Montag, 30. Dezember 2013

Wenn dem Standardmodell die Stunde schlüge.

aus Die Presse, Wien, 29. 12. 2013
 
Jochen Schieck: 
"Wir tappen im wahrsten Sinn im Dunkel"
2013 war das Jahr, in dem das lange gesuchte Higgs-Teilchen nachgewiesen wurde. Jochen Schieck, neuer Direktor des ÖAW-Instituts für Hochenergiephysik, erklärt, was das bedeutet - und wie es in der Teilchenphysik weitergeht.



In der Physik war 2013 das Jahr des Higgs-Bosons: Laut den CERN-Daten existiert es mit hoher Wahrscheinlichkeit, auch der Nobelpreis ging an die Pioniere dieses Themas. Ist nun alles klar?

Jochen Schieck: Nur fünf Prozent sind klar! Wir wissen aus astrophysikalischen Messungen, dass die Energie und Materie in unserem Universum nur zu circa fünf Prozent aus der Materie besteht, die wir mit dem Standardmodell der Teilchenphysik, zu dem das Higgs gehört, beschreiben können. Der Rest ist dunkel: Dunkle Energie und Dunkle Materie. Da tappen wir noch im wahrsten Sinne des Wortes im Dunkeln. Das werden die ganz großen Aufgaben der Zukunft sein: zu verstehen, was eigentlich die restlichen 95 Prozent sind.

Jetzt haben wir also das letzte Teilchen, das noch im Standardmodell gefehlt hat. Auf Theorien, die darüber hinausgehen – Supersymmetrie, Superstrings etc. – können sich die Theoretiker nicht einigen. Soll man trotzdem weitersuchen?

Selbstverständlich! Das sind alles Theorien. „Grau mein Freund ist alle Theorie, und grün des Lebens goldner Baum“, heißt es im „Faust“. Wir müssen weitermachen, denn nur mit Experimenten können wir die Theorien darauf testen, ob diese auch wirklich fähig sind, für die ausstehenden Probleme Lösungsansätze zu bieten.

Ist es nicht fast schade, wenn das schöne, runde Standardmodell gesprengt wird?

Nein. Das Standardmodell der Teilchenphysik ist ein großartiger Erfolg, aber wir werden später einmal sehen, dass es nur ein Teil einer größeren, umfassenderen Theorie ist. Wir tasten uns langsam weiter. Es gibt keinen Grund, traurig zu sein, wenn das Standardmodell gesprengt wird. Im Gegenteil: Dann haben wir einen Ansatz, wie es weitergeht.

Wird der experimentelle Aufwand nicht zu groß? Und wird die Gesellschaft weiter bereit sein, das zu finanzieren?

Der Large Hadron Collider am CERN wird noch eine Weile unser wichtiges Instrument bleiben. Der experimentelle Aufwand ist groß, sicherlich. Aber ich denke, man muss diese Experimente auch im globalen Kontext sehen. Die Kosten für die Experimente fallen nicht in einem Jahr an und werden auch von der Weltgemeinschaft getragen. An den großen Projekten, wie dem Large Hadron Collider, arbeiten Teilchenphysiker aus der ganzen Welt.

Teilchenphysik ist Grundlagenforschung und meiner festen Überzeugung nach ein essenzieller Bestandteil unserer Kultur. Die Frage nach dem Wohin und dem Woher sind seit jeher Fragen, die sich die Menschheit stellt. Eine moderne Gesellschaft wie die unsere sollte stolz darauf sein, dass wir es uns leisten können, an solchen Fragen zu arbeiten. Im Übrigen: Ich wurde bisher nur sehr selten auf den hohen Aufwand angesprochen. Im Gegenteil: Die Menschen sind sehr froh, etwas über diese Fragen und mögliche Antworten zu erfahren. Die Menschen wissen sehr wohl, wie wichtig Grundlagenforschung für unsere Gesellschaft ist und dass man dafür auch Geld in die Hand nehmen muss.

Um das Higgs-Teilchen wurde eine riesige Propagandamaschinerie aufgebaut – inklusive der sonderbaren Bezeichnung „Gottesteilchen“. Das verstörte viele, die an der Sache interessiert sind. Was denken Sie über diese Art der Vermarktung von Wissenschaft?

Der Ausdruck „Gottesteilchen“ ist sehr unglücklich und weist auch in die falsche Richtung. Außerdem mag ich den Begriff Vermarktung nicht – das passt nicht zu unserer Arbeit, und das machen wir am HEPHY auch nicht. Ich möchte eher die Öffentlichkeitsarbeit in den Blickpunkt bringen, und die liegt mir persönlich sehr am Herzen. Immerhin wird unsere Forschung ausschließlich durch Steuergelder finanziert, der Steuerzahler hat daher ein Anrecht zu erfahren, was damit passiert. Und er will es auch erfahren. Öffentlichkeitsarbeit ist daher ein wichtiger Bestandteil unserer Arbeit.

Recht populär ist auch die Suche nach der Dunklen Materie. Glauben Sie, dass man mit Teilchenbeschleunigern eine Erklärung für sie finden wird?

Ich bin Teilchenphysiker und denke daher, dass die Existenz neuer, bisher unentdeckter Teilchen der vielversprechendste Lösungsansatz für dieses Problem ist. Und wenn es wirklich neue Teilchen sind, dann haben wir auch eine sehr gute Chance, dass wir sie auch in unseren Beschleunigern sehen. Aber es gibt auch Experimente, bei denen ohne Beschleuniger nach der Dunklen Materie gesucht wird. Das ist unsere neue Forschungsrichtung am HEPHY: die direkte Suche nach Dunkler Materie – ohne Beschleuniger.

Auf welche Teilchen würden Sie persönlich setzen?

WIMPs – Weakly Interacting Massive Particles (schwach wechselwirkende massive Teilchen; Anm.): Da habe ich momentan die meisten Aktien. Aber auch hier gilt: Es ist ein theoretisches Modell, das eine Lösung für die Dunkle Materie sein könnte. Es ist sehr gut theoretisch fundiert, aber nur das Experiment kann sagen, ob was dran ist.

Und was denken Sie über die Theorie der Dunklen Energie? Wird man in 20 Jahren noch glauben, dass mindestens zwei Drittel der Energie des Universums so seltsam sind?

Leider gibt es ja keine Theorie, die die Dunkle Energie beschreibt. Ich denke schon, dass wir in 20 Jahren noch glauben, dass zwei Drittel des Energie-Materie-Budgets des Universums aus Dunkler Energie bestehen. Ich hoffe aber noch viel mehr, dass wir verstehen, was eigentlich dahintersteht und dass wir nicht nur wissen, dass es sie gibt.

Was hat Sie eigentlich dazu bewogen, nach Wien zu übersiedeln? Waren es die Arbeitsbedingungen, die geboten werden? Oder die Themen, an denen hier gearbeitet wird?

Beides. Am HEPHY existieren zwei große Arbeitsgruppen, die sich mit den gleichen Themen beschäftigen, an denen ich in den vergangenen Jahren gearbeitet habe. Aber zusätzlich gab es für mich noch die Möglichkeit, eine komplett neue Arbeitsgruppe aufzubauen, die sich mit der direkten Suche nach der Dunklen Materie beschäftigen wird. Das ist eine sehr große Chance: Mit diesen drei Arbeitsgruppen ist das HEPHY exzellent für die Suche nach Physikphänomenen jenseits des Standardmodells aufgestellt. Der Schlüssel für die Beantwortung der offenen Fragen wird in der gemeinsamen Bearbeitung dieser Themen liegen. Ein Experiment allein wird keine schlüssige Antwort liefern können. Wir müssen die Probleme aus allen Blickwinkeln betrachten.

Sie haben lange Zeit in München gearbeitet: Wie wird die österreichische Physik eigentlich im Ausland wahrgenommen?

Ich kann hier nur für die Teilchenphysik sprechen. Als kleines Land ist klar, dass man nicht alles machen kann. Man kann allerdings Schwerpunkte setzen und versuchen, darin führend zu sein. Das ist dem HEPHY gelungen. In Japan etwa entsteht gerade ein neues Experiment, das ebenfalls von einer internationalen Kollaboration aufgebaut wird. Ein zentraler Baustein dieses Experiments wird unter Federführung des HEPHY geplant und gebaut. Ich denke, das sagt viel über den Stellenwert unseres Instituts unter den Kollegen. Und 2015 wird die Teilchenphysikwelt auf Österreich schauen! Die größte Teilchenphysikkonferenz des Jahres wird im Sommer 2015 in Wien stattfinden. Das ist eine tolle Sache!

Es gibt seit vielen Jahren Ausbaupläne für das HEPHY inklusive eines Zusammenrückens mit dem Atominstitut und anderen Instituten: Wie ist der Stand der Dinge?

Es gibt inzwischen sehr detailliert ausgearbeitete Pläne und ich hoffe, dass wir in der ersten Hälfte des nächsten Jahres ein „go“ bekommen. Das wäre super und ein wichtiger Schritt für die Teilchenphysik in Wien.



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