Indiens Traum vom Aufstieg verblasst
Indien wurde lange als potenzielles «zweites China» angesehen. Doch die Zeiten mit zweistelligen Zuwachsraten sind vorbei. Stattdessen kämpft das Land mit einer grassierenden Inflation, und die Wachstumsrate ist unlängst unter 5 Prozent gefallen.
von Sascha Zastiral, Bangkok
Indiens reichster Mann ist kein
Freund von Understatements. In seiner Rede vor der alljährlichen
Hauptversammlung seines Reliance-Konzerns Anfang Juni in Mumbai betonte
Mukesh Ambani, flankiert von Leibwächtern mit Maschinengewehren, seinen
«unerschütterlichen Glauben an Indien». Er sei davon überzeugt, dass
Indien das Potenzial habe, eine globale Führungsposition einzunehmen,
sagte er. Mehr noch: Indien werde einen «bedeutenden Wandel» der
Weltordnung herbeiführen. Sein Publikum war begeistert.
Vom Höhenflug ins Jammertal
Noch vor wenigen Jahren hätten
Ambani viele Beobachter aus aller Welt sogar zugestimmt. Denn Indien hat
über Jahre Wachstumsraten um die 10% erzielt. Indien war China auf den
Fersen. Westliche Regierungschefs pilgerten mit Wirtschaftsführern im
Anhang nach Delhi und lobten in schwungvollen Reden die vermeintlich
unaufhaltsam aufstrebende neue Supermacht.
Heute ist von der damals
verspürten Hochstimmung nicht mehr viel übrig. Die Wachstumsrate hat
sich auf unter 5% eingependelt. Die Industrieproduktion stagniert seit
zwei Jahren, Arbeitsplätze werden abgebaut, die Teuerungsrate liegt bei
Verbrauchsgütern nunmehr bei über 10%. Anleger aus dem Ausland ziehen,
von den Entwicklungen neueren Datums verschreckt, ihre Gelder ab. Das
Leistungsbilanzdefizit lag zuletzt bei nahezu 5% des
Bruttoinlandprodukts (BIP), was die Rupie in eine Abwärtsspirale
getrieben hat. Im Laufe des Monats hat Indiens Währung gegenüber dem
US-Dollar den tiefsten Stand aller Zeiten erreicht.
Indische Firmen, die Kredite in
ausländischen Währungen aufgenommen haben, werden von ihren Schulden
daher zunehmend erdrückt. Anand Sharma, Minister für Handel und
Industrie, räumte vor wenigen Tagen ein, dass Indien eine negative
Handelsbilanz gegenüber etwa achtzig Staaten habe.
Korruption und Willkür
Viele der Probleme sind
hausgemacht. Indiens Politiker waren offenbar - wie viele Mitglieder von
Indiens neuer Mittelschicht - der Illusion erlegen, dass ihr Land auf
dem besten Weg sei, eine Supermacht zu werden. Die Politik unternahm
kaum etwas, um die Bedingungen für ausländische Investoren zu
vereinfachen. Selbst in den Boom-Jahren fanden sich willige Investoren
in den Fängen von Indiens kolossaler Bürokratie wieder. Indiens
damaliger Finanzminister Pranab Mukherjee, heute der Präsident des
Landes, schockierte im vergangenen Jahr Investoren mit der Ankündigung
neuer Steuern. Einige der Abgaben sollten gar rückwirkend erhoben
werden. Nach einer Intervention der US-Botschaft stellte Mukherjee
zumindest klar, dass ausländische Investitionen von den rückwirkend
erhobenen Steuern nicht betroffen sein sollten. Ein Teil der Pläne
verschwand wieder in der Schublade. Das Vertrauen potenzieller
Investoren war jedoch dahin.
Auch die grossen
Korruptionsskandale der jüngsten Zeit haben ihren Anteil am Abschwung.
Ein Gericht hat im Februar 2012 die Stornierung von 122
Mobilfunk-Lizenzen angeordnet, nachdem bekanntgeworden war, dass deren
Vergabe vier Jahre zuvor unsauber und vermutlich begleitet von
Schmiergeldzahlungen erfolgt war. Der damals zuständige Minister wurde
verhaftet. Von der Stornierung der Lizenzen waren auch ausländische
Konzerne betroffen.
Das Debakel «Coalgate»
Noch folgenreicher für das Land war «Coalgate»: Indiens oberste Rechnungsprüfungsbehörde legte im März 2012 einen Bericht vor, wonach die Regierung in den Jahren 2004 bis 2009 Lizenzen für die Bewirtschaftung einiger der grössten Kohlefelder des Landes auf ineffiziente Weise vergeben hat, anstatt sie öffentlich auszuschreiben. Der Staatskasse sollen dadurch geschätzte 34 Mrd. $ entgangen sein. Zugleich arbeitet der staatliche Kohlekonzern Coal India mit seinen mehr als 370 000 Angestellten so unwirtschaftlich, dass in Indien jedes Jahr nur ein Bruchteil der Kohle gefördert wird, die möglich wäre. So kommt es, dass Indien zwar über einige der grössten Kohlevorkommen der Welt verfügt, aber trotzdem teure Kohle aus dem Ausland importieren muss. Das lässt das Aussenhandelsdefizit weiter steigen.
'Das Problem bei der Kohleförderung
wirkt sich direkt auf die Probleme bei der Stromversorgung aus. Deren
Produktion ist in Indien so unrentabel, dass sich Privatunternehmen
davor scheuen, Kraftwerke zu bauen. Hinzu kommt, dass grosse Mengen an
Strom in der maroden Infrastruktur verloren gehen oder gestohlen werden.
Viele Gliedstaaten verschenken Strom an Bauern, was den Anreiz für
Investitionen in diesem Bereich weiter senkt. Die Folge sind Engpässe im
ganzen Land. Selbst in der Hauptstadt fällt in den meisten Stadtteilen
der Strom fast täglich für mehrere Stunden aus. Viele Analytiker sehen
eine der Hauptursachen dafür, dass Indiens Wirtschaft so massiv
eingebrochen ist, darin, dass die industrielle Produktion nur eine
untergeordnete Rolle spielt. Anders als in den meisten Schwellenländern
liegt der Anteil der Produktion am BIP in Indien seit Jahrzehnten bei
lediglich 15-17%. Weiter wird geschätzt, dass 94% der Inderinnen und
Inder im informellen Sektor tätig sind. Viele von ihnen stellen in
Kleinstbetrieben Produkte her, die selten für den Export geeignet sind.
An diesem Missstand hat sich auch in der Phase hohen Wachstums in den
Jahren 2003 bis 2011 wenig geändert. Doch zumindest hier gibt es einen
Lichtblick: Viele Beobachter glauben, dass ein niedriger Wechselkurs der
Rupie dem Industriesektor Impulse vermittelt.
Mit Fragen wie dieser wird sich in
Kürze Raghuram Rajan auseinandersetzen müssen. Der Star-Ökonom, zurzeit
Chefberater des Finanzministeriums, soll im September Devvuri Subbarao
als Leiter der Reserve Bank of India (RBI), der Zentralbank Indiens,
ablösen. Auch Rajan ist, ähnlich wie der Unternehmer Ambani, ein Freund
klarer Worte. Schon vor Jahren sagte er, Wachstum könne nicht als
gegeben hingenommen werden; Selbsttäuschung bedeute den ersten Schritt
in Richtung Katastrophe. Nur hat ihm damals kaum jemand zugehört. Rajans
Aufgabe als Zentralbankchef wird keine einfache sein. Um die Rupie zu
stabilisieren, hat die RBI kürzlich eine Reihe von Massnahmen ergriffen,
um die Liquidität innerhalb des Bankensystems und damit das Risiko
einer weiteren Abwertung zu verringern. Das wiederum könnte eine
Kreditknappheit auslösen, was negativ auf die Wirtschaft durchschlagen
würde.
Schatten der nächsten Wahlen
Rajan wird wohl eine ganze Weile
lang damit beschäftigt sein, die richtige Balance zwischen Stabilität,
Inflation und Wirtschaftswachstum zu finden. Doch auch die Regierung
kommt nach langem Zögern langsam wieder in die Gänge. Vor kurzem hat
Premierminister Manmohan Singh einige Regulierungen zurückgenommen und
wirtschaftliche Reformen in Aussicht gestellt. Von den kühnen und
entschiedenen Reformen, die laut eigener Einschätzung des
Premierministers notwendig wären, um Indien wieder in Fahrt zu bringen,
fehlt jedoch weiterhin jede Spur. Und das vermutlich aus gutem Grund: Im
kommenden Jahr sollen landesweite Parlamentswahlen abgehalten werden.
Die Regierung ist offenbar nicht gewillt, durch Reformen potenzielle
Wähler zu vergraulen oder den Unmut von Koalitionspartnern auf sich zu
ziehen.
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