Die Definition der Schizophrenie geht auf den
Zürcher Psychiater Eugen Bleuler zurück. Das Krankheitsbild hätte sich
nicht etabliert, hätte es nicht Antworten auf die drängenden Fragen des
«Fin de siècle» versprochen.
von Urs Hafner
Wahrscheinlich wäre Eugen Bleuler
vom Status, den die Schizophrenie heute in der Psychiatrie innehat,
nicht angetan, obschon sie breit anerkannt ist. Er wäre wohl der
Meinung, sie werde zu isoliert von den gesellschaftlichen Entwicklungen
behandelt. Freudig überrascht wäre er hingegen von ihrer «Popularität».
Sie ist wohl die bekannteste psychische Krankheit. In den Augen der
Öffentlichkeit zeugt sie etwas diffus von einer unheimlichen Spaltung
der Persönlichkeit.
Der Zürcher «Irrenarzt» Eugen
Bleuler, der 1939 starb, prägte um 1908 den Begriff sowie das
Krankheitsbild der Schizophrenie und setzte sich mit allen Kräften für
dessen Etablierung ein. Weshalb ihm dies gelang und was für ihn und
seine Mitstreiter «Schizophrenie» bedeutete, legt Brigitta Bernet in
ihrer herausragenden Dissertation dar. Sich auf den
Wissenschaftssoziologen Ludwig Fleck beziehend, macht die Historikerin
vor allem eins deutlich: Damit sich ein wissenschaftliches Paradigma
durchsetzen kann, müssen viele Bedingungen erfüllt sein - die
«Genialität» des Forschers oder die «Wahrheit» seines Konzepts allein
reichen nicht.
Ordnung in der Umwälzung
Mit dem flexiblen Krankheitsbild
der Schizophrenie antwortete Bleuler mehrfach auf Herausforderungen
seiner Zeit. Zum einen war die Psychiatrie um die Wende zum 20.
Jahrhundert in eine schwere Krise geraten. Statt dass sie, wie der
fortschrittsoptimistische Liberalismus gehofft hatte, die in den
Anstalten verwahrten Irren heilte, sah sie sich mit überfüllten Kliniken
konfrontiert. Dazu trug die Psychiatrie selbst bei, indem sie mit den
Behörden die durch Industrialisierung und Urbanisierung verschärfte
«soziale Frage» bewältigen wollte und dabei die Diagnose der «Dementia
praecox» favorisierte: Die neue Krankheit galt als unheilbar.
Brigitta Bernet: Schizophrenie. Entstehung
und Entwicklung eines psychiatrischen Krankheitsbilds um 1900.
und Entwicklung eines psychiatrischen Krankheitsbilds um 1900.
Zum anderen herrschte auch in der
Gesellschaft des «Fin de siècle» eine Krisenstimmung vor, ebenfalls
hervorgerufen durch die sozialen Umwälzungen. Ein Schlüsselbegriff, über
den politische Gruppierungen und die bürgerlichen Reformbewegungen -
allen voran die einflussreiche Abstinenzbewegung - die ideale Ordnung
verhandelten, war die «Assoziation»: Wie sollten die Menschen
untereinander rechtlich und moralisch verbunden sein, damit «das Volk»
gesund blieb und nicht weiter ins Verderben schlitterte? Auch in
Bleulers Lehre spielte die «Assoziation» eine wichtige Rolle. Inspiriert
von der Psychoanalyse, postulierte er, dass bei den Schizophrenen, die
an Wahnideen, Halluzinationen und Autismus litten, die
Assoziationsfähigkeit durcheinandergeraten gewesen sei, was sich in
mannigfachen Sprachstörungen manifestiere.
Hinter Bleulers Diagnose stand
laut der Autorin einerseits das «Ideal des wohltemperierten Subjekts»,
das sich besonnen und wohlformuliert artikulierte, und andererseits das
liberale politische Ideal der freien Assoziation der Menschen. Freilich
legte Bleuler dieser eine natürliche Ordnung zugrunde, an der sich die
Menschen auszurichten hätten. Der Arzt, resümiert Bernet, nahm
«politische, juristische, soziologische und biologische Denkansätze auf
(. . .) und setzte sie in seiner assoziationistischen
Schizophrenie-Lehre neu zusammen». Die biologistische «Dementia praecox»
erweiternd, baute er sowohl die Psyche als auch das Soziale in seine
Lehre ein, die, in vielem vage bleibend, in der grossen
Unübersichtlichkeit neue Orientierung versprach.
Ausstrahlung aus der Klinik
Vor allem aber hatte Bleuler die
Möglichkeit, eine Schule zu gründen. Die Basis der legendären «Zürcher
Schule» (der unter anderen C. G. Jung angehörte) war die psychiatrische
Klinik Burghölzli, deren Direktor Bleuler war. Er öffnete die Klinik
zur Gesellschaft hin, damit die Kranken nicht länger isoliert seien, was
ihre Heilungschancen verbessere. Die Schule strahlte in einen
wachsenden Kreis gebildeter Laien aus, welche die Lehre in die
sozialmedizinische Fürsorge, in den Justizapparat und in die
Öffentlichkeit trugen. Die Bleulersche Fassung der Schizophrenie hatte
jedoch nur so lange Bestand, wie dieser seinen Einfluss geltend machen
konnte. Kurz vor seinem Tod liess sein Schüler Ludwig Binswanger ihn
wissen, er habe den Begriff der Assoziation zu eigenwillig gebraucht.
Damit war die Zeit des Assoziationskonzepts abgelaufen, nicht jedoch die
Karriere der Schizophrenie.
Alle Fragen beantwortet die
bestens lesbare Studie nicht, wobei manche wohl kaum zu beantworten
sind, aber doch diskutierbar wären. Wie krank waren die Leute
tatsächlich, die als Schizophrene behandelt wurden? Haben heutige
Schizophrene andere Probleme? War es nicht eher der Anarchismus als der
Liberalismus, der das Prinzip der Assoziation konsequent vertrat? Setzen
sich Krankheitskonzepte quasi funktionalistisch durch, indem sie den
Bedürfnissen von Staat und Gesellschaft entgegenkommen? Trotz oder
gerade wegen dieser Fragen: Brigitta Bernet zeigt, dass Wissenschaft nie
nur im Elfenbeinturm stattfindet, ja dass selbst ein geschlossener Raum
wie eine psychiatrische Klinik von sozialen Interessen und Obsessionen
durchzogen wird.
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