Mäuse können negative Erfahrungen vererben
Viele Jahrzehnte galt die Möglichkeit der Vererbung erworbener Eigenschaften als widerlegt - Forscher konnten nun aber an Mäusen zeigen, wie sie traumatische Erfahrungen epigenetisch ihrem Nachwuchs weitergeben
Atlanta/Wien – Vor genau 90 Jahren vermeldete der russische Forscher Iwan Pawlow im Fachmagazin "Science" spektakuläre Ergebnisse eines noch nicht abgeschlossenen Experiments: Er behauptete, dass sich bei Mäusen bestimmte Erfahrungen von einer Generation auf die nächste vererben lassen würden.
Pawlow hatte Mäuse dazu gebracht, dass sie beim Läuten einer Glocke zu einem bestimmten Futterplatz liefen. Bei der ersten Generation brauchte es dafür 300 Versuche, ehe sich die Mäuse den Zusammenhang merkten. Die nächste Generation der konditionierten Mäuse brauchte dafür nur mehr 100 Versuche, die Enkelgeneration nur 30, die Urenkelgeneration nur zehn Versuche.
Die sechste Generation wollte Pawlow nach einem Auslandsaufenthalt testen. Er ging aber davon aus, dass diese Mäuse ohne jeden Lernversuch zum Futter finden würden. 1927 zog der russische Forscher diese Ergebnisse zurück, sprich: Sie galten als nicht veröffentlicht.
Das war genau ein Jahr nach dem Selbstmord des Wiener Biologen Paul Kammerer, der damals als der letzte Vertreter des sogenannten Lamarckismus galt, der die Vererbbarkeit erworbener Eigenschaften behauptete. Kammerers Tod war von einem bis heute ungeklärten Fälschungsskandal überschattet, was zur Folge hatte, dass der Lamarckismus für mehr als 50 Jahre auch aus ideologischen Gründen für erledigt galt.
Doch in den vergangenen gut zwei Jahrzehnten häuften sich neue molekularbiologische Erkenntnisse, die solche neolamarckistischen Vererbungen möglich erscheinen ließen. Forscher entdeckten sogenannte epigenetische Mechanismen, die auch eine Vererbung jenseits der DNA möglich machten – auch beim Menschen.
Eine neue Untersuchung an Mäusen liefert nun die vielleicht überzeugendsten Hinweise auf die Vererbung erworbener Eigenschaften oder Erfahrungen – und legt nahe, dass Pawlow seine Mäuseforschungen womöglich etwas voreilig zurückzog.
Die US-Forscher Brian Dias und Kerry Ressler (Emory University School of Medicine in Atlanta) setzten Mäuse einem Kirschblütenduft aus und verabreichten ihnen dabei Elektroschocks. Ähnlich wie Pawlow konditionierten also auch sie Tiere. Diese erworbene Erfahrung behielten die Mäuse aber nicht für sich, wie die Forscher im Fachblatt "Nature Neuroscience" schreiben: Die Angst vor dem Kirschblütenduft wurde auch auf die Nachkommen und sogar auf die Enkelgeneration vererbt.
Wie aber soll das möglich sein? Weitere Untersuchungen zeigten zum einen, dass bei den Mäusen der zweiten und dritten Generation die Struktur jener Hirnregionen leicht verändert war, die an der Verarbeitung von Gerüchen beteiligt sind. Zum anderen führten künstliche Befruchtungen mit dem Mäusesperma der ersten Generation ebenfalls zu Mäusen mit Kirschblütenangst.
Tatsächlich fanden sie an einem Gen im Mäusesperma epigenetische Veränderungen. Konkret war ein Gen zur Erkennung von Düften bei den Großvätern und ihren Kindern deutlich weniger "methyliert", wie der molekularbiologische Fachausdruck lautet. Dadurch war auch die Aktivität des Gens verändert.
Für die Forscher ist damit zumindest ein Teil des Mechanismus geklärt, wie Erfahrungen vererbt werden. Unklar bleibt zwar, wie die angstvollen Duftinformationen in das Sperma eingeschrieben werden. Die Forscher gehen aber davon aus, dass es ähnliche Mechanismen auch bei Menschen gibt, die erklären würden, wie etwa Traumatisierungen auf die Kinder vererbt würden.
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Nature: Fearful memories haunt mouse descendants
Abstract
Nature Neuroscience: Parental olfactory experience influences behavior and neural structure in subsequent generations
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