskutierte Anstieg des Individualismus nichts Neues ist, sondern seit Jahrhunderten in Gang, angetrieben vom Wandel einer bäuerlichen zu einer städtischen Bevölkerung.“
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