Im Osten Deutschlands finden sich sowohl
blühende Landschaften wie auch Gebiete, die den Anschluss verloren
haben. Die Osthilfe sollte dieser Realität Rechnung tragen. In ihrer
jetzigen Form gehört sie abgeschafft.
von Matthias Benz, Berlin
Kanzlerin Merkel steht auf einer
Baustelle, um sie herum die Weiten des mecklenburgischen Landes, und
nippt an einem Latte macchiato. An diesem windigen, aber warmen
Frühsommertag feiert der Nahrungsmittelkonzern Nestlé im ostdeutschen
Schwerin die Grundsteinlegung für ein neues Kaffeekapsel-Werk, das
grösste seiner Art in Europa. Es herrscht grosser Bahnhof in der
Provinz. Nestlé-Chef Bulcke ist gekommen und prostet Merkel zu. Der
mecklenburg-vorpommerische Ministerpräsident Sellering strahlt mit
seinem Wirtschaftsminister um die Wette. Die Kanzlerin setzt dem Anlass
die Krone auf. Merkel, deren Wahlkreis in der Nähe liegt, hat eine
Stunde ihrer knappen Zeit geopfert, um die Bedeutung des Werks für die
Region zu unterstreichen.
Blühende Landschaften
Es sei ein Erfolg für die
Wirtschaftsförderung in Ostdeutschland, sagt die Kanzlerin in ihrer Rede
- die grösste einzelne Investition in Mecklenburg-Vorpommern seit der
Wiedervereinigung. Nestlé will hier 220 Mio. € investieren und 450
Arbeitsplätze schaffen. Sellering sieht es als Signal, dass das
wirtschaftsschwache Bundesland vorankommt. Man lässt die Gründe Revue
passieren, warum sich Nestlé für Schwerin entschieden hat. Der Hamburger
Hafen, weltgrösster Umschlagplatz für Rohkaffee, liege nur eine Stunde
entfernt und sei über die Autobahn hervorragend angeschlossen; die
wichtigen Absatzmärkte in Deutschland, Skandinavien und Osteuropa lägen
vor der Tür; es gebe hier gute Fachkräfte; die Landesregierung habe ein
grosszügiges Grundstück zur Verfügung gestellt und mit unbürokratischen
Genehmigungsverfahren geholfen. Aber es wird auch nicht verschwiegen:
Die öffentliche Hand zahlt einen erheblichen Investitionszuschuss von
22,5 Mio. €. Man lässt es sich mithin 50 000 € pro Arbeitsplatz
kosten, dass Nestlé hierherkommt.
Schwerin
Schwerin
Der Stadt Schwerin wird die
Ansiedlung sicher zum Vorteil gereichen. Sie steht ohnehin schon seit
einiger Zeit auf der glücklicheren Seite. Man profitiert davon, dass
Schwerin nach der Wende zur Hauptstadt des neuen Bundeslandes
Mecklenburg-Vorpommern auserkoren wurde. Das brachte Ministerien, viele
Arbeitsplätze und auch ein gewisses Niveau in die Region. Einige
Ansiedlungen von Firmen gelangen. Die Innenstadt wurde - wie fast
überall in Ostdeutschland - aufwendig saniert, die Infrastruktur stellt
sich in tadellosem Zustand dar. Die Stadt macht einen lebendigen
Eindruck, das Übrige tut die schöne Lage am Schweriner See. Es gibt
schlechtere Orte zum Leben.
So wie Schwerin finden sich viele
Gegenden in Ostdeutschland, in denen es vergleichsweise gut läuft. In
Mecklenburg-Vorpommern sind etwa Rostock und die Touristenregionen auf
Rügen und Usedom zu nennen. Weiter im Süden haben sich neben Berlin
Potsdam oder Dresden als Kraftzentren etabliert. Um Leipzig herum sind
Leuchtturmprojekte im Automobilbau entstanden, Porsche fertigt dort
mehrere Modelle, und BMW wird das Vorzeige-Elektroauto i3 bauen. In
Sachsen und Thüringen wiederum ist der unternehmerische Mittelstand
erstarkt. Nicht zuletzt hat man vielerorts erhebliche Fortschritte bei
der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit gemacht.
Diese positiven Entwicklungen
spiegeln sich in der Statistik. So haben sich etwa im
Bundesländer-Ranking der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM),
in dem regelmässig die Wirtschaftskraft bewertet wird, im Jahr 2012
erstmals die östlichen Bundesländer Sachsen und Thüringen vor ein
westdeutsches Bundesland (nämlich Bremen) geschoben. Das war ein
bezeichnender Moment. Offenbar haben sich im Osten Regionen
herausgebildet, in denen es um Wirtschaft und Wohlstand besser bestellt
ist als in gewissen Gegenden Westdeutschlands. Das zeigt sich auch mit
Blick auf die Arbeitslosigkeit. Mancherorts im Osten stellt sich die
Lage besser dar als in westdeutschen Problemregionen wie dem Ruhrgebiet
oder Bremen (vgl. Grafik).
Ein resignierter Stadtvater
Nicht überall in Ostdeutschland
allerdings läuft es rund. In Pasewalk sitzt Bürgermeister Rainer Dambach
in seinem Büro und sagt: «Wir haben hier schon so viele Firmen
anzusiedeln versucht, aber nur wenig hat wirklich geklappt.» Dambach
weiss, wovon er spricht. Er ist schon seit über zehn Jahren
Bürgermeister in der vorpommerischen Kleinstadt. Dambach wirkt nicht
deprimiert, aber auch nicht übertrieben hoffnungsvoll. Es ist halt, wie
es ist. Die Gegend um Pasewalk belegte im INSM-Regionalranking, das im
Jahr 2009 letztmals durchgeführt wurde, unter den 409 untersuchten
deutschen Landkreisen den unrühmlichen letzten Platz. Seither hat sich
nicht viel geändert. Die Arbeitslosenquote liegt bei annähernd 20%, die
Zahl der Hartz-IV-Bezieher ist hoch, laut den INSM-Zahlen sind kaum
irgendwo in Deutschland Kaufkraft, Produktivität und Steuerkraft
niedriger.
Gelsenkirchen
Gelsenkirchen
An der Infrastruktur liegt es auch
in Pasewalk nicht. Die Marienkirche aus dem 14. Jahrhundert ist schön
renoviert, der Marktplatz gibt etwas her, nach Pasewalk fährt man auf
makellosen Überlandstrassen durch die malerische Landschaft Vorpommerns.
Aber der Einbruch nach der Wende hat bis heute tiefe Spuren
hinterlassen. Das ehemalige Fleischkombinat ist nur noch ein Schatten
seiner selbst, aus der einst wichtigen Lebensmittelindustrie hat gerade
noch eine grössere Bäckereikette ihren Sitz in Pasewalk. Heute gehören
ein Callcenter und ein privates Krankenhaus zu den grössten
Arbeitgebern. Viele Menschen verloren nach der Wende ihre Arbeit, die
Bevölkerung in der Stadt schrumpfte um rund ein Viertel. Nicht wenige
von denen, die nicht abwanderten, sind bis heute arbeitslos geblieben.
Die Arbeitslosigkeit sei teilweise so verfestigt, dass man nur schwer
etwas dagegen unternehmen könne, sagt Bürgermeister Dambach.
Utopie der Gleichheit
Wenn der Stadtvater einen Wunsch
frei hätte, müsste er nicht lange überlegen. Schön wäre es, wenn einige
Ansiedlungen von grösseren Industriefirmen gelängen, damit Arbeitsplätze
in die Stadt kämen, neue Perspektiven für die Menschen entstünden, die
Steuereinnahmen stiegen und man das öffentliche Angebot verbessern
könnte. An staatlichen Fördermitteln fehlt es laut Dambach nicht. Auch
könnten Firmen und Private Grundstücke in Pasewalk weit günstiger
erwerben als in wirtschaftlichen Boomregionen West- und Ostdeutschlands.
Aber wie die schmerzliche Erfahrung zeigt, entschieden sich
interessierte Firmen jeweils doch für andere Standorte. Eine Konkurrenz
bildet etwa das nahe liegende Polen, besonders die dynamische Grossstadt
Stettin. Dort fänden Firmen ebenfalls eine gute «Förderkulisse» vor,
aber die Arbeitskosten seien niedriger. Für Pasewalk spricht auch nicht
gerade, dass die Gegend als Hochburg der Neonazis gilt. Man müsse die
Braunen gerade auch aus wirtschaftlichen Gründen bekämpfen, erklärt
Dambach resolut, weil sonst keine Firmen und Menschen hierherziehen
wollten.
Dambach hat allerdings zu viele
Erfahrungen gemacht, als dass er sich noch grosse Illusionen zu den
Zukunftschancen Pasewalks machen würde. Soll man in der Gegend
öffentliches Geld investieren, um das Wachstum zu fördern? Das hält der
Bürgermeister nicht für sinnvoll. Es gehe im Gegenteil darum, einen
unvermeidlichen Prozess der Schrumpfung so erträglich wie möglich zu
gestalten. Schon jetzt muss die finanzschwache Stadt ihre Mittel
zusammenhalten, um die Grundversorgung der Bevölkerung einigermassen
sicherzustellen. Man leistet sich noch ein Schwimmbad, eine Bibliothek,
ein Museum und ein Kulturforum. Geld wird in die Renovierung von
Kinderkrippen und Schulen gesteckt, die Innenstadt und die
Plattenbausiedlung werden weiter aufgewertet, die stark alternde
Bevölkerung muss versorgt sein. «Aber ich frage mich schon, wie lange
wir uns das alles noch leisten können.»
Kein Zweifel, Pasewalk hat den
Anschluss verloren. Utopisch wirkt der Anspruch des deutschen
Grundgesetzes, auch in solchen Regionen «gleichwertige
Lebensverhältnisse» herzustellen. Wie soll man mit diesem Widerspruch
umgehen? Dambach, der Realist aus Erfahrung, hat dazu eine ebenso
nüchterne wie klare Meinung. Städte wie Pasewalk benötigten weiter
Finanzhilfen, sonst könne man die Grundversorgung in der Fläche nicht
gewährleisten. Aber das bisherige Giesskannenprinzip der Osthilfe sei
überholt. Regionen wie Rostock oder Dresden brauchten keine spezielle
Förderung mehr, man müsse Hilfen vielmehr auf strukturschwache Gebiete
konzentrieren - ob diese nun im Osten lägen wie Pasewalk oder in
Westdeutschland wie Gelsenkirchen. «Das alte Denken in
Ost-West-Kategorien hat ausgedient.»
Ungeliebte Kritiker
Das ist ein grosses Wort, gelassen
ausgesprochen. Auch über zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung
gehört es zu den Tabuzonen der deutschen Politik, die Einstellung der
Ost-Förderung zu fordern. Das haben vor nicht allzu langer Zeit auch die
Autoren eines wissenschaftlichen Gutachtens im Auftrag des
Bundesinnenministeriums erfahren. Die renommierten
Wirtschaftsforschungsinstitute IWH Halle, DIW, Ifo Dresden, IAB und RWI
beleuchteten darin die wirtschaftlichen Perspektiven für Ostdeutschland.
Sie folgerten, die Angleichung der Wirtschaftskraft Ostdeutschlands an
westdeutsche Durchschnittswerte werde «in der absehbaren Zukunft nicht
möglich» sein. Die Politik müsse «von überzogenen Erwartungen abrücken»
und stärker auf die Entwicklungspotenziale in den einzelnen Regionen
fokussieren. Die Regionalpolitik werde dabei «zunehmend gesamtdeutsch zu
orientieren sein».
Ruhrgebiet
Ruhrgebiet
Solche Aussagen waren für die
Politik offenbar zu starker Tobak. Die Veröffentlichung des Gutachtens
wurde während geraumer Zeit verzögert, man konnte von persönlichen
Pressionen hören, erst nachdem der Fall publik geworden war, gab das
Innenministerium die Veröffentlichung frei. Die Gutachter trafen
offensichtlich einen wunden Punkt - obwohl viele Ökonomen seit langem
die Position vertreten, dass die Ost-Förderung überholt sei und auch
strukturschwache Gebiete im Westen stärker berücksichtigt werden
müssten.
Einer baldigen Reform der
Förderpolitik steht entgegen, dass die Zahl der Nutzniesser und der
politische Widerstand zu gross sind. Aber die Chancen stehen besser als
auch schon. Kanzlerin Merkel regte etwa jüngst an, die Ost-Förderung wie
geplant mit dem Ende des «Solidarpakts II» im Jahr 2019 auslaufen zu
lassen und sie dann zu einer gesamtdeutschen Förderpolitik umzubauen.
Der sich abzeichnende Gesinnungswandel liegt wohl darin begründet, dass
das Denken in Ost-West-Kategorien etwas aus der deutschen Öffentlichkeit
verdrängt worden ist. In den letzten Jahren war nicht die Osthilfe das
dominierende Thema, sondern die «Südhilfe» für die Krisenländer der
Euro-Zone. Gegenüber den riesigen Problemen in der Währungsunion rückten
die Defizite im eigenen Land in den Hintergrund.
Die grosse Reform wagen
Eine grundlegende Reform der
Ost-Förderung - und mit ihr der deutschen Regionalpolitik - käme
trotzdem einem grossen Schritt gleich. Sie müsste nämlich mit dem
Eingeständnis verbunden sein, dass sich «gleichwertige
Lebensverhältnisse» nicht verwirklichen lassen, und es wäre
anzuerkennen, dass Ostdeutschland den Anschluss nicht flächendeckend
schaffen wird. Das widerstrebt weitverbreiteten Gleichheitsvorstellungen
in Deutschland. Dennoch wäre es an der Zeit, dass man dieser Realität
ins Auge blickte. Es liesse sich dann ein System der Regionalförderung
entwickeln, das nicht Gleichheit mit der Brechstange erzwingen will,
sondern strukturelle Schwächen ernst nähme, im Übrigen aber stärker auf
die Eigenverantwortung und den Leistungswillen der regionalen Akteure
setzte.
Eine solche Reform müsste zwei
tiefgreifende Änderungen umfassen. Zum einen wäre das flächendeckende
System der Investitionszuschüsse abzuschaffen. Es hat zu einer
weitverbreiteten Gewöhnung an Subventionen geführt und untergräbt den
Anreiz zur Selbsthilfe. Zum andern müsste der innerdeutsche
Finanzausgleich, der faktisch einen wichtigen Teil der Ost-Förderung
darstellt, grundlegend umgebaut werden. Als Vorbild für eine Reform
könnte der Schweizer Föderalismus mit seinem neuen Finanzausgleich
dienen. Dieser verbindet kantonale Autonomie in Steuer- und
Standortfragen mit einem ausgebauten Finanzausgleich, der bei
strukturellen Schwächen ansetzt.
Gegenwärtig befindet sich der
deutsche Föderalismus noch sehr weit weg von einem solchen System (NZZ
vom 8. 2. 13). Lokale Steuerautonomie existiert praktisch nicht. Zudem
ebnet der Länderfinanzausgleich regionale Unterschiede in der
Finanzkraft fast vollständig ein. Das erstickt die Anreize zu einer
guten Finanz- und Wirtschaftspolitik in den Regionen im Keim. Im
Gegensatz dazu könnte eine auf regionaler Eigenverantwortung aufbauende
Reform eine heilsame Dynamik entstehen lassen. Die alte Ost-Förderung
hat sich abgenutzt. Ostdeutschland braucht neue Perspektiven.
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