Donnerstag, 12. Dezember 2013

Ich und sein Spiegelbild.

aus NZZ, 12. 12. 2013

Die anderen in mir
Wolfgang Prinz betrachtet Selbst und Seele im Spiegel des Sozialen

von Hans Bernhard Schmid · «Ein Mensch besteht aus einem Körper, einer Seele und einem Pass», sagt angeblich ein russisches Sprichwort. Hinter der Übertreibung steht vielleicht die schreckliche Wahrheit, dass in unmenschlichen Verhältnissen nicht als Mensch gilt, wer sich nicht ausweisen kann. Unmenschlich sind solche Verhältnisse, weil auch Staatenlose Menschen sind. Es ist nicht der Pass, also der Staat, der den Menschen macht. Aber wäre ein Mensch ein Mensch ohne jede soziale Rolle und Beziehung? Es fällt schwer, sich das vorzustellen. Wer oder was man ist, wird nicht nur von den physischen Eigenschaften sowie von «Seelischem» wie Wünschen, Überzeugungen, Charakterzügen und dergleichen bestimmt, sondern auch von Dingen, die im weitesten Sinn den sozialen Status betreffen. Es ist nicht weniger eine soziologische Frage als eine Frage der Psychologie und Physiologie.

Die traditionellen Wissenschaften vom Menschen haben dem Sozialen indes selten das gleiche Gewicht zugestehen wollen wie dem Physischen und dem Seelischen. Und aus der Philosophie war bisweilen sogar zu hören, dass wir uns radikal missverstünden, wenn wir uns selbst über den «Blick der anderen» und über unsere Position in sozialen Beziehungen definierten. Was für eine Rolle man in den Augen der anderen spiele, habe nichts mit dem zu tun, wer man «eigentlich» sei; es lege einen vielmehr auf eine Rollenidentität fest, die einen am «eigentlichen Selbst» vorbeileben lasse. Dieses «wahre Selbst» sei im Innersten von den Haltungen anderer, von Konventionen und gesellschaftlichen Umständen unberührt. Sowieso kenne einen niemand so, wie man wirklich sei und sich selbst kenne - und schon gar nicht «die Gesellschaft».

Natürlich gab es schon in der Geschichte der Psychologie, Anthropologie und Philosophie Widerspruch zu dieser These vom Vorrang der Selbstkenntnis vor den sozialen Beziehungen. Eine ganze Reihe von Autorinnen und Autoren hat sie als eine individualistische Anmassung kritisiert. Wolfgang Prinz unterstützt diesen Protest von der Spitze der gegenwärtigen psychologischen Forschung aus. Das «Selbst», so Prinz, der lange Jahre als Direktor an Max-Planck-Instituten für Psychologie und Neurowissenschaften in München und in Leipzig tätig war, sei eine Spiegelung; auch das vermeintlich Innerste der Einzelseele, die Wünsche und Überzeugungen, die jemand habe, seien Reflexe der anderen. Sie kämen nicht aus einem vorsozialen Urgrund der Einzelseele, sondern entstammten dem Umgang mit anderen Menschen.

Das Argument lautet: Das «Haben» einer Seele schliesst ein Wissen von sich selbst ein (eine «Repräsentation» der eigenen «mentalen Zustände»), und dieses Wissen von sich selbst ist gleichsam abgeleitetes Wissen, es kommt von der Erfahrung mit anderen her. Nicht die Selbstwahrnehmung, sondern die Fremdbeobachtung liegt am Grunde des «Selbst». Prinz belegt seine These in seinem sehr lesbar, ja spannend geschriebenen Buch «Selbst im Spiegel» mit reichem empirischem Material. Die psychologische Diskussion bezieht auch das Physische mit ein, das Gehirn, in dem sich die gegenwärtig vieldiskutierten Spiegelneuronen finden. Sie bieten der These vom Selbst als Spiegelung eine hirnphysiologische Grundlage.

Seele und Geist, so Prinz, seien nicht «geschlossen», sondern gründeten in der Interaktion mit anderen. Und da die Frage, was wir glauben und wollen, davon abhänge, welche Überzeugungen und Wünsche wir uns selbst zuschreiben, sei die «Konstruktion» unserer Seelen ein gemeinschaftliches Projekt, der Geist ein Produkt des Miteinanderseins. Der Autor nennt seine Position explizit «kollektivistisch»: Niemand hat ein Selbst, ausser er «macht» sich eines - und das geht nicht rein privat, sondern nur gemeinsam mit anderen.

Der «konstruktivistische Kollektivismus» ist keine blosse Spekulation, sondern eine Interpretation empirischer Befunde. Aber Prinz, der den Philosophen früher vorgeworfen hat, dass sie «nerven», will mit dieser Interpretation jetzt auch das philosophische «Rätsel der Subjektivität» gelöst haben. - Übrigens hat er dafür viel Applaus des Philosophen Manfred Frank bekommen, der jahrzehntelang Subjektivität zum Kernthema seiner Arbeit gemacht hat. In einer Rezension fand Frank an dem Buch von Prinz wenig auszusetzen. Dabei hätte sich eine gute Gelegenheit geboten, als Philosoph den Psychologen noch einmal zu «nerven». Denn in ihrem Innersten scheint die Subjektivität doch etwas zu sein, das aller Beziehung auf andere vorausliegt. Wie könnte jemand das, was sie oder er an anderen beobachtet, jemals auf «sich selbst» beziehen, wenn sie oder er nicht bereits irgendwie mit sich selbst vertraut - also schon ein «Selbst» - wäre? Diese basale Ebene des Selbstseins scheint vor aller Spiegelung zu liegen, und sie bleibt das Rätsel der Subjektivität, das mit dem Hinweis auf Fremdbeobachtung und soziale Interaktion noch nicht beantwortet ist.

Also doch zurück zum traditionellen Bild der vorsozialen Einzelseele? Das muss nicht sein. Vielleicht ist dieses Mit-sich-vertraut-Sein selbst keine Privatangelegenheit, sondern ein gemeinsames Mit-uns-vertraut-Sein, durch das wir schon vor aller Erfahrung anderer, vor aller Spiegelung, mit diesen anderen - irgendwie - verbunden sind. Wie dem auch sei: Dieses philosophische «Grundrätsel» erscheint im Lichte der Untersuchungen von Wolfgang Prinz eher als Resträtsel, denn seine Infrastruktur verdankt unser Geist klarerweise der Interaktion mit anderen, der wechselseitigen Spiegelung. Aber womöglich verbirgt sich in dem verbleibenden Resträtsel eine Antwort auf die Frage, warum es mitunter vorkommen kann, dass wir uns im Spiegel des Sozialen nicht wiederzuerkennen vermögen und glauben, «eigentlich ganz anders» zu sein, als man uns sieht.

Wolfgang Prinz: Selbst im Spiegel. Die soziale Konstruktion von Subjektivität. Suhrkamp, Berlin 2013. 502 S., Fr. 59.90.



aus Zeit.online,

Im fremden Blick
Der Psychologe Wolfgang Prinz klärt glänzend über das Selbstbewusstsein auf.

von Manfred Frank

Erst ein Jahrhundert ist es her, dass sich die Psychologie aus dem mütterlichen Schoß der Philosophie entfernte. Statt auf philosophische Nabelschau, also die "innere Beobachtung", stützte sie sich auf experimentelle Verfahren und etablierte sich als wahrhaftige Naturwissenschaft des Geistes – in gewollter und durchaus aggressiver Konkurrenz zur Philosophie. Freilich, den Gegenstand behielt sie mit ihrer seligen Mutter gemein, auch wenn sie anders über ihn spricht. 

Das zeigt exemplarisch die deutsche Übersetzung der jüngsten größeren Publikation des Kognitionspsychologen Wolfgang Prinz, die 2012 unter dem Titel Open Minds. The Social Making of Agency and Intentionality erschien. Prinz war vor seiner Emeritierung Direktor des Max-Planck-Instituts für psychologische Forschung in München und zuletzt des Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig. Als vor einigen Jahren leidenschaftlich über die (In-)Existenz der Willensfreiheit debattiert wurde, war Prinz eine der führenden Stimmen. Er leugnete das Faktum nicht, erklärte seine "Realität" aber als soziales Konstrukt.

In der Tat. Auch jene Instanz, die Philosophen seit der altgriechischen Stoa, erst recht seit René Descartes, für die dem Menschen wesentliche Fähigkeit halten, nämlich sich selbst und seine geistigen Zustände als die eigenen bewusst zu erfassen, leugnet Prinz keineswegs. Aber sein Blick aufs Selbstbewusstsein ist nicht die philosophische Innenschau. Ihm geht es nicht um eine Beschreibung der inneren Verfasstheit des Selbst oder dessen, wie einem erlebenden Wesen "zumute" ist; vielmehr konzentriert er sich auf die evolutionäre Funktion des Geistes. Die teleologische Frage "Wozu" sticht die nach seiner Struktur aus. Denn "kognitive Systeme sind hauptsächlich zum Zwecke angepaßter Verhaltensleistungen entwickelt worden, und nicht um des Erlebens willen". 

Die Frage sollte lauten: Wozu gibt es überhaupt einen Geist? 

Genauso ist der deutsche Buchtitel zu verstehen: Nicht aus solipsistischer Versenkung in unser Innenleben, nicht aus eitlem Grübeln im "Lehnstuhl", sondern aus gesellschaftlichem Umgang mit unseresgleichen gewinnen wir Selbstbewusstsein. Um zu diesem Befund zu gelangen, müssen wir nicht "introspektiv", sondern "naturalistisch" vorgehen. Denn der elementare Aufbau unseres Geistes ist Bestandteil unserer natürlichen Ausstattung und steht damit unter Gesetzen eines durchgehenden Determinismus. Die Grundoperation der "Widerspiegelung" natürlicher Tatsachen heißt "Repräsentation". Diesen passiven Reproduktionsmechanismus erweitert Prinz nun "konstruktivistisch": durch die Annahme, unser Geist sei offen für Umwelt und besonders Gesellschaft. Ein Prolog lehrt emphatisch, dass wir das von den großen Geistern der Renaissance lernen können. 

Natürlich ist dieser Konstruktivismus selbst der Evolutionsbiologie abgelernt: Ein "Rätsel des Bewusstseins" wird nur der bestaunen, der Grenzen naturwissenschaftlicher "Beobachtbarkeit" unseres Innenlebens der Rede wert findet. Aber statt partout dort etwas entdecken zu wollen, wo im Wortsinne nichts zu sehen ist, sollte man die Fragerichtung wechseln: Wozu gibt es überhaupt einen Geist? Die uns schon bekannte Antwort: Den hat die Evolution als Steuerungsinstrument "der Verhaltensleistung der Lebewesen in ihrem Kampf um Überleben und Fortpflanzung" ausgebildet. Aber gerüffelt werden nicht nur innenschauverliebte Philosophen, sondern auch Wissenschaftler, die von der Kausalität verhext sind und jeder Art von "Finalität" und "teleologischer Erklärung" – also Fragen nach dem Wozu einer natürlichen Entwicklung – misstrauen. Im Willensbegriff gebe die Evolution selbst den Wink, dass es ihr um zielgerichtetes Handeln zu tun ist. Ja, "die Operation der volitiven Maschinerie ist die eigentliche Funktion[...], zu deren Erfüllung das Selbst sich entwickelt hat". (Hätte sie das nicht kraftschonender auch ohne Bewusstsein erreichen können?) 

Von René Descartes, dem Begründer der modernen Subjektphilosophie im 17. Jahrhundert, über Franz Brentano, den Ahnherrn der Phänomenologie im 19. Jahrhundert, bis Sydney Shoemaker, dem 1931 geborenen Großmeister der analytischen Bewusstseinsphilosophie, habe die moderne Philosophie des Subjekts dessen soziale Wurzeln übersehen, meint Prinz. Stattdessen habe sie dem Mythos vom "privilegierten Zugang" zu den mentalen Daten und ihrem Eigner, dem einzelnen, dem in sich abgeschlossenen "Selbst", gehuldigt.

Ein feiner argumentativer Trick reicht Prinz, diesen Mythos zu entzaubern. Übersetzt man den in der Fachwelt üblichen Kunstausdruck "Introspektion" listig durch "Selbstbeobachtung" (was Brentano und Shoemaker freilich verbieten), so wird klar, dass uns der Blick nach "innen" prinzipiell keinen Aufschluss bringt über die "wahren" Prozesse und Mechanismen, die sich in unserem "Innern", und das heißt für den Naturalisten: in unserm "Gehirn" abspielen. Beobachtung ist typischerweise Fremdbeobachtung. Ist sie der Königsweg aller Erkenntnis, warum sollten wir dann nicht aus Fremdwahrnehmung – zumal aus der Wahrnehmung fremder Subjekte – lernen, was es mit uns selbst auf sich hat? In der Tat, das ist der zweite Schritt und die eigentliche Pointe des ganzen Buchs: Unsere Selbstkenntnis entspringt nicht aus direktem Selbstgewahrwerden, sondern ausschließlich aus "sozialen Spiegeln" – nur sie liefern eine Umwelt, in der Subjekte als kooperierende und beobachtbare Gegenstände ins Spiel kommen. "Bei den Menschen, so meine These, werden diese Repräsentations- und Steuerungsinstrumente zuerst bei anderen wahrgenommen und erst danach auf das eigene Selbst angewendet."

Viele Filmkomödien arbeiten mit unerkannten Spiegeln

Diese "kollektivistische" Ansicht, gesteht Prinz in einer Fußnote, sei "nicht völlig neu". Wo er recht hat, hat er recht. Allerlei psychologische Fachliteratur wird angegeben, nur einer Fußnoten-Erwähnung würdig scheint der eigentliche Urheber des Paradigmas. Es war Hegel, der wirkungsmächtig die Idee eines "unmittelbaren" Zugangs, den das individuelle Subjekt zu sich selbst hätte, abgewiesen und Selbstbewusstsein aus Fremdbegegnung hatte zustande kommen lassen. Schon er benutzt die Spiegelmetapher: "Das Selbstbewußtsein ist sich [...] nur real, insofern es seinen Widerschein in anderen weiß (ich weiß, daß andere mich als sich selbst wissen)" – und umgekehrt. Schon Hegel versucht also, Selbstbewusstsein durch die Vorschaltung der "er/sie"-Perspektive und seine Reduktion auf ein Objektbewusstsein einerseits, einen funktionierenden sozialen Zusammenhang andererseits zu mediatisieren. Marx, Wittgenstein oder Habermas (die Prinz der Erwähnung für ebenso unwürdig hält) schwimmen sachlich im Kielwasser dieses Paradigmas.

Freilich, spätestens jetzt müssen wir fragen: Wie soll denn ein Subjekt aus einem Reflex lernen, dass dieser Reflex es selbst repräsentiert? Viele Filmkomödien arbeiten mit unerkannten Spiegeln – etwa einer leeren Durchreiche, vor der sich jemand als vor einem Spiegel zu rasieren meint, bis ihn des Nachäffers Faust knock-down schlägt. "Selbstkenntnis", sagt Sydney Shoemaker, "ist nicht die Art von Kenntnis, in der Gegenstände präsentiert werden. Es ist eine ungegenständliche Kenntnis. [...] Aber selbst wenn man seiner selbst gegenständlich bewusst würde (wie einem das vor einem Spiegel geschieht), würde das unser Selbstwissen nicht erklären. Gegenständliches Selbstbewusstsein setzt ungegenständliches voraus." Gordon Gallups Versuche mit Schimpansen vor Spiegeln wollten 1969 genau diesen Nachweis erbringen.

Gegen Einwände solcher Art könnte sich Prinz wappnen. Natürlich, könnte er sagen, repräsentieren physische Spiegel nur unser "Körperselbst", nicht unseren Geist. Aber Achtung: Geistige Zustände sind funktional nur als "kausale Antezedenzien nachfolgender Handlungen" von Interesse – und die sind körperlich und lassen sich beobachten, also auch spiegeln. Mit der Zeit vollziehen wir diesen Schluss quasi automatisch, indem wir die Lücken unzugänglicher Eigenkenntnis durch Spiegelkenntnis anderer füllen. Aber: Um ein Netz zu werden, bedarf es mindestens eines Stücks Stoff. Auf einen unendlich weitergereichten Schluss lässt sich Selbstbewusstsein nicht gründen.

Was bleibt zu sagen? Dass ich dies Buch für glänzend geschrieben und umfassend gelehrt halte. Ich werde es künftig gern wieder aus dem Regal holen, wenn ich mich über komplexe Gedanken zur gesellschaftlichen Konstitution unserer Individualität und ihre Verflochtenheit in einen kollektiven Handlungszusammenhang informieren will. Übrigens gefällt mir, dass Prinz die Willensfreiheit – ebenso wenig wie das Selbst – nicht als eine Fiktion, also einen irrigen Gedanken abtut. Soziale Artefakte sind keine Irrtümer, sondern haben einen Naturtatsachen ebenbürtigen Charakter. 

Die insgesamt gewissenhafte und elegante Übersetzung des amerikanischen Originals durch Jürgen Schröder wartet gelegentlich mit Wortmonstern wie "menschliche Agentivität" oder "Verhaltensleistungen" auf. Sie lassen das Buch in einem schlechteren Sinne philosophisch erscheinen, als es verdient, genommen zu werden.

Manfred Frank, geboren 1945, ist emeritierter Professor für Philosophie an der Universität Tübingen



Nota.

Ein weltberühmter und dennoch fast unbekannter Philosoph* hat es ungefähr so ausgedrückt: Das Ich setzt sich, indem es sich einem Nicht-Ich entgegensetzt.

Das ist ein politischer Begriff, denn gemeint ist natürlich das autonome Subjekt der bürgerlichen Verkehrsgesellschaft (nicht ein Exemplar in einem Kollektiv); es "schwebt" zwischen Aufforderung und Anerkennung.  Dem wirft das Trieb- und Bedürfnis-Ich immer wieder Knüppel vor die Beine. Das ist dann Sache der Psychologie. Welche Philosophie man wähle, sagte derselbe Philosoph, hänge davon ab, was man für ein Mensch ist. Welches Ich man für sich verantwortlich macht, auch.
JE   

*) Manfred Frank ist er freilich nicht unbekannt. Ich verstehe nicht, wieso er ihn hier hinter Hegel versteckt. Das hat weder der eine noch der andere verdient.

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