Russland wird noch heute von Leuten regiert, die aus den kalten Tiefen des Sowjetsystems kommen.
Von Elena Chizhova
Am 19. August 1991 wurde in der
Sowjetunion der Versuch eines Staatsstreichs unternommen. Zu den
zauberhaften Klängen von «Schwanensee» warf man uns zurück in die
sowjetische Vergangenheit. In der Nacht zum 20. August (niemand von uns
war schlafen gegangen) meldete das Fernsehen: Panzer im Anmarsch auf
Leningrad. In dem Augenblick betrat ich mit einem Tablett voller
Teegeschirr den Raum. Mir zitterten die Hände, Tassen und Untertassen
flogen auf den Boden. Ich kroch auf den Knien herum und sammelte die
Scherben auf. Und in dieser Position vernahm ich: Um zehn Uhr morgens
würde auf dem Schlossplatz eine Kundgebung stattfinden. Während ich
wieder aufstand, fasste ich einen Entschluss: Ich muss da hin. Damals
war ich im dritten Monat schwanger. Heute ist meine Tochter stolz
darauf, dass sie ebenfalls teilgenommen hat an dieser Protestkundgebung,
als einhunderttausend Menschen auf den zentralen Platz der
Fünfmillionenstadt strömten.
Die Vergangenheit ruhen lassen?
Ende der achtziger und Anfang der
neunziger Jahre wurden Hunderte Bücher und Aufsätze publiziert, die das
menschenverachtende Wesen des Systems enthüllten. Artikel 6 der
Verfassung, in dem die uneingeschränkte Macht der KPdSU und ihrer
Ideologie festgeschrieben war, wurde für gesetzwidrig erklärt. Sämtliche
Träume der Intelligenzia schienen sich zu verwirklichen. In den
neunziger Jahren debattierte man über die Sowjetunion wie über etwas
längst Vergangenes. Die Stimmen ihrer Apologeten liess man als Tribut an
den Pluralismus gewähren: In einem freien Land hat jeder Mensch das
Recht, seinen Standpunkt zu äussern. Es gab im Übrigen auch Stimmen, die
eine offene und öffentliche Gerichtsverhandlung gegen die KPdSU
forderten, ähnlich den Nürnberger Prozessen. Diese Idee fand keine
breite Unterstützung, vielmehr setzte sich ein anderer Gedanke durch:
Man soll die Vergangenheit ruhen lassen, schliesslich hat die Geschichte
ihr Urteil bereits gefällt. Unsere Aufgabe war eine andere - einen
Bogen um diesen Haufen Staub zu machen.
Zu Beginn der 2000er Jahre aber
zeigte sich, dass die Asche, die nach Jahrhunderten der Sklaverei und
Jahrzehnten des Terrors zurückgeblieben war, an den Füssen haftete.
Unter dem einlullenden Gerede darüber, dass ein Rückfall in die
sowjetische Vergangenheit unmöglich sei, kamen Leute an die Macht, die
in den Tiefen des Systems erzogen worden waren. Für sie ist die
Geschichte des Landes nicht das Feld einer historischen Schlacht von
Lüge und Wahrheit, sondern eine Geheimdienstoperation mit dem Ziel, die
Macht zu bewahren und das Privateigentum zu mehren. Im Unterschied zu
ihren Vorgängern, den Mitgliedern der August-Junta, zittern ihnen nicht
die Hände und läuft ihnen nicht die Nase. Das KGB, ihre Alma Mater, hat
ihnen effizientes Handeln beigebracht. Schritt für Schritt ist es ihnen
gelungen, vieles von dem, was die Geschichte, so schien es, für immer
verworfen hatte, zu restituieren: Zensur im Fernsehen, unehrliche
Wahlen, die absolute Vorherrschaft einer einzigen politischen Partei.
Und nun, da sie glauben, die
Gegenwart im Griff zu haben, nehmen sich die jetzigen Machthaber die
Geschichte vor, und zwar zuallererst die ideologische Beeinflussung der
Kinder. Ihre Pläne beziehen auch diejenigen ein, die noch nicht geboren
sind: Schliesslich werden sie nach dem neuen Einheits-Lehrbuch für
Geschichte lernen müssen - eine Idee, die Putin persönlich geäussert
hat. Aus meiner Sicht ist das eines der gefährlichsten Projekte des
Kremls. Unter dem leeren Geschwätz davon, man werde die besten
Historiker als Mitverfasser beiziehen, erblickt ein halbsowjetischer
Wechselbalg das Licht der Welt, der die Sowjetunion in einer einzigen
Gestalt erscheinen lässt: die Grossmacht, die im Zweiten Weltkrieg
gesiegt und Gagarin in den Kosmos geschickt hat. Über alles andere,
namentlich über die Massenrepressionen der Stalinzeit, wird es
vorsichtig heissen: Es gab Auswüchse, aber keine besonders schlimmen . .
.
Vergleicht man mit den Lehrbüchern
meiner Generation, ist das schon ein gewaltiger Schritt nach vorn. Im
Unterschied zu den künftigen russischen Schülern sind wir in einem
historischen Vakuum aufgewachsen. Unsere Eltern redeten mit uns nicht
über die sowjetische Vergangenheit. Dieses Thema war tabu. Aus Furcht
vor unseren geschwätzigen Zungen behielten die Familien ihre
Erinnerungen, ihre Gedanken und Ängste für sich. Mein Vater hat sich nur
ein einziges Mal «verplappert», 1980. Damals lag er nach einer schweren
Operation auf der Intensivstation. Als ich zu ihm kam, war er noch
unter dem Einfluss der Narkose. Nachdem er die Augen aufgeschlagen und
mich erkannt hatte (er nannte mich beim Namen), versuchte er sofort,
seine Benommenheit zu überwinden, und befahl mir plötzlich: «Stell dich
an die Tür. Berija hat seine Leute schon losgeschickt. Lass niemanden
rein.» Ich sagte: «Keine Angst, ich stelle mich gleich an die Tür. Sie
kommen nicht rein. Ich lasse niemanden durch.» Er nickte: «Gut.» Er
glaubte mir und schlief wieder ein.
Die Schrecken der sowjetischen
Geschichte entdeckten wir selbst. Manchmal, wie in meinem Fall, mithilfe
der Lehrer. Es gab nicht viele, aber es gab sie - Lehrer, die dem
sowjetischen Einheits-Lehrbuch zu widersprechen wagten, wenn auch
natürlich nicht während des Unterrichts. Ich bin überzeugt, solche
Lehrer finden sich auch heute. Allerdings haben dieses Glück nicht alle
Kinder. Viele müssen sich auf sich selbst verlassen.
Die Angst in den Augen
Natürlich skizziere ich hier das
schlimmste Szenario, an dessen Erfolg ich, ehrlich gesagt, nicht glaube.
Man kann den Geist der Freiheit, der Ende aus der Flasche entwich,
nicht mehr zurücktreiben. Das wissen auch die heutigen Machthaber. Nicht
von ungefähr stand im Herbst und Winter 2011, als Tausende Bürger aus
Empörung über die Wahlfälschungen bei den Duma-Wahlen auf die Strasse
gingen, in ihren kalten, metallgrauen Augen die ANGST. Nicht die Angst,
die meinen Vater und Millionen seiner und meiner Mitbürger gequält
hatte. Ihre tief in den Genen steckende Angst war eine Erinnerung an die
Repressionen; diese hier war das Gespenst eines unrühmlichen Endes.
Die Tatsache, dass viele Menschen
der älteren und mittleren Generation der sowjetischen Vergangenheit und
einer «starken Hand» nachtrauern, ist leicht zu erklären. Die alles
durchdringende Korruption, die das heutige Regierungssystem
zusammenhält, die bestechlichen Gerichte, die ungeheure Diskrepanz
zwischen den Reichsten und den Ärmsten - kaum jemand begreift, dass die
Wurzeln dieser «Pflänzchen» in die sowjetische Vergangenheit oder sogar
noch weiter zurückreichen. Aber auch junge Menschen empfinden Nostalgie
nach der Sowjetunion. Natürlich bei weitem nicht alle. Manche spüren die
Anzeichen einer zunehmenden Sowjetisierung und ziehen es vor, in den
Westen auszureisen; andere entschliessen sich in der Hoffnung auf
bessere Zeiten zum Bleiben, und es bedrückt mich, wenn ich daran denke,
dass manche dieser Kinder auf der Anklagebank sitzen werden, auf der
Chodorkowski und Lebedew ebenso sassen wie die jungen Frauen von Pussy
Riot.
Wieder andere (glaubt man den
Umfragen, sind es ziemlich viele) spielen, begleitet vom Gemunkel der
Grosseltern, die von den sowjetischen Greueln aus unterschiedlichen
Gründen nicht betroffen waren, ein Computerspiel mit dem Titel «Das
Leben in der Sowjetunion». In diesem virtuellen Raum, den sie für die
sowjetische Vergangenheit halten, herrscht «Freundschaft unter den
Völkern», hier floriert «die Fürsorge der Partei für den einfachen
Menschen». Grosse Bücher werden geschrieben und bedeutende Filme
gedreht. In dem Spiel gibt es nicht die Option herauszufinden, um
welchen Preis das geschieht. Es gibt keine leeren Ladentische, keinen
Eisernen Vorhang, keine stumpfsinnigen Parteiversammlungen, keine
Denunzianten, keine Verzweiflung und keine Machtlosigkeit angesichts
dessen, dass dein Leben offenkundig schon gelaufen ist - alle wichtigen
Entscheidungen treffen diejenigen für dich, deren sorgfältig
retuschierte Gesichter von den Feiertags-Plakaten herunterblicken. Die
heutigen Herrscher stammen von ihnen ab. Sie, die Mitglieder der
«inneren Partei» (wenn man an Orwell denkt), empfinden zivilen Dissens
als persönliche Beleidigung und unternehmen alles Mögliche, um zu einer
Vergangenheit zurückzukehren, wo man diejenigen, die nicht einverstanden
waren, an einer Hand abzählen konnte: Sie reanimieren die alten
sowjetischen Mythen, sie kokettieren mit dem «einfachen Volk» und hetzen
es gegen die Intelligenzia auf, sie manipulieren Wahlergebnisse, sie
tauschen die Plätze wie in einer billigen Jahrmarktsposse.
Mir scheint, ich kann ihre
Gedanken lesen, schliesslich sind sie mehrheitlich in meinem Alter. Wir
sind im selben Land aufgewachsen. Freilich sind sie im Gegensatz zu
denjenigen, die 1991 auf die Strasse gingen, die perfekte Verkörperung
des Typus Sowjetmensch, wie er sich zum Ende der Breschnew-Ära
herausgebildet hatte. Ihr Bewusstsein ist deformiert von der
sowjetischen Ideologie, die zum Katzbuckeln und zur Lüge nötigte. Wenn
ich ihre Reden höre, frage ich mich nie, ob sie die Wahrheit sagen.
Sogar wenn sie die Wahrheit sagen, lügen sie - in den neunziger Jahren,
als sie die sowjetische Vergangenheit «aufrichtig» anprangerten, ebenso
wie heute, wenn sie der Grösse dieser Vergangenheit Hosianna singen und
unsere Kinder verführen. Sie haben keine Ideale, keine unverbrüchlichen
Werte - weder «westliche» noch «östliche». Aber sie haben pragmatische
Ziele.
Ich sage meiner Tochter: Schau
genau hin, es ist ganz einfach. Es scheint nur so, als trügen sie
westliche Designermode. In Wirklichkeit haben sie ihre durchtrainierten
Körper in Anzüge aus der Fabrik «Bolshevichka» gekleidet. Es scheint nur
so, als dufteten sie nach teurem Parfum. In Wirklichkeit riechen sie
nach sowjetischer Pestilenz - da bleibt nur noch, sich die Nase
zuzuhalten. Es scheint nur so, als benutzten sie iPhones und iPads - sie
und ihre Anhänger (die Mehrheit der Bevölkerung, die «dafür» stimmt)
leben im sowjetischen Mittelalter, und da gibt es keine Gadgets.
Wir, die Minderheit, die «dagegen» stimmt, haben eine historische Niederlage erlitten - das höre ich in der letzten Zeit immer häufiger. Blickt man zurück auf die neunziger Jahre, muss man zugeben, dass diese Worte ein Körnchen Wahrheit enthalten: Im Unterschied zu den heutigen russischen Machthabern waren wir «ineffiziente Manager» - in der Euphorie der Freiheit, die über uns hereingebrochen war, stiessen wir keinen Espenpfahl in den sowjetischen Sarg. Heute verstehe ich, dass ein Land, in dem, wie man bei uns sagt, «die eine Hälfte gesessen und die andere sie eingesperrt hat», dafür weit mehr Zeit benötigt als fünfundzwanzig relativ demokratische Jahre.
Es mag anmassend klingen, aber
wenn ich am Schreibtisch sitze, scheint mir zuweilen, ich würde von
neuem auf dem Platz stehen und meine Kinder verteidigen. Aber mir tun
auch die anderen leid - diejenigen, die an eine «sowjetische Zukunft»
glauben. Wenn ihnen diese Pestilenz schon nicht erspart bleibt, so hoffe
ich zumindest, dass sie nicht die schwerste Form von Sowjetnostalgie
durchmachen müssen.
Elena Chizhova, 1957 geboren, lebt als Schriftstellerin in St. Petersburg. Sie ist Direktorin des Petersburger PEN. Ihre bisher acht Romane wurden mehrfach ausgezeichnet, 2009 erhielt sie den angesehenen russischen Booker-Preis für ihren Roman «Die stille Macht der Frauen» (dtv 2012). - Aus dem Russischen von Dorothea Trottenberg.
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