Sonntag, 11. August 2013

Es war einmal ein Tigerstaat.

aus NZZ, 10. 8. 2013

Indiens Traum vom Aufstieg verblasst
 
Die endemische Korruption steht nachhaltigen wirtschaftlichen Erfolgen im Weg

Indien wurde lange als potenzielles «zweites China» angesehen. Doch die Zeiten mit zweistelligen Zuwachsraten sind vorbei. Stattdessen kämpft das Land mit einer grassierenden Inflation, und die Wachstumsrate ist unlängst unter 5 Prozent gefallen.

von Sascha Zastiral, Bangkok

Indiens reichster Mann ist kein Freund von Understatements. In seiner Rede vor der alljährlichen Hauptversammlung seines Reliance-Konzerns Anfang Juni in Mumbai betonte Mukesh Ambani, flankiert von Leibwächtern mit Maschinengewehren, seinen «unerschütterlichen Glauben an Indien». Er sei davon überzeugt, dass Indien das Potenzial habe, eine globale Führungsposition einzunehmen, sagte er. Mehr noch: Indien werde einen «bedeutenden Wandel» der Weltordnung herbeiführen. Sein Publikum war begeistert.

Vom Höhenflug ins Jammertal

Noch vor wenigen Jahren hätten Ambani viele Beobachter aus aller Welt sogar zugestimmt. Denn Indien hat über Jahre Wachstumsraten um die 10% erzielt. Indien war China auf den Fersen. Westliche Regierungschefs pilgerten mit Wirtschaftsführern im Anhang nach Delhi und lobten in schwungvollen Reden die vermeintlich unaufhaltsam aufstrebende neue Supermacht.

Heute ist von der damals verspürten Hochstimmung nicht mehr viel übrig. Die Wachstumsrate hat sich auf unter 5% eingependelt. Die Industrieproduktion stagniert seit zwei Jahren, Arbeitsplätze werden abgebaut, die Teuerungsrate liegt bei Verbrauchsgütern nunmehr bei über 10%. Anleger aus dem Ausland ziehen, von den Entwicklungen neueren Datums verschreckt, ihre Gelder ab. Das Leistungsbilanzdefizit lag zuletzt bei nahezu 5% des Bruttoinlandprodukts (BIP), was die Rupie in eine Abwärtsspirale getrieben hat. Im Laufe des Monats hat Indiens Währung gegenüber dem US-Dollar den tiefsten Stand aller Zeiten erreicht.

Indische Firmen, die Kredite in ausländischen Währungen aufgenommen haben, werden von ihren Schulden daher zunehmend erdrückt. Anand Sharma, Minister für Handel und Industrie, räumte vor wenigen Tagen ein, dass Indien eine negative Handelsbilanz gegenüber etwa achtzig Staaten habe.

Korruption und Willkür

Viele der Probleme sind hausgemacht. Indiens Politiker waren offenbar - wie viele Mitglieder von Indiens neuer Mittelschicht - der Illusion erlegen, dass ihr Land auf dem besten Weg sei, eine Supermacht zu werden. Die Politik unternahm kaum etwas, um die Bedingungen für ausländische Investoren zu vereinfachen. Selbst in den Boom-Jahren fanden sich willige Investoren in den Fängen von Indiens kolossaler Bürokratie wieder. Indiens damaliger Finanzminister Pranab Mukherjee, heute der Präsident des Landes, schockierte im vergangenen Jahr Investoren mit der Ankündigung neuer Steuern. Einige der Abgaben sollten gar rückwirkend erhoben werden. Nach einer Intervention der US-Botschaft stellte Mukherjee zumindest klar, dass ausländische Investitionen von den rückwirkend erhobenen Steuern nicht betroffen sein sollten. Ein Teil der Pläne verschwand wieder in der Schublade. Das Vertrauen potenzieller Investoren war jedoch dahin.

Auch die grossen Korruptionsskandale der jüngsten Zeit haben ihren Anteil am Abschwung. Ein Gericht hat im Februar 2012 die Stornierung von 122 Mobilfunk-Lizenzen angeordnet, nachdem bekanntgeworden war, dass deren Vergabe vier Jahre zuvor unsauber und vermutlich begleitet von Schmiergeldzahlungen erfolgt war. Der damals zuständige Minister wurde verhaftet. Von der Stornierung der Lizenzen waren auch ausländische Konzerne betroffen.

Das Debakel «Coalgate»

Noch folgenreicher für das Land war «Coalgate»: Indiens oberste Rechnungsprüfungsbehörde legte im März 2012 einen Bericht vor, wonach die Regierung in den Jahren 2004 bis 2009 Lizenzen für die Bewirtschaftung einiger der grössten Kohlefelder des Landes auf ineffiziente Weise vergeben hat, anstatt sie öffentlich auszuschreiben. Der Staatskasse sollen dadurch geschätzte 34 Mrd. $ entgangen sein. Zugleich arbeitet der staatliche Kohlekonzern Coal India mit seinen mehr als 370 000 Angestellten so unwirtschaftlich, dass in Indien jedes Jahr nur ein Bruchteil der Kohle gefördert wird, die möglich wäre. So kommt es, dass Indien zwar über einige der grössten Kohlevorkommen der Welt verfügt, aber trotzdem teure Kohle aus dem Ausland importieren muss. Das lässt das Aussenhandelsdefizit weiter steigen.

'Das Problem bei der Kohleförderung wirkt sich direkt auf die Probleme bei der Stromversorgung aus. Deren Produktion ist in Indien so unrentabel, dass sich Privatunternehmen davor scheuen, Kraftwerke zu bauen. Hinzu kommt, dass grosse Mengen an Strom in der maroden Infrastruktur verloren gehen oder gestohlen werden. Viele Gliedstaaten verschenken Strom an Bauern, was den Anreiz für Investitionen in diesem Bereich weiter senkt. Die Folge sind Engpässe im ganzen Land. Selbst in der Hauptstadt fällt in den meisten Stadtteilen der Strom fast täglich für mehrere Stunden aus. Viele Analytiker sehen eine der Hauptursachen dafür, dass Indiens Wirtschaft so massiv eingebrochen ist, darin, dass die industrielle Produktion nur eine untergeordnete Rolle spielt. Anders als in den meisten Schwellenländern liegt der Anteil der Produktion am BIP in Indien seit Jahrzehnten bei lediglich 15-17%. Weiter wird geschätzt, dass 94% der Inderinnen und Inder im informellen Sektor tätig sind. Viele von ihnen stellen in Kleinstbetrieben Produkte her, die selten für den Export geeignet sind. An diesem Missstand hat sich auch in der Phase hohen Wachstums in den Jahren 2003 bis 2011 wenig geändert. Doch zumindest hier gibt es einen Lichtblick: Viele Beobachter glauben, dass ein niedriger Wechselkurs der Rupie dem Industriesektor Impulse vermittelt.

Mit Fragen wie dieser wird sich in Kürze Raghuram Rajan auseinandersetzen müssen. Der Star-Ökonom, zurzeit Chefberater des Finanzministeriums, soll im September Devvuri Subbarao als Leiter der Reserve Bank of India (RBI), der Zentralbank Indiens, ablösen. Auch Rajan ist, ähnlich wie der Unternehmer Ambani, ein Freund klarer Worte. Schon vor Jahren sagte er, Wachstum könne nicht als gegeben hingenommen werden; Selbsttäuschung bedeute den ersten Schritt in Richtung Katastrophe. Nur hat ihm damals kaum jemand zugehört. Rajans Aufgabe als Zentralbankchef wird keine einfache sein. Um die Rupie zu stabilisieren, hat die RBI kürzlich eine Reihe von Massnahmen ergriffen, um die Liquidität innerhalb des Bankensystems und damit das Risiko einer weiteren Abwertung zu verringern. Das wiederum könnte eine Kreditknappheit auslösen, was negativ auf die Wirtschaft durchschlagen würde.

Schatten der nächsten Wahlen

Rajan wird wohl eine ganze Weile lang damit beschäftigt sein, die richtige Balance zwischen Stabilität, Inflation und Wirtschaftswachstum zu finden. Doch auch die Regierung kommt nach langem Zögern langsam wieder in die Gänge. Vor kurzem hat Premierminister Manmohan Singh einige Regulierungen zurückgenommen und wirtschaftliche Reformen in Aussicht gestellt. Von den kühnen und entschiedenen Reformen, die laut eigener Einschätzung des Premierministers notwendig wären, um Indien wieder in Fahrt zu bringen, fehlt jedoch weiterhin jede Spur. Und das vermutlich aus gutem Grund: Im kommenden Jahr sollen landesweite Parlamentswahlen abgehalten werden. Die Regierung ist offenbar nicht gewillt, durch Reformen potenzielle Wähler zu vergraulen oder den Unmut von Koalitionspartnern auf sich zu ziehen.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen