Warum die Welt so ist, wie sie ist
Auf der Suche nach einer «letzten» Theorie stehen Physiker vor dem Nichts
von Eduard Kaeser
Physiker tun sich schwer damit, unser Universum als Resultat göttlicher Fügung zu begreifen. Lieber postulieren sie, unsere Welt sei nur eine von vielen. Dem Anspruch, kausale Erklärungen zu liefern, werden sie damit aber auch nicht gerecht.
Auf der Suche nach einer «letzten» Theorie stehen Physiker vor dem Nichts
von Eduard Kaeser
Physiker tun sich schwer damit, unser Universum als Resultat göttlicher Fügung zu begreifen. Lieber postulieren sie, unsere Welt sei nur eine von vielen. Dem Anspruch, kausale Erklärungen zu liefern, werden sie damit aber auch nicht gerecht.
Die Idee, dass das Universum nach dem Entwurf eines Demiurgen geschaffen worden ist, gehört nach herkömmlichem Selbstverständnis der Physik in den Abfallkübel der Geschichte. Man sollte allerdings nicht vergessen, dass sich die Pioniere der neuen Astronomie und Physik intensiv mit der Frage einer «Weltharmonik» abgaben (so hiess Keplers astronomisches Werk, das 1619 publiziert wurde). Und bis Einstein und über ihn hinaus bewegt die Physiker diese tiefe Irritation einer kosmischen Ordnung, die zu erhaben ist, als dass wir sie begreifen könnten. Das schmälerte im Übrigen die Erkenntnisfortschritte der Physik in den letzten drei Jahrhunderten keineswegs. Aber bei aller Betonung und Hochschätzung von Exaktheit, Experiment und Empirie hört man von Physikern immer wieder, dass ihr heimliches Motiv die Suche nach Schönheit und Sinn des Universums sei. Fast scheint es, als sei diese «Schönheit» für viele Physiker eine Art von Religionsersatz geworden.
Was wäre, wenn nicht?
Der Gedanke einer «Harmonie» des
Universums mag religiösen Ursprungs sein. Aber man kann auf ihn auch
anhand einer kleinen Meditation mit Wahrscheinlichkeiten kommen. Ich
nenne sie das «Was-wäre-wenn-nicht-Spiel». Es ist hübsch tückisch. Man
beginnt es am besten bei sich selber: Warum gibt es mich? Meine Existenz
verdanke ich meinen Eltern. Wenn es sie nicht gäbe, gäbe es auch mich
nicht; auch nicht, wenn sie sich nicht zu einem günstigen Zeitpunkt
getroffen und Gefallen aneinander gefunden hätten; womöglich auch nicht,
wenn ihre Eltern nicht in derselben Stadt gewohnt hätten; auch nicht .
. . und so weiter. - Ich kann das Spiel mit allen diesen sich
verästelnden Zufällen bis zum existenziellen Schwindelanfall treiben.
Auch die Physiker spielen dieses Spiel, allerdings im kosmischen Format.
Alles nur Zufall?
In den letzten Jahrzehnten hat
sich dank leistungsfähiger Beobachtungstechnologie nicht nur eine enorme
Menge von Daten über das frühe Universum angehäuft, immer mehr wird den
Physikern auch bewusst, wie viele günstige Zufälle dazu beigetragen
haben, dass es uns überhaupt gibt. Nicht wenige Menschen sehen darin
einen Beweis dafür, dass wir von Anfang an «geplant» waren. Aber das ist
ein logischer Fehlschluss von der Konsequenz auf die Prämisse.
Physikalische Erklärungen
benötigen zweierlei: Gesetze und Anfangs- oder Randbedingungen. Im Labor
legt der Experimentator diese Bedingungen selber fest. Wenn ich eine
Kugel die Fallrinne hinunterrollen lasse, kann ich dank Fallgesetz bei
Kenntnis der wesentlichen Parameter (Neigung der Rinne, Rollreibung
usw.) zum Beispiel von der Endgeschwindigkeit der Kugel auf ihre
Anfangsgeschwindigkeit schliessen. Das gelingt umso weniger, je mehr
Parameter und zufällige Bedingungen am Prozess beteiligt sind. Dann wird
das Experiment immer mehr zu einer verwickelten Geschichte, deren
Ausgang sich nicht mehr stringent mit ihrem Beginn verknüpfen lässt. So
gibt es ja in der Geschichte vom Urknall bis zur Entstehung von Galaxien
keine Experimentatoren, und doch müssen zahlreiche zufällige
Bedingungen erfüllt sein, damit galaktische Strukturen entstehen: eine
sogenannte Feinabstimmung.
Urknall-Modelle schreiben dem
Anfangszustand des Universums eine bestimmte Energiedichte und
Expansionsrate zu. Wenn nicht schon am Ursprung des Universums ein ganz
bestimmtes Verhältnis von Energiedichte und Expansionsrate bestanden
hätte, gäbe es keine Galaxien, Sterne und Physiker, die über dieses
Verhältnis rätseln.
Was-wäre-wenn-nicht-Fragen richten
sich nicht nur auf Anfangsbedingungen, sondern auch auf die
Naturkonstanten: etwa Elektronen- und Protonenmasse,
Gravitationskonstante, Feinstrukturkonstante,
Vakuumlichtgeschwindigkeit, Wirkungsquantum. So sind etwa die
Massenverhältnisse der Teilchen innerhalb eines Atoms und die Kräfte,
die sie zusammenhalten, genau so abgestimmt, dass das Atom stabil ist
und trotzdem mit anderen Atomen interagieren und chemische Verbindungen
bilden kann. Nur schon eine geringfügige Änderung ihres Wertes hätte
dramatische Folgen: Leben, wie wir es kennen, wäre nicht möglich. Also
sind auch Naturkonstanten das Resultat einer primordialen
Feinabstimmung.
Viele Physiker schauen jedoch
Was-wäre-wenn-nicht-Szenarios scheelen Auges an. Denn Feinabstimmung
erklärt eigentlich nichts, sondern schafft bloss weiteren
Erklärungsbedarf. Physiker verlangen Erklärungen nach dem
Kausalitätsprinzip. Die Frage ist freilich, ob wir denn hier noch mit
kausalen Antworten rechnen können.
Argumente für die Feinabstimmung
haben etwas Selbstschmeichlerisches. Unsere Fragen entspringen ja dem
Bewusstsein, dass es uns gibt, und damit einer aussergewöhnlichen
Position. Aber ist sie denn so aussergewöhnlich? Das kosmologische
Prinzip besagt doch, dass es im Universum keine privilegierte Position
gibt. Man könnte sagen: Nun gut, es braucht ganz bestimmte
Anfangsbedingungen dafür, dass ein Universum wie das unsere entsteht.
Sie sind nicht wahrscheinlicher als andere. Also gibt es eigentlich
nichts zu erklären. Das Universum ist einfach so, wie es ist. Punkt.
Aber Leben ist nun einmal etwas ganz Besonderes, nicht nur von einem
menschlichen Standpunkt aus gesehen, sondern allein schon aufgrund
seiner Komplexität. Ein Krakenhirn ist komplexer als eine leblose
Galaxie, also weniger wahrscheinlich. Das genügt, um es als
erklärungswürdig anzuschauen.
Aber gibt es denn nicht Kraken und
Galaxien, wirft der kritische Laie ein, was bedeutet also die Rede von
«weniger wahrscheinlichen» Krakenhirnen? Sie bedeutet allgemein, dass
wir eine statistische Betrachtungsweise wählen. Im Besonderen heisst
dies, dass die Physiker nicht von der Idee eines Universums ausgehen,
sondern von einer grossen Gesamtheit verschiedener, nicht
interagierender Universen, jedes mit speziellen Anfangsbedingungen,
Gesetzen und Konstanten: einem Multiversum. Unser Universum mit
Krakenhirnen wäre darin ein ziemlich unwahrscheinliches. Bei genügend
grosser Zahl jedoch wird auch das Unwahrscheinliche wahrscheinlich.
Nach wie vor ist das keine
befriedigende Antwort, sondern mutet wie ein Ad-hoc-Manöver an. Denn
immer noch stellt sich die Frage: Was oder wer hat gerade unser
Universum «ausgewählt»? Unbekannte Gesetze des Multiversums? Zufall?
Eine kosmische Intelligenz? Die Kosmologie erreicht hier eine Schwelle,
jenseits deren nicht wenige Physiker nur noch eine Spielwiese frivoler
Phantastereien erblicken.
Fluktuationen des Vakuums
Und wie steht es mit dem Urknall
selbst? Warum gab es gerade diesen, warum gab es ihn überhaupt? Hier
stehen die Physiker vor dem Nichts - buchstäblich. Dem klassischen
Kausalitätsdenken widerspricht der Gedanke, dass das Universum einfach
so «aufpoppt». Für die Quantentheorie bedeutet er hingegen keinen
Widerspruch. Sie stellt sich unter dem Nichts einen Grundzustand vor,
welcher das Potenzial hat, Teilchen in die Existenz zu entlassen.
Entscheidend ist die statistische Denkweise. Den Schlüssel liefert die
Heisenbergsche Unschärferelation. Sie besagt grob, dass alle
physikalischen Quantitäten «fluktuieren», das heisst sich unvorhersehbar
und unverursacht ändern können. Ein statistisches Nichts ist damit nur
im Mittel nichts. Deshalb kann in sehr kleinen Zeit- und Raumquanten -
in der sogenannten Planck-Zeit und Planck-Länge - eigentlich alles
Mögliche wirklich werden: einfach «passieren».
Wenn man nun im Besitze einer lang
ersehnten Quantengravitationstheorie wäre, dann läge auch die Erklärung
für die Entstehung von Raum und Zeit in Reichweite. Die physikalischen
Gesetze würden erlauben, dass Raum, Zeit, Energie, dass das ganze
Universum als zufällige Blähung einer Quanten-Fluktuation dem Nichts
entspringt. Der Kosmologe Alan Guth, der vor 30 Jahren das Szenario
eines «inflationären» Universums entwarf, prägte dafür ein geflügeltes
Bonmot: «The Universe is a free lunch» - das Universum ist umsonst zu
haben, weil es aus nichts entsteht.
Das Dilemma ist: Wenn das Nichts
etwas erklären soll, dann muss es irgendwie qualifiziert (also etwas)
sein; und wenn es qualifiziert ist, dann ist das Nichts nicht nichts.
Das Quantenvakuum ist eine Antwort auf die Frage nach dem Ursprung des
Universums und zugleich eine weitere Frage nach der Natur dieses
Vakuums. Wer das Entstehen des Universums aus dem Nichts zu erklären
sucht, braucht zumindest Gesetze, seien dies nun die Gesetze der
künftigen Quantengravitation oder welcher Theorie auch immer. Aber
selbst wenn wir im Besitz einer «letzten» Theorie wären, die erklärt,
wie das Universum entstanden ist, wüssten wir immer noch nicht, warum
dies so geschah. Wir brauchten Anfangs- oder Randbedingungen.
Für Newton war noch ganz
selbstverständlich, dass er zwar die Gesetze der Natur gefunden hatte,
die Anfangsbedingungen aber von Gott festgelegt worden waren. Alan
Turing drückte das in seinen «Messages from an Unseen World» wunderschön
so aus: Wissenschaft, das sind Differenzialgleichungen. Religion, das
sind Randbedingungen. Eine «letzte» Theorie des Universums, die keine
Feinabstimmung mehr braucht, müsste sowohl Differenzialgleichungen
aufstellen wie auch die Randbedingungen festlegen, das heisst im Grunde
selbsterklärend sein, will sagen: Gott spielen. Damit bleibt für den
Physiker die Option: Gott spielen oder weitermachen im unabschliessbaren
Reigen des Fragens und Antwortens - ein Erbe von Sisyphus?
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