Das Informationsparadigma wird unser Menschenbild verändern
Wer immer nur nach den verantwortlichen «bösen» Datensammlern sucht, hat die Dimension der laufenden Datenskandale noch nicht begriffen. Je mehr Computer und Algorithmen die Steuerung des modernen Lebens übernehmen, desto mehr werden die Regeln des Individualismus und der herkömmlichen Politik ausser Kraft gesetzt.
Wer immer nur nach den verantwortlichen «bösen» Datensammlern sucht, hat die Dimension der laufenden Datenskandale noch nicht begriffen. Je mehr Computer und Algorithmen die Steuerung des modernen Lebens übernehmen, desto mehr werden die Regeln des Individualismus und der herkömmlichen Politik ausser Kraft gesetzt.
Von Stephan Wehowsky
Der Aufruf zur Verteidigung der
Demokratie im digitalen Zeitalter vom vergangenen Dienstag wurde von
mehr als 560 Schriftstellern aus der ganzen Welt unterzeichnet. Juli Zeh
und Ilija Trojanow, die das Ganze initiiert haben, vermieden es
sorgfältig, bestimmte Geheimdienste oder andere Akteure namentlich zu
nennen. Sie wollten damit vermeiden, dass sie potenzielle Unterzeichner
abschrecken. Der Aufruf richtet sich aber auch nicht an bestimmte
Politiker wie zum Beispiel Angela Merkel, an die die beiden Initianten
einige Zeit vorher schon einen offenen Brief geschrieben hatten. Dadurch
bekommt der Aufruf eine merkwürdigere Struktur: Es fehlt ein Adressat.
Dieser Mangel kennzeichnet wiederum genauer, als viele Worte und
Erklärungen es vermöchten, das Dilemma, das die nach und nach
bekanntwerdenden Datenskandale zum Ausdruck bringen.
Zweierlei Perspektive
Man kann dieses Dilemma aus zwei
Perspektiven betrachten: der Perspektive der Bürger und der Perspektive
der Datensammler. Wie der Aufruf zeigt, wissen die Bürger inzwischen gar
nicht mehr, an wen sie sich wenden sollen. Zwar liegt es nahe, sich als
Erstes an jene Politiker zu wenden, die man selber gewählt hat. Aber
diese Politiker sind offenbar nicht mehr die souveränen Herren, die den
Geheimdiensten kurzerhand Befugnisse und Geld entziehen können. Sie
können Geheimdienste nicht einfach schliessen wie eine überflüssig
gewordene Dienststelle. Aus der Perspektive der Geheimdienste gibt es
auch keine klaren Grenzen mehr. Der potenzielle Feind steht nicht mehr
jenseits der Landesgrenzen, er lässt sich nicht auf bestimmte ethnische
oder nationale Gruppen eingrenzen, und der Übergang zwischen harmlosen
und gefährlichen Kommunikationen oder Aktivitäten ist auch fliessend.
Geheimdienste bewegen sich in einem Meer der Unbestimmtheit.
Im Zusammenhang des Aufrufs zur
Verteidigung der Demokratie hat der Schriftsteller T. C. Boyle eine
Formulierung gefunden, die der heutigen Situation relativ nahekommt:
«Während wir schliefen, haben die Maschinen die Welt übernommen, genau
wie es die alten Science-Fiction-Filme voraussagten.» Statt «Maschinen»
müsste man besser sagen: «Informationstechnologien» oder noch genauer:
«das Informationsparadigma». Erst dann wird nämlich klar, warum unsere
überkommenen Vorstellungen von Privatsphäre und der Politik, die
zumindest in freiheitlichen Ländern diesen individuellen Raum zu
schützen habe, unserer Zeit nicht mehr gerecht werden.
Denn das Informationsparadigma
löst die Privatheit ebenso auf wie das Individuum und die Regeln der
herkömmlichen Politik. Dieses Paradigma hat eine ähnliche
gesellschaftliche Wucht wie einstmals die Einführung der Geldwirtschaft.
Denn es verändert unsere herkömmlichen Wahrnehmungen dadurch, dass die
neue Währung der Information bisherige Konventionen ebenso sprengt wie
das Geld, das die Grenzen zwischen Ständen relativiert und zuletzt
aufgehoben hat.
Die Autoren des Aufrufs prangern
die Tatsache an, dass mit der Sammlung der Daten von unseren
Kommunikationen weitreichende Schlüsse auf unser gegenwärtiges und
künftiges Verhalten möglich sind. Wir sind, um es zuzuspitzen, eine
komplexe Ansammlung von Daten, die Analysen und Vorhersagen erlauben.
Dahinter verflüchtigt sich das, was in der europäischen Tradition als
«Subjekt» bezeichnet wurde. Das Subjekt als Träger der Freiheit, der
Würde und der Unantastbarkeit der Person ist zur alteuropäischen Fiktion
geworden.
Unverstandene Folgen
Jeder, der Online-Anbieter wie
Amazon nutzt, kann dies im Kleinen beobachten. Kaum hat er ein Produkt
gekauft oder auch nur angeschaut, werden ihm diverse Angebote gemacht,
die «dazu passen». Das ist noch wunderbar harmlos im Verhältnis zu ganz
anderen Möglichkeiten. Das amerikanische Unternehmen «23andMe»
entschlüsselt Genome für 99 Dollar. Es genügt, eine Speichelprobe
einzuschicken, um dann genau zu erfahren, wie hoch das Risiko für
diverse Krebsarten, Geisteskrankheiten oder einen Schlaganfall ist. Wir
haben es damit zu tun, dass der Kern des Menschen aus Informationen
besteht, die in den Genen gespeichert sind.
Auch wenn dieses Verfahren noch
etwas avantgardistisch anmutet, kennen wir es in anderer Gestalt schon
lange: die pränatale Diagnostik. Sie bietet den künftigen Eltern die
Möglichkeit, darüber zu entscheiden, ob sie ein Kind mit vorgeburtlich
erkennbaren schweren Krankheiten haben wollen oder nicht. Die Anwendung
solcher Verfahren wäre völlig undenkbar, wenn der Mensch nicht unter
medizinisch-naturwissenschaftlichen Informationsgesichtspunkten
betrachtet und bewertet würde. Betrachtet man ein Kind als «Geschenk
Gottes», kommt man gar nicht auf die Idee, es vor der Geburt
gentechnisch analysieren zu lassen.
Das Informationsparadigma als
Schlüssel zur Erfassung jedes Einzelnen, aber auch des Verhaltens von
Gruppen hat weitreichende gesellschaftliche Folgen. Denn es ist gar
nicht möglich, diese Daten unter der Prämisse für Vorhersagen zu
verwenden, dass der Mensch frei oder altruistisch ist. Er muss als
Nutzenoptimierer als Basis für die Algorithmen bestimmt werden. Es liegt
also nicht an den Geheimdiensten, sondern am Informationsparadigma
selbst, dass die Freiheit des Menschen wegdefiniert wurde.
Die Skandale um die Ausspähung
aller Bürger hängen nicht in erster Linie mit skrupellosen
Kompetenzüberschreitungen einzelner Geheimdienste zusammen, sondern mit
einer Veränderung des Menschenbildes auf der Basis des
Informationsparadigmas. Was wir jetzt lernen müssen, ist, daraus die
Konsequenzen zu ziehen. Man kann das Ich zur Exklave machen, indem man
bestimmte Technologien und Netzwerke nicht nutzt. Das kann aber immer
nur die Lösung für einige wenige sein. Und eines ist sicher: Wir werden
noch lange nach den richtigen Antworten suchen müssen.
Stephan Wehowsky ist Redaktor bei der Internetzeitung «Journal21».
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