Samstag, 31. August 2013

Neurologie des Dichtens.


aus NZZ, 31. 8. 2013

Nervöse Vorgänge 
Über kreative Prozesse, über Schreiben und Lesen sowie andere Hirnaktivitäten

von Arnaldo Benini 

Die kognitiven Neurowissenschaften haben Grenzen, aber sie versuchen sich auf ihre Weise der Frage zu nähern, wie Denken und Sprechen, wie Dichtung und Musik im Lichte von neuronalen Aktivitäten zu begreifen wären.

Schreiben und Lesen sind nervöse Vorgänge, die einen grossen Teil der Hirnrinde beanspruchen. Vor etwa zwei Millionen Jahren sind Primaten durch die Evolution der präfrontalen Hirnrinde und der zerebralen Sprachzentren selbstbewusst geworden. Aus dem «wilden und staunenden Ungeheuer», von dem der Philosoph Giambattista Vico gesprochen hat, hat sich die menschliche Spezies entwickelt. Dank dem präfrontalen Gehirn denkt das menschliche Bewusstsein über sich selbst und die Welt mittels der «inneren» Sprache nach. Seither gibt es die kulturelle Evolution, zu der auch die Dichtung gehört. Die Reflexion ist ein linguistischer Vorgang, der sich in Arealen der präfrontalen Hirnrinde abspielt. 

Schönheit und Schrecken

Die Sprachzentren verleihen nicht nur dem Denken eine Stimme, sondern auch den Gefühlen und den Phantasien. Das emotionale Leben in all seinen Ausprägungen ist beiden limbischen Systemen, die sich in der Mitte des Gehirns auf der Höhe der Schläfen befinden, zugeordnet. Sie sind mit den Zentren der Erinnerung, der Rationalität, der Sprache, des Zeitsinnes und der Raumwahrnehmung verbunden. Was diese Zentren «ausarbeiten», wird zur bewussten Erfahrung, wenn es in Form von elektrochemischen Informationen zur präfrontalen Hirnrinde gelangt. Die Informationen, welche die präfrontale Hirnrinde nicht erreichen, beeinflussen den Gemütszustand und die Reflexion, selbst wenn sie unbewusst bleiben. Die Mechanismen der Emotivität im limbischen System sind für den Sinn des Lebens und für das Verhalten ebenso wichtig wie jene der Rationalität, mit denen sie verknüpft sind.

Indem es sich zum Objekt des eigenen Nachdenkens macht, nimmt das Selbstbewusstsein die Komplexität, die Ambiguität, die Widersprüche, die Unsicherheiten, Schönheiten und Schrecken der Existenz wahr. Die Wechselfälle der Existenz wurden zuerst mündlich, dann, vor etwa viertausend Jahren, auch schriftlich erzählt. Aus den nervösen Mechanismen des Selbstbewusstseins entstanden Literatur und Poesie. Das Erschaffen und Erzählen von Geschichten und das Vergnügen, sie als Märchen, Erzählungen, Gedichte, Tragödien oder Dialoge zu hören oder zu lesen, entsprechen einer fundamentalen menschlichen Neigung. Literatur und Poesie oder auch die Musik sind nicht der Wahrheit verpflichtet. Das Gefühl, das die Kunst vermittelt, ist eine von der Rationalität und Moral ihres Inhalts unabhängige Erfahrung. Elegische und tragische Komponisten, witzelte Descartes, hatten desto mehr Erfolg, je mehr Tränen sie uns entlockten. Gelesene oder gehörte Gedanken können eine Biografie ändern. Ein Gedicht oder ein Musikstück kann ausdrücken, was man auf andere Weise nicht vermitteln kann. Eine Novelle oder ein Roman können mehr über das Leben sagen als ein Tatsachenbericht. 

Affektivität und Plastizität

Die Sprachzentren in der linken Hirnhälfte nehmen bis zum Alter von vierzehn Jahren mühelos Sprachen und Dialekte der Umgebung, in der man aufwächst, auf. Später benötigt das Erlernen einer Sprache Fleiss und Disziplin, und man beherrscht sie weniger gut als die Muttersprache. Eine Zweitsprache wird von Hirnzentren erworben, die hinter jenen für die Muttersprache liegen. Mehrsprachige Schriftsteller verwenden normalerweise nur eine Sprache für ihr literarisches Werk. Die nervösen Mechanismen der bevorzugten Sprache sind wahrscheinlich enger mit den Zentren der Affektivität und der Vernunft verknüpft als diejenigen anderer Sprachen, selbst wenn man diese perfekt spricht. Elias Canetti, der von den von ihm beherrschten Sprachen sowohl für die Belletristik als auch für die Essayistik Deutsch bevorzugte, erläutert die Gründe für seine Wahl in «Die gerettete Zunge», dem ersten Band seiner Autobiografie.

Beethoven, 1823.

Claudio Magris lässt die Figur einer seiner Erzählungen («Das andere Meer») sagen, Griechisch und Deutsch seien «die beiden unverzichtbaren Sprachen, vielleicht die einzigen, in denen sich fragen lässt, wie die Dinge entstehen und wie sie vergehen». Die Umstände des Lebens können eine Sprache zur Qual werden lassen. Georg Steiner bezeugt, wie verzweifelt Paul Celan darüber war, dass er nur mit Deutsch, seiner Muttersprache, in die Tiefe seiner Seele vorzudringen vermochte, mit der Sprache jener, die seine Familie vernichtet hatten.

Der Stimulus des Zuhörens, Lesens und Schreibens schafft Verbindungen zwischen den Gehirnregionen des Sehens, des Gehörs, der Bedeutungserkennung, des Inhalts und des emotionalen Beiklangs der Wörter und beim Schreiben auch zwischen den motorischen Zentren der Hand- und Armmuskulatur. Es ist nicht verwunderlich, dass sich Handschriften voneinander unterscheiden und es äusserst schwierig ist, sie zu fälschen, denn es gibt kein Hirn, das gleich ist wie ein anderes. Die Verbindungen zwischen den verschiedenen Regionen der Hirnrinde sind desto schneller und effizienter, je plastischer das Gehirn ist. Die Plastizität des Gehirns besteht in der Fähigkeit, sich aufgrund von Erfahrungen, Gedanken und Vorstellungen zu ändern. Wörter und Sätze, Bilder, Gestalten, Beziehungen, Gedanken und Emotionen werden elektrochemisch verarbeitet und die Impulse an die zuständigen Regionen der Hirnrinde weitergeleitet.

«Die Sprache ist bedeutungsvoll, weil sie Gedanken ausdrückt, die sich auf etwas beziehen», sagt der Philosoph Wilfrid Sellars. Mit der gesprochenen und geschriebenen Sprache besitzt das Selbstbewusstsein nach einer Entwicklung, die Jahrtausende gedauert hat, die Instrumente, um sich selbst zu erforschen. Literatur und Poesie sind eine modulierbare Vermittlung des Bewusstseins, von der wir mehr lernen, als was uns Psychologie und Soziologie vermitteln. Die Schrecken des Krieges in den Schützengräben drangen dank Werken wie «Im Westen nichts Neues» von Erich Maria Remarque oder «Heldenangst» von Gabriel Chevallier stärker ins Bewusstsein als durch jede historische oder militärmedizinische Abhandlung. Dickens, Balzac, Zola, De Roberto, Thomas Mann und andere Autoren haben die gesellschaftlichen Veränderungen, mit denen sich die Menschheit des 19. Jahrhunderts konfrontiert sah, auf eine Weise ausgeleuchtet, die sich dem kollektiven Bewusstsein deutlicher einprägte als historische oder soziologische Werke. Die Literatur erzählt die Odyssee des menschlichen Gehirns. 

Der Körper liest mit

Literatur beeinflusst den Gemütszustand und auch den Körper des Lesers. Die körperlichen Auswirkungen der Lektüre werfen ein neues Licht auf die Mechanismen, die dem Bewusstsein die von den Wörtern geschaffenen Stimuli übermitteln. Die Lektüre von Substantiven, Verben und Adjektiven mit negativem Inhalt (Krieg, Nazismus, foltern, zerstören, infam, tot . . .) und diejenige von Wörtern mit positivem Inhalt (Liebe, Freiheit, lachen, küssen, grossartig . . .) bewirken unterschiedliche Veränderungen der Pupillen, der Pulsfrequenz und der Färbung der Haut. Wörter mit starkem emotionalem Inhalt (die «Tabuwörter») verlangsamen die Lektüre, weil die nervösen Mechanismen ihre Wahrnehmung bremsen. Wenn man den Satz liest: «Der Dichter schrieb die Gedichte mit Tinte» ist die Gehirnaktivität anders als beim ähnlichen, aber sinnlosen Satz: «Der Dichter schrieb mit Butter.» Wenn wir in einem Sportbericht lesen, ein Fussballer habe mit dem rechten Fuss ein Tor erzielt, werden im Gehirn nicht nur die Sprachregionen, sondern auch die für den rechten Fuss zuständigen motorischen Zentren aktiviert, obwohl sich der Fuss nicht bewegt. Wenn wir nach mehrmaliger Lektüre des Fussballberichtes mit dem rechten Fuss einen Ball treten, tun wir es genauer als vorher. Lesen und Zuhören vermitteln den Hirnzentren visuelle oder akustische Signale, die das Bewusstsein als Wörter mit Bedeutung, Sinn, Ton, Rhythmus, Bild und Emotion erreichen. Ein Text ist nur ein Gekritzel, solange er von einem Gehirn nicht gelesen und verstanden wird.

Undurchdringliches Rätsel

Das Selbstbewusstsein erforscht durch die Poesie jene verborgenen und geheimen Winkel der Seele, die es in der Sprache der Prosa nicht beschreiben könnte. Das Rätsel der Poesie ist nicht nur für Ästhetikforscher und Literaturwissenschafter, sondern auch für Naturwissenschafter nahezu undurchdringlich. Warum stimulieren Wörter, die in einer bestimmten Reihenfolge stehen, das limbische System und einen Teil der vorderen Hirnrinde bis zu jenem Punkt, an dem die unaussprechliche Schönheit der poetischen Kunst erfasst wird, während dieselben Wörter nichts anderes als Bedeutungsträger sind, wenn sie in einer anderen Reihenfolge angeordnet sind? Warum wurde die Poesie erschaffen? Ist sie lediglich eine Zier des Lebens, oder hat sie eine existenzielle Bedeutung? Warum bestehen Verse aus kurzen Textzeilen, und warum bedient sich die Poesie oft des Reims?

Das sind alte Fragen, denen sich die kognitiven Neurowissenschaften vorsichtig nähern, wie stets, wenn es um die Tiefe des Geistes geht. Der Poet, Essayist und Übersetzer Raoul Schrott und der Neuropsychologe Arthur Jacobs erforschen die Poesie als Gehirnmechanismus. Dank den Methoden der kognitiven Neurowissenschaften ist es möglich, die Regionen des Gehirns auszumachen, die beim Erschaffen, Hören und Lesen von Poesie aktiv sind. Die Grenze der Methode liegt darin, dass man nicht weiss, was in den aktivierten Zentren geschieht. Raoul Schrott und Arthur Jacobs gemäss entstand die Poesie als Begleiterin der Musik, um das Gedächtnis zu stärken, in einer Zeit bis vor etwa 5000 Jahren, als es noch keine geschriebene Sprache gab. 

Die Verslänge und der Augenblick

Die Verbindung zwischen Poesie und Musik wird von den Analogien bestätigt, durch die sie Melodien, Töne und Rhythmen zu einem Ganzen vereinen. Störungen nach Hirnschädigungen weisen indes auf Unterschiede hin. Obwohl Maurice Ravel wegen eines Hirnschlages die Fähigkeit zu sprechen verloren hatte, hörte und liebte er weiterhin die Musik. Wissarion Schebalin brachte nach mehreren Hirnschlägen kaum mehr ein Wort heraus, komponierte jedoch Sonaten, Quartette und eine Symphonie, die Dmitri Schostakowitsch als wunderbar rühmte. Dass Musik das Gedächtnis verbessert, bestätigen neuropsychologische Experimente, wonach lange und komplizierte Wortfolgen mit einer dezenten Hintergrundmusik besser und dauerhafter gelernt werden.

Man erinnert sich länger an Verse als an Sätze. Ein Gedicht erkennt man auf den ersten Blick an der Verslänge, die in sämtlichen Sprachen normalerweise bei höchstens zehn Silben liegt. Gelesen werden sie in ungefähr drei Sekunden, was der Zeit entspricht, welche die Mechanismen des Bewusstseins brauchen, um zwei unterschiedliche Wahrnehmungen zu tätigen. Im Zeitintervall, den das Lesen eines Verses benötigt, kann sich das Gehirn also nur auf ein Ereignis konzentrieren - was es ermöglicht, bei der Lektüre eines Gedichts die Mechanismen der Affektivität stärker einzubeziehen als bei anderen kognitiven Erfahrungen. Der Reim wurde vermutlich im 2. Jahrhundert n. Chr. vom Kirchenvater Tertullian aus Karthago in die europäische Kultur eingeführt. Die akustische Ähnlichkeit zwischen zwei Reimen unterstreicht deren semantische Verbindung, die dem letzten Wort der Verse eine fast magische Kraft verleiht. In Analogie zur Musik drückt das Gehirn durch die Poesie aus, was sich der Sprache der Rationalität entzieht. Die überprüfbare Intensität der Auswirkung auf die Zentren der Affektivität liefert den Beweis.

Solche Betrachtungen und Forschungen helfen nicht, die Poesie zu verstehen oder zu lieben. Nach Kant führt uns die Kunst (und damit auch die Poesie) in das Spiel der verwandelten Realität ein. Die kognitiven Neurowissenschaften bestätigen die These, wonach dies durch die nervösen Netzwerke der Affektivität und Rationalität geschieht, die im Verlaufe der Evolution entstanden sind. 

Ist die Liebe zur Literatur angeboren?

Alle Kulturen pflegen und lieben künstlerische Ausdrucksformen der Sprache. Sind Literatur und Poesie an nervöse Strukturen und Mechanismen gebunden, die auf genetischem Weg von einer Generation zur nächsten vererbt werden? Die These von der angeborenen Liebe zur Literatur müsste man bekräftigen können, indem man den evolutionären Antrieb identifiziert, der ihre Mechanismen selektioniert hätte. Dieses Indiz fehlt. Der Neurowissenschafter V. S. Ramachandran erwidert auf die These, wonach die Literatur ein evolutionärer Faktor sei, weil es sie in sämtlichen Kulturen gibt: Dasselbe gilt auch für Gastronomie, ohne dass es deshalb im Gehirn ein angeborenes und genetisch vererbtes Modul gibt, das uns kochen lässt.

Wie Mathematik, Geometrie, Musik und das Schachspiel sind auch Literatur und Poesie Produkte bestimmter Hirnrindenregionen, also des Bewusstseins, auf die keine Kultur verzichtet. Das Gehirn schafft Literatur, Poesie und Musik wegen des Genusses, den sie bewirken, und nicht, weil sie die Fähigkeit zu überleben erhöhen würden. Mario Vargas Llosa hat behauptet, die «von guter Literatur imprägnierten» Gesellschaften seien weniger manipulierbar. Leider stimmt das nicht. Die Literatur ist kein Mittel gegen die Übel der Welt. Von guter Literatur «imprägnierte» Gesellschaften wie die deutsche, russische, italienische, französische, spanische und englische haben sich schrecklicher sozialer Perversionen fähig gezeigt.

Es fällt schwer, Literatur und Poesie als Produkte der Mechanismen von bestimmten Regionen der Hirnrinde anzusehen. Wie oft wird gefragt, ob ein literarisches Wunder wie die «Göttliche Komödie» tatsächlich das Erzeugnis von neuronalen Aktivitäten sein kann. Wovon denn sonst? Die naturalistische Konzeption des Geistes mindert den Genuss künstlerischer Werke keineswegs. Vielmehr versucht sie zu verstehen, wie das Gehirn Kunst erschafft, wie es sie geniesst und schätzt.

Prof. Dr. med. Arnaldo Benini arbeitete als Neurochirurg in St. Gallen und in Zürich.

Freitag, 30. August 2013

Wolf Singer’s Entsorgung des Ich.

Wolf Singer
Den nachstehenden Text aus dem Februar 2005 habe ich ein Jahr lang vergeblich in einer Zeitschrift unterzubringen gesucht. Den naturwissenschaftlichen Fachblättern war er ‘nicht fachlich genug’, den kulturwissenschaftlichen Blättern war er ‘zu fachlich’. Der fach-übergreifenden Zeitschrift Gehirn & Geist, die „Das Manifest“ veröffentlicht hatte und für die er gedacht war, war er gar…

‘nicht populär genug’!


Die Spatzen brüllen es vom Dach: Die Hirnforschung hat uns eine Revolution beschert. Die Freiheit des Willens ist widerlegt, das Ich liegt bei den Akten. Ein neues Menschenbild? betitelt ihr Wortführer sein [damals] jüngstes Buch.

Spontaneität…

Lange sah es aus, als sei die Hirnforschung im Begriff, auf empirischen Wegen im menschlichen Erkennen den Vorrang des Subjektiven vor dem Objektiven nachzuweisen, den Kant und seine Anhänger immer behauptet hatten. Denn ‚empfangen’ würden von unserm Gehirn, so heißt es, immer nur einzelne Sinnesreize. Diese zu einer bedeutungsvollen Einheit zusammenzufassen, sei dessen eigne Leistung, die den Sinnesreizen gewissermaßen ‚vorausgeht’. „Einzelne Neurone repräsentieren durch den Grad ihrer Aktivierung lediglich elementare Objektmerkmale, keine komplexe Merkmalskonstellationen”, schreibt Wolf Singer.[1] “Jede Zelle interagiert mit etwa zwanzig bis dreißigtausend anderen.[2] Die Information über komplexe Objekte wird im Gehirn in jedem Fall arbeitsteilig durch sehr viele Neurone analysiert, von denen jedes durch seine Aktivierung jeweils nur einen relativ kleinen Teilaspekt der Objektbeschaffenheit kodiert. Diese jeweils für ein Merkmal zuständigen Neurone [sind] nicht etwa in einem eingegrenzten Hirnareal aufzufinden, sondern über ausgedehnte Hirnareale verteilt. Objekte [werden] nicht durch die Aktivität einzelner oder sehr weniger Neurone in der Hirnrinde repräsentiert, sondern durch ausgedehnte und über weite Bereiche verteilte Neuronenverbände – sogenannte Assemblies.“[3]

Das bedeute, „dass die Verschaltungsarchitektur eine ganz wesentliche Determinante für Hirnfunktionen [ist]. Hier liegen die meisten Freiheitsgrade, da die Funktionen einzelner Nervenzellen recht stereotyp sind.[4] Die Spezifizität der Hirnfunktionen beruht ausschließlich auf der Architektur der Verbindungen zwischen Nervenzellen. Das Programm [des Gehirns] residiert praktisch in dieser Architektur der Verbindungen und in deren Gewichtung, die in den Grundzügen genetisch vorgegeben wird. Sie speichert gewissermaßen die während der phylogenetischen Entwicklung gewonnene Erfahrung über das Sosein der Welt.[5] Wir kommen mit erheblichem Vorwissen über die Welt in diese.” [6]

Dieses Vorwissen über die Welt ist nicht positiv als ‚Information’ kodiert, sondern problematisch: “Vom nur teilweise vorgefertigten Gehirn wird also eine Vielzahl von Fragen an die Welt gestellt, deren Beantwortung zu Strukturänderungen führt. Das Gehirn interpretiert.”[7] Daraus folgt, “dass Wahrnehmung nicht als passive Abbildung von Wirklichkeit verstanden werden darf, sondern als   das Ergebnis eines außerordentlich aktiven, konstruktivistischen Prozesses gesehen werden muss, bei dem das Gehirn die Initiative hat.[8] Das Gehirn ist nie ruhig, sondern generiert ständig hochkomplexe Erregungsmuster, auch wenn Außenreize fehlen.[9] [Es] bildet ständig Hypothesen darüber, wie die Welt sein sollte, und vergleicht die Signale von den Sinnesorganen mit diesen Hypothesen. Finden sich die Hypothesen bestätigt, erfolgt die Wahrnehmung nach sehr kurzen Verarbeitungszeiten. Treffen sie nicht zu, muss das Gehirn seine Hypothesen korrigieren, was die Reaktionszeiten verlängert.”[10]

Der alte Streit zwischen Idealismus und Realismus wäre empirisch endgültig entschieden: ‚Wahr’nehmen ist nicht aufnehmen, sondern ein “Verifizieren vorausgeträumter Hypothesen”.[11] Die apriorische Synthesis, die die neuronalen Signale zu einer sinnvollen Wahrnehmung ‚bedeutet’, “ist ein Actus der Spontaneität der Vorstellungskraft”, der “nicht durch Objekte gegeben, sondern nur vom Subjekte her verrichtet werden kann”, hieß es in der Kritik der reinen Vernunft.[12]

…und Spiel.

Der Subjektivismus des Hirnforschers geht noch weiter. Das Subjekt ‚erkennt’ nämlich nicht bloß aktiv, aber gesetzmäßig; sondern es macht seine Tatsachenfeststellungen von apriorischen Wertzuschreibungen abhängig. Was immer ‚erscheint’, wird “natürlichen Bewertungsprozessen unterworfen”, die “Veränderungen nur dann zulassen, wenn das Gesamthirn befunden hat, dass die jeweils zur Verarbeitung gelangten Aktivitätsmuster bedeutsam sind. Diese Bewertung wird von Zentren im limbischen System vorgenommen. Das Bewertungsergebnis wird den über die gesamte Hirnrinde verteilten Verarbeitungszentren über Nervenbahnen und spezielle chemische Überträgerstoffe, sogenannte Neuromodulatoren, mitgeteilt.” Etwa achtzig Prozent der synaptischen Verbindungen von Nervenzellen der Großhirnrinde gehören zu dieser Klasse, und nur etwa zehn bis zwanzig Prozent der Eingänge stammen unmittelbar aus den Sinneszellen. “Die Sinnessysteme und damit die Signale aus der umgebenden Welt werden somit nur über eine sehr kleine Fraktion von Verbindungen in die Großhirnrinde vermittelt. Das System beschäftigt sich hauptsächlich mit sich selbst: achtzig bis neunzig Prozent der Verbindungen sind dem inneren Monolog gewidmet.”[13]

“Die Fähigkeit des Gehirns, prädikative Modelle von noch ausstehenden Ereignissen zu bilden, um sich schneller anpassen zu können, ist relativ rezent. Aber wenn es einmal ein System gibt, das auf der Basis von Erfahrung solche prädikativen Modelle entwickeln kann, was die Speicherung von Erfahrungsinhalten voraussetzt, dann muss es kombinatorisch spielen können. Was als Repräsentation internalisiert wurde, muss in verschiedene Bezüge gestellt werden, um prüfen zu können, was alles passieren könnte.”[14]

Spielend finden wir uns nicht nur im grauen Alltag zurecht: “Das ist auch das, was ein Wissenschaftler macht, wenn er Theorien bildet, und was ein Künstler macht, wenn er etwas herstellt.[15] Der kreative Prozess in der Wissenschaft ist derselbe wie in der Kunst. Der Erkenntnisprozess der Wissenschaft fängt mit dem Generieren von Hypothesen an, die zunächst intuitiv erfasst werden, wobei sehr oft ästhetische Konsistenzkriterien zugrunde gelegt werden, die gar nicht rationalisierbar sind. Man sucht offenbar nach ganz ähnlichen Kriterien wie der Künstler: nach Stimmigkeit oder Geschlossenheit. Sehr vieles in der Wissenschaft wird von der Ästhetik dominiert. Eine wissenschaftliche Theorie wird dann vom Kreis der Eingeweihten als gültig angesehen, wenn sie erstens widerspruchsfrei mit vorhandener Evidenz ist, und zweitens, wenn sie schön ist. Sie muss einfach sein und befriedigen. Ganz ähnlich geht der Künstler vor, nur ist der Stoff, mit dem er umgeht, ein anderer. Auch der Künstler bildet die Welt ab, wie er sie interpretiert, also innerhalb eines Beschreibungssystems, er schafft neue Wirklichkeiten, neue Interpretationen, was der Wissenschaftler auch tut, wenn er ein Modell des Erfahrbaren erzeugt”;[16] er spielt mit dem Material, und “irgendwann weiß er, dass es jetzt passt.”[17]

“Was der Künstler und der Wissenschaftler machen, ist nichts anderes, als der Neugierde und dem Verlangen nach dem kombinatorischen Spiel nachzugeben und, losgelöst vom utilitaristischen Alltagsgeschäft des Lebens, dieses kombinatorische Spiel weiter zu spielen. Dadurch entstehen Modelle der Welt. Dieses Spiel ist offenbar so tief in der Architektur des Gehirns verankert, das es gespielt werden muss, wenn das System überhaupt sinnvoll zum Lösen von Alltagsproblemen eingesetzt werden soll. Manche spielen das sehr gut, manche weniger, aber alle spielen. Insofern ist jeder, der wahrnimmt, in gewissem Sinne ein Künstler, weil er Modelle von der Welt erzeugt, interpretiert und selber seine Stimmigkeitskriterien generiert.”[18]

Oder Determination?

Das Wahrnehmen erscheint als Leistung nicht nur eines spontanen Subjekts, sondern gar als die eines künstlerischen Spielers. Umso verblüffender ist die Schlussfolgerung, mit der der empirische Hirnforscher Wolf Singer in den deutschen Medien Furore macht: “Im Bezugssystem neurobiologischer Forschung gibt es keinen Raum für objektive Freiheit, weil die je nächste Handlung, der je nächste Zustand des Gehirns immer determiniert wäre durch das je unmittelbar Vorausgegangene.”[19] Was ihm im Bezugssystem neurobiologischer Forschung offenbar niemand bestreitet und was außerhalb dieses Bezugssystems ihm zu bestreiten niemand nötig hat, will Wolf Singer aber innerhalb dieses Bezugssystems nicht belassen: “Unaufschiebbar werden schon jetzt Überlegungen über die Beurteilung von Fehlverhalten, über die Beurteilung von Schuld und unsere Begründungen von Strafe.”[20]

Wie kam es zu dieser Wendung? Anlass war “das so genannte Bindungsproblem”; der Umstand nämlich, dass die Forscher keine ‚Stelle’ finden können, an der die Synthesis vollzogen wird. Da sitzt kein Richter, der ‚jetzt’ sagt und ‚es gilt’. “Die Ergebnisse der vielen, gleichzeitig ablaufenden Sinnesfunktionen werden parallel an die ebenfalls zahlreichen exekutiven Zentren weitergegeben, ohne dass vorher alle Informationen an einem Ort zusammen geführt würden. Wie dennoch ganzheitliche Wahrnehmung und wohl koordinierte Bewegungen zustande kommen, ist unklar. Es muss Metarepräsentationen für die Ergebnisse dieser Teilprozesse geben, doch diese können ebenfalls nur nichtlokale Gebilde sein, also wiederum einem distributiven Prinzip folgen. Wir vermuten, dass die Einbindung verteilter Neuronengruppen in diese Metarepräsentationen durch zeitliche Synchronisation neuronaler Antworten erfolgt.”[21] Es sei “eine Illusion, das wir im Gehirn ein Kommandozentrum haben, in dem das Ich residiert und wertet, entscheidet und befiehlt. Stattdessen müssen wir uns das Ich als einen räumlich verteilten, sich selbst organisierenden Zustand denken”.[22] “Die Annahme, wir seien voll verantwortlich für das, was wir tun, weil wir es ja auch hätten anders machen können, ist aus neurobiologischer Perspektive nicht haltbar. Neuronale Prozesse sind deterministisch. Dieses Wissen muss Auswirkungen haben auf unser Rechtssystem, auf die Art, wie wir Kinder erziehen und wie wir mit Mitmenschen umgehen.”[23]

Welche Auswirkungen? Ist mein Gehirn jemand anders als ich selbst? Wenn mich ein Rüpel belästigt, ist also nicht er selber schuld, sondern sein Gehirn. Wenn ich ihm dafür in den Steiß trete, dann spürt er meinen Fuß zwar am Steiß – aber es ist sein Hirn, das ihn spürt. So bleibt alles wie gehabt: Der Schuldige kriegt, was er verdient. Man sieht gar nicht ein, welches die praktischen Konsequenzen aus Wolf Singers Entdeckungen sein könnten, und warum er davon so viel Aufhebens macht.

Es bleibt die wissenschaftliche Frage nach dem Subjekt des Erkennens und der Willensbildung. Doch zu der trägt das “so genannte Bindungsproblem” überhaupt nicht bei. Denn was würde sich ändern, wenn die Hirnforscher ein ‚Zentrum’ hätten lokalisieren können? Gar nichts. Wolf Singer würde sagen, dass die “Ursache für die je folgende Handlung der vorangehende Gesamtzustand” – eben nicht des Gehirns, sondern – ‚des Zentrums’ ist.[24] Ob es sich, empirisch betrachtet, um einen systemischen Prozess oder um einen punktuellen Akt handelt, spielt für die Frage der Spontaneität der Synthesis überhaupt keine Rolle – sondern nur, ob er von einem Anderen ‚determiniert’ werden kann. Das hat Wolf Singer zwar bisher nicht behauptet. Es läuft aber darauf hinaus, er hat es bloß noch nicht gemerkt. Denn was er wirklich sagen will, ist dies: das eine bestimmte neuronale Verschaltung einen bestimmten Vorstellungsgehalt – und nur diesen – ‚determiniert’. Auf etwaige ‚neuronale Korrelate für Sinngehalte’ angesprochen, erklärt er, “dass unterschiedlichen Gedanken verschiedene neuronale Aktivitätsmuster zugrunde liegen. Kein Gedanke ohne Substrat. Allem, was begrifflich trennbar ist, müssen unterschiedliche Gehirnzustände entsprechen.”[25]

Dies ist der einzige rationelle Sinn, den die Rede von ‚Determination’ in diesem Zusammenhang haben kann: dass die Bedeutungen “Abbilder” von Sachverhalten seien. In den herkömmlichen Abbildtheorien sollten es die Dinge der Außenwelt sein, die vom Denken ‚abgebildet’ würden. Hier ist es ein innerer Zustand. Aber dieser Unterschied ist sekundär und nur vorläufig. Denn wenn es den Hirnforschern wirklich gelänge, den ‚Umschlag’ oder ‚Übergang’ vom (physiologischen) Fakt zum (logischen) Sinn mit Hilfe ihrer modernen ‚bildgebenden’ Verfahren darzustellen, dann wäre er im Prinzip auch andern Arten der Bearbeitung zugänglich – und dann käme die ‚Determination’ von außen.

Ausschlaggebend wäre nur, dass der Übergang ein stetiger ist: Bei Naturvorgängen “gibt es nirgends Sprünge”![26] Und wenn dem so ist, lässt sich die Determinationskette auch umkehren. Wenn ich das Wort ‚Stetigkeit’ sage und mein Gesprächspartner bemüht sich zu verstehen, so müßte sich in dem Maße, wie sein Vorstellungsvermögen den Bedeutungsgehalt ‚Stetigkeit’ realisiert, in seinem Hirn das zugehörige neuronale Substrat einstellen. Durch die Wortbedeutung würde also ein bestimmter physiologischer Zustand ‚determiniert’. Dann wäre die Wortbedeutung ein Objektivum (mit welchem Substrat?) und die Hirnforschung hätte auf empirischem Weg die platonische Ideenlehre bewiesen.[27] Eine unerwartete Wendung! Oder doch nicht? Immerhin hat der Kernphysiker Robert Havemann schon vor vierzig Jahren darauf hingewiesen, dass der mechanische Materialismus nur eine Spielart des objektiven Idealismus ist.[28]

Sprünge

Glücklicherweise kann dem nicht so sein. Wenn nämlich bestimmte Vorstellungsinhalte lediglich neuronale Prozesse “abbilden”, dann müsste es sich dabei um ein analoges Bild handeln. Analoge Darstellungen können aber, anders als digitale, keinen Verneinungs-Modus wiedergeben, und den Frage-Modus schon gar nicht. Ich (oder mein Gehirn, was ändert das?) kann aber fragen und nein sagen. Das ist das Proprium humanum: Der Mensch ist das Tier, das nein sagen kann. Und bevor er nein gesagt hat, konnte er fragen, ob.

Wenn Wolf Singer nun einwände: Es gibt im Gehirn eben einen Rechner, der analoge Bilder in digitale Symbole übersetzt, dann entgegne ich: Zeig mir die Stelle – genau da sitzt das Ich!

Das ist der springende Punkt. Ein digit ist kein Substrat, sondern ein beliebiges, austauschbares und ganz heterogenes Zeichen für einen Sinngehalt, zu dem es in keinerlei sachlichem Verhältnis steht und der als solcher keiner Materialisierung und “Substernisierung” fähig ist. Das Logische “ist” in keiner Weise, sondern gilt. Darunter kann sich der Naturwissenschaftler nichts ‚vorstellen’. Als Naturwissenschaftler soll er das auch gar nicht. Es fällt nicht in sein Ressort. In seinem Bereich herrschen Kausalität, Determination und Stetigkeit: durch sie wird er konstituiert.

Natura non fecit saltus – Wolf Singer beruft sich wörtlich auf die von Leibniz geprägte kanonische Formel für das stoisch-neuplatonische Dogma der Stetigkeit. “Das metaphysische Gesetz der Stetigkeit ist aber dies: Alle Veränderungen sind stetig oder fließen, d. i. entgegengesetzte Zustände folgen nur durch eine dazwischenliegende Reihe verschiedener Zustände aufeinander”[29] – so hat es Kant formuliert und zum Ausgangspunkt der Kritik gemacht. Die Stetigkeit der Naturvorgänge setzte nämlich voraus die dinghafte Realität eines kontinuierlich-unendlichen Raumes und einer gleichförmig strömenden Zeit. Beide hat Kant aber ins transzendentale Apriori unseres Erkenntnisvermögens verwiesen! Doch in dem Manifest, das Wolf Singer gemeinsam mit zehn Kollegen im vergangenen Jahr erlassen hat, heißt es nun wieder: “Geist und Bewusstsein fügen sich also in das Naturgeschehen ein und übersteigen es nicht. Dies bedeutet, man wird widerspruchsfrei Geist, Bewusstsein, Gefühle, Willensakte und Handlungsfreiheit als natürliche Vorgänge ansehen, denn sie beruhen auf biologischen Prozessen.”[30] Also weil sie auf Physiologie beruhen, müssen sie Physiologie sein – wo ist das Problem? Hen kai pân, Alles Eins! Wobei sie größte Schwierigkeiten haben werden, uns von dieser metaphysisch verstandenen Natur einen wissenschaftlich begründeten Begriff zu geben…

Es ist wohl wahr: Betrachte ich die Evolution der menschlichen Physiologie von innen, so folgt immer ein Zustand auf den andern. Dass aber die Veränderungen der Zustände nur von innen ‚determiniert’ werden: dass ein Zustand aus dem andern folgt, ist damit noch lange nicht gesagt. Evolution ist Anpassung – an Bedingungen, die außen liegen. Kommt nun die Veränderung der Außenbedingung ihrerseits durch eine Initiative zu Stande, die von innen ausgeht, dann tritt eine Rückkoppelung ein – und die ist ein ‚Sprung’, der den Betrachter zu einem Perpektivwechsel, zu einem Hiatus nötigt.

Die Rede ist vom Akt der Hominisation selbst, denn das war der Moment, wo das Ich ‚zur Welt gekommen’ ist.

Evolution ist Auslese und Anpassung. Im Laufe ihrer Geschichte hat jede Spezies ihre ökologische Nische gefunden. Die Nische kann der Naturforscher beobachten und beschreiben. Die Umwelt aber, die sie dem Tier ‚bedeutet’, muss er rekonstruierend erschließen: “Die Umwelt ist völlig unsichtbar, denn sie besteht lediglich aus den Merkmalen der Tiere, die das Tier selbst hinausverlegt. Jede Umwelt ist das Erzeugnis eines Subjekts”,[31] schreibt Jakob von Uexküll, der den biologischen Umwelt-Begriff geprägt hat. “Jede Umwelt bildet eine in sich geschlossene Einheit, die in all ihren Teilen durch die Bedeutung für das Subjekt beherrscht wird. Alles und jedes, das in den Bann einer Umwelt gerät, wird umgestimmt und umgeformt, bis es zu einem brauchbaren Bedeutungsträger geworden ist – oder es wird völlig vernachlässigt.”[32] Das Verhältnis zwischen der Spezies und ihrer ökologischen Nische ist ein Naturverhältnis – und ein Naturverhältnis sind die Bedeutungen der Dinge, die darin vorkommen. Sie sind “selbstverständlich”.

Der Mensch hat vor Jahrmillionen seine natürliche Umwelt verlassen, hat sich auf seine Hinterbeine gestellt und ist in eine offene Welt aufgebrochen.[33] Deren Bedeutungen waren nicht biologisch vererbt, sind kein Naturverhältnis, er musste sie selber verstehen, d. h. heraus-, richtiger: hineinfinden. Weil seine offene Welt unsicher ist, muss er fragen, was die Dinge bedeuten, die ihm begegnen; sich fragen. Und wer fragt, kann ja oder nein sagen. Das ist eine völlig neue Dimension des Daseins. Wenn das kein ‚Sprung’ ist, was ist es sonst? Unterm Miskroskop des Physiologen – oder seinen modernen, ‚bildgebenden’ Überformungen – ist er freilich nicht zu erkennen. Weil der Mensch nicht weiß, was die Dinge ihm bedeuten und was er unter ihnen soll – darum sagt er “ich”.[34]

Zirkulär

Jedweden Sinn bestreitet auch Wolf Singer dem Ich und seinem Willen nicht. “Wir wissen aus der Psychopathologie, was passiert, wenn ein Konstrukt wie der freie Wille zusammenbricht.”[35] Da wir ihn als wirklich erleben, muss ihm auch etwas zugrunde liegen: “Dennoch beruht unsere Vorstellung, frei zu sein, auf Vorgängen im Gehirn. Ich halte sie für eine kulturelle Konstruktion. Sie muss sich also irgendwann im Laufe unserer kulturellen Evolution ausgebildet haben.”[36] Dass es sich bei der (den repräsentativen Staat konstituierenden) Vorstellung vom souveränen Subjekt um ein Konstrukt handelt, wird ihm niemand bestreiten. Noch entschiedener könnte man ihm beipflichten, hätte er hinzugefügt: genau so wie meine Vorstellungen von ‚Determination’, ‚Kausalität’, ‚Stetigkeit’ auch. Das sind keine Größen, die seine Forschung zu Tage gefördert hat, sondern logische Prämissen, die seine Forschungsarbeit überhaupt erst ermöglicht haben.

Von Konstrukten redet Wolf Singer oft und gern, wenn es um die Kategorien der andern geht. Von seinen eigenen Kategorien lässt er sich sowas von niemand sagen. Das ist das Problem mit Wolf Singer: Er redet ‚stetig’ in der Objekt-Sprache seines Fachs; aber allen andern Fächern gegenüber verwendet er sie, als wäre sie deren Meta-Sprache. Für sein Fach akzeptiert er dagegen keine Art von Meta-Sprache. Er ist wissenslogisch naiv, glaubt es aber nicht. Das ist das Verhängnis aller Empiriker.

Unterschiede zwischen Wissenschaften will er gar nicht kennen,sondern nur solche zwischen “Beschreibungssystemen”. Aber was unterscheiden die, und inwiefern? Sie beschreiben Etwas in Hinblick auf etwas Anderes. Dieses ‚in Hinblick auf’ ist eine Absicht, die ein Aufmerksamkeitsfeld konstituiert. Die Absicht – der ‚Hinblick’ – bildet den Ausgangspunkt, das Feld bildet den ‚Gegenstand’. Verschiedene Gegenstände kommen durch verschiedene Hinsichten ‚zu Stande’.

Aber davon will Wolf Singer nichts wissen. “Kann Naturwissenschaftlern überhaupt zugetraut werden, sich auch zu diesen, eigentlich nur in der Erste-Person-Perspektive fassbaren Realitäten [er meint die Ich-Problematik] zu äußern? Die einen meinen, es sei möglich. Dies sind meist die Naturforscher, die für die Einheit der Wissenschaft [Stetigkeit!] plädieren. Die anderen – meist Kulturforscher – behaupten, hier würden Kategorie-Fehler gemacht, und das Vorhaben einer Einheitswissenschaft sei prinzipiell nicht realisierbar.”[37]

Ist das bloß unzureichende Kenntnis der Wissenschaftsgeschichte, oder ist es raffiniert? Gute zweitausend Jahre lang hatte die Philosophie, mit dem Segen der Theologen, als erstgeborene unter allen Wissenschaften den Naturforschern Vorschriften gemacht (das Dogma der Stetigkeit zum Beispiel); so dass es vor Galileo zu einer Natur-Wissenschaft gar nicht kommen konnte. Bis sich schließlich die Philosophie – in Gestalt der Kant’schen Kritik – jede gesetzgebende Einmischung in die Angelegenheiten der Erfahrungswissenschaften versagte. Seither meinen ‚meist Kulturforscher’, es läge im Wesen der Wissenschaft, dass es eine Einheits-Wissenschaft nicht geben kann. Der Naturforscher, von kritischen Bedenken unaffiziert, zögert nicht, seine Gesetzgebung auf Gott und die Welt auszudehnen. Und lässt es so aussehen, als würden die ‚Kulturwissenschaftler’ vor ihm kneifen!

Das ist nicht nur wissensgeschichtlich, sondern auch wissenslogisch ein hochinteressanter Punkt. Es waren nicht die Erfolge der empirischen Forschung, die die theoretische Spekulation in ihre Schranken gewiesen und Kant zu seinem Rückzug bewogen hätten. Galileo selbst hat das Experiment durchaus nicht als selbständige Erkenntnisquelle an die Stelle der Theorie gesetzt, sondern lediglich als Beweismittel gegenüber Zweiflern eingeführt. Und Newton ist allezeit von spekulativen Voraussetzungen ausgegangen, wie der Titel seines Hauptwerks – Principia mathematica philosophiae naturalis - bereits ankündigt. Der Anstoß zu Kants ‚kopernikanischer Wende’ ging vielmehr von der Selbstkritik des Empirismus aus! David Hume hat demonstriert, dass der konstitutive Grundsatz der Erfahrungswissenschaften – dass jedes Ereignis eine hinreichende Ursache habe und Erkenntnis darin bestünde, die Ereignisse auf ihre Ursachen zurückzuführen – selber nicht durch Erfahrung begründet ist; und allerdings auch nicht in der Vernunft. Er hielt ihn bloß für eine bequeme Gewohnheit der Menschen, die sich bewährt hat. Kant hat dagegen dargelegt, dass die Annahme der Kausalität die kategoriale (für das Denken notwendige) Voraussetzung ist, um Erfahrungen überhaupt machen zu können. Die Prämisse, dass ein jedes Ereignis seine hinreichende Ursache haben müsse, konstituiert das Gegenstandsfeld der Naturwissenschaft, indem es ihr den Blickpunkt liefert. Was außerhalb ihres Blickwinkels liegt, ist kein möglicher Gegenstand der Naturwissenschaft.

Wolf Singer scheint hingegen zu sagen: Was nicht in ihren Blickwinkel fällt, das gibt es nicht. Wenn wir ihm sagen, dass sein Kausalitätsbegriff nicht aus der Erfahrung stammt, sondern absichtshalber der naturwissenschaftlichen Erfahrung zugrunde gelegt wird, dann antwortet er, dass wir zu solchen Aussagen nicht berechtigt sind – weil sie außerhalb der Kausaliätsbetrachtung liegen.

Weiß er nicht, was ein logischer Zirkel ist?


[im Februar 2005]


[1] Andreas Engel u. Wolf Singer, “Neuronale Grundlagen der Gestaltwahr-nehmung” in: Spektrum der Wissenschaft, Dossier 4/1997, S. 67
[2] Singer, “Früh übt sich… Zur Neurobiologie des Lernens” in: Mantel, G., (Hg.), Ungenutzte Potentiale, Mainz usw., 1997; S. 45
[3] Engel u. a., “Neuronale Grundlagen…” ebd
[4] Singer, “Früh übt sich…” ebd
[5] ders., “Wahrnehmen ist das Verifizieren von vorausgeträumten Hypothesen” in: Ein neues Menschenbild?, Frankfurt a.M. 2003; S. 70
[6] ders., “Das Bild im Kopf – ein Paradigmenwechsel” in: Ganten, D. (Hg.), Gene, Neurone, Qubits & Co., Stgt. u. Heidelberg 1999, S. 269
[7] ders., “Wahrnehmen ist das Verifizieren…” aaO, S. 71
[8] ders., “Vom Gehirn zum Bewusstsein”, in: Der Beobachter im Kopf, Ffm, 2002, S. 72
[9] ders., “Das Bild im Kopf…” aaO, S. 275
[10] ders., “Vom Gehirn zum Bewusstsein” aaO
[11] ders. in: Ein neues Menschenbild? S. 67
[12] Kant, KrV B 130
[13] Singer, “Das Bild im Kopf…”, aaO S. 274
[14] ders, “Wahrnehmen ist…” aaO S. 84
[15] ebd
[16] ebd S. 80
[17] ebd S. 84
[18] ebd
[19] Singer, “Vom Gehirn zum Bewusstsein”, aaO, S. 75
[20] ebd S. 75f.
[21] Singer, “Wir benötigen den neuronalen Kode” ebd, S. 42
[22] ders., “Vom Bild zur Wahrnehmung”, in: Ch. Maar, H. Burda (Hg.), Iconic Turn, Köln 2004, S. 75f.
[23] Singer, “Vom Gehirn zum Bewusstsein”, aaO, S. 75
[24] ders, “Das Ende des freien Willens?” in: aaO, S. 32f. – Ein reelles Ich identifiziert sich dadurch, dass es eine Geschichte hat.
[25] ders., “Wer deutet die Welt?” in: aaO, S. 15. – Was haben die Begriffe hier zu suchen? Welchen Grund gibt es – unter der Prämisse eines systemischen Prozesses -, jede Einzel-Vorstellung in einem jeweiligen ‚Zustand’ des Gesamt-Systems ‚Ding-fest’ zu machen? Das wirkliche Denken geschieht ja gar nicht in Begriffen, sondern in einer Kaskade unfasslicher Bilder. Begriffe treten erst in der Reflexion hinzu – und die ist eine Auseinandersetzung des Gesamtsystems mit sich selbst; ein Seitenwechsel, ein ‚Sprung’. Und nur so kommt auch die Vorstellung eines Ich ‚zu Stande’.
[26] ebd, S. 26
[27] In der Assoziationspsychologie des “Eleaten” J. Fr. Herbart wirken ‚Vorstellungsmassen’ tatächlich ‚ursächlich’ aufs individuelle Denken: “Vernunft heißt Vernehmen.” Natürlich verwarf auch Herbart den freien Willen und meinte, die Kant’sche Erkenntniskritik überwunden zu haben.
[28] “Naturwissenschaftliche Aspekte philosophischer Probleme” in: Robert Havemann, Dialektik ohne Dogma? Reinbek 1964, S. 27ff.
[29] I. Kant, Von der Form der Sinnes- und Verstandeswelt und ihren Gründen [Inauguraldissertation], Ed. Weischedel, Bd. V, S. 49
[30] “Das Manifest” in: Gehirn & Geist, Heft 6/2004, S. 33, 36
[31] Jakob v. Uexküll, Die Lebenslehre, Potsdam 1930, S. 130;
[32] ders., “Bedeutungslehre” in: ders.,/G. Kriszat, Streifzüge durch die Umwel-ten von Tieren und Menschen, Hamburg. 1983, S. 111ff.
[33] Ob dieses Ereignis vor 3 Mio. Jahren im Ostafrikanischen Graben oder schon 4 Mio. Jahre früher im Tschad stattgefunden hat, ist unerheblich.
[34] s. hierzu ausführlich: J. Ebmeier, “Das Ich und die Welt” in: Lettre interna-tional 68, Früjahr 2005
[35] Wolf Singer, “Das Ende des freien Willens?” aaO, S. 31f.
[36] ders., “Wer deutet die Welt?” aaO, S. 13
[37] Wolf Singer, “Das Ende des freien Willens?” in: Ein neues Menschenbild? Ffm. 2003, S. 27

Donnerstag, 29. August 2013

Rationelle Telepathie.

 
Neurologie 

Forscher schließen ihre Hirne kurz


Einer denkt, der andere lenkt: Zwei Wissenschaftler haben Nervenimpulse von einem zum anderen per Internet übertragen. Zunächst reichte die Gedankensteuerung nur für ein simples Videospiel. Doch die Hirnforscher denken bereits an waghalsige Einsätze.
 
Von Christopher Schrader

Zwei Neurowissenschaftler in Seattle haben ihre Gehirne vor zwei Wochen kurzgeschlossen. Es war nach Darstellung der Forscher das erste Mal, dass Nervenimpulse vom einem Menschen per Internet übertragen wurden und der Empfänger die Befehle ausführte, wie sie jetzt erklärt haben.
 
Der Zweck der Kommunikation zwischen den Gehirnen war es, ein einfaches Videospiel zu gewinnen. Einer der beiden Forscher, Rajesh Rao, bemühte sich ohne sich zu bewegen, eine Kanone abzufeuern, um eine heranfliegende Rakete zu zerstören. Seine Nervenimpulse, die die mentale Vorstellung auslösten, die rechte Hand zu heben, wurde von Elektroden am Kopf aufgezeichnet, wie sie bei einer Hirnstrom-Messung benutzt werden.

Die Signale flossen per Internet ans andere Ende des Campus zur zweiten Versuchsperson, Andrea Stocco. Über seinem Kopf hing eine Magnetspule, die für einen Moment gezielt Bereiche im Gehirn anregen kann. In diesem Fall brachte ihr Impuls Stocco unwillkürlich dazu, die rechte Hand anzuwinkeln; er beschreibt es wie einen nervösen Tick.

Da seine Finger zuvor leicht auf der Leertaste einer Computertastatur geruht hatten, presste der Forscher die Taste, als seine Hand wieder nach unten fiel. Er hatte somit den "Feuer"-Befehl ausgeführt, den sich Rao vorgestellt hatte. Um das Spiel komplizierter zu machen, flog bisweilen statt der Rakete ein Flugzeug über den Himmel, das Rao nicht abschießen sollte. Die Übertragung klappte nach etwas Training nahezu perfekt. 
 
Flugzeuge sollen per Gedankensteuerung gelandet werden 
 
An einer Verbindung zwischen Gehirn und Maschinen arbeiten Forscher schon lange. Zunächst ging es darum, für Gelähmte Impulse aus den Gehirnströmen zu isolieren, damit sie einen Computer steuern können. Jüngst haben Forscher an der Duke-University aber auch die Gehirne von zwei Ratten mittels implantierter Elektroden verbunden. Ein Tier in Brasilien geleitete mit den Sinneswahrnehmungen seiner Schnurhaare ein weiteres in den USA durch einen virtuellen Schlitz in der Wand.

Die Forscher in Seattle stellen sich nun vor, eines Tages könnte im Notfall ein Experte auf dem Boden einem Laien in einem Flugzeug per Gehirnverbindung zeigen, wie er die Maschine landen kann.

Einstweilen dämpfen sie Bedenken. "Manche Menschen bringt das Experiment vielleicht aus der Fassung, weil sie die Technik überschätzen", sagt Chantel Prat, Leiterin des Versuchs. "Es ist aber unmöglich, sie gegen den Willen einer Person einzusetzen." Rao ergänzt, es würden nur Gehirnsignale erfasst, keine Gedanken gelesen.