Montag, 16. Dezember 2013

Joachim Ritter in Marbach.

aus NZZ, 13. 12. 2013                                                                                                                                                                       1962

Dem Menschen fehlt fast gar nichts
Joachim Ritter und die Folgen - eine Tagung in Marbach 


von Uwe Justus Wenzel 

Joachim Ritter hat mit seinem Münsteraner Collegium Philosophicum Geistesgeschichte geschrieben. Eine Tagung im Deutschen Literaturarchiv Marbach fragte unlängst nach der «Aktualität» seiner Philosophie und derjenigen seiner Schüler. 

Um Ordnung in die Geistesgeschichte zu bringen, werden gerne Schulen unterschieden und nach ihrem jeweiligen Schulhaupt benannt. Je stärker der ordnende Blick dabei ins Detail geht, desto mehr Schulen wird er freilich finden - und wenn nicht ganze Schulen, so doch wenigstens Zirkel, die sich um Lehrer scharen. Wenn die Schüler dann ihrerseits zu Mittelpunkten werden, um die sich Kreise bilden, wird das Bild bald noch unübersichtlicher, zumal auch Interferenzen zwischen solchen Kreisen zu berücksichtigen wären. Man darf sich die bewegte Oberfläche eines Teiches vorstellen, in den mehrere Steine unterschiedlicher Grösse geworfen werden.

Eine Kantate

Joachim Ritter, der von 1946 bis 1968 an der Universität Münster Philosophie lehrte, war ein geistiges Zentrum der angedeuteten Art. Als sein Zirkel, das Collegium Philosophicum, 1957 zehnjähriges Bestehen feiern konnte, verfasste ein Assistent, der Sinn für gereimte Ironie besass und sich selbst später «Transzendentalbelletrist» nannte, eine «Fundamentalkantate». Aus ihr geht auch hervor, was die Schüler von ihrem Lehrer gelernt haben - zum Beispiel einiges über die moderne, durch politische Revolutionen und durch Wissenschaft und Technik umgewälzte Welt, die zwischen Herkunft und Zukunft, Tradition und Fortschritt, aber auch zwischen der abstrakten Allgemeinheit der lebensbestimmenden Mächte und den Bedürfnis- und Empfindungswelten der Einzelnen eine Kluft entstehen lasse. Die Kluft zu überbrücken, ist in Ritters Theorie der Moderne - grob gesagt - der «Subjektivität» aufgegeben, den aus ihren geschichtlichen Herkunftswelten befreiten Individuen, die noch Bildungsbürger genug sind, um den «Reichtum der Überlieferung» bewahren zu können.

In der «Fundamentalkantate» klingt das so: «Herkunft kann zusammenstehen / mit der Zukunft ohne Krach. / Hegel hat das scharf gesehen, / und wir sehen es ihm nach: // die Entzweiung ist Versöhnung, / Illusion, dass man sich quält; / denn dem Menschen fehlt fast gar nichts, / nur die Einsicht, dass nichts fehlt. // Und die Zeit ist in den Fugen, / und die Welt ist wunderschön. / Und wir alle sind ja Bürger, / die am Freitag hegeln gehen.» Odo Marquard, der Dichter der Kantate, lässt seine Mitschüler und sich also ins Collegium und «hegeln» gehen, während andere Bürgersleute sich wohl zum sich darauf reimenden Kegeln treffen.

Ob die Welt, wenn sie heute durch die Brille des Ritterschen Hegelianismus betrachtet werde, ihr wirkliches Antlitz zeige, war eine der Fragen, die unlängst im Deutschen Literaturarchiv in Marbach (am Neckar) im Raume standen, als über die «Aktualität Joachim Ritters und seiner Schüler» nachgedacht wurde. Eingeladen hatten Ulrich von Bülow (vom Archiv) und Mark Schweda (Göttingen), denen bereits die Edition zweier Ästhetikvorlesungen Ritters zu verdanken ist. Gekommen waren, neben Ideenhistorikern und Ritter-Forschern, erste Schüler und letzte Assistenten des 1974 verstorbenen Meisters, aber auch letzte Mitarbeiter des einen oder anderen seiner Schüler, geistige Kinder und Enkel mithin.

Die «Fundamentalkantate», deren Schöpfer leider nicht zugegen war, spitzt einen Gedanken formelhaft so zu, dass sich an ihm sogar die Geister innerhalb der - ohnedies ein breites Spektrum aufweisenden - Ritter-Schule scheiden. Dass die Entzweiung, die im Kosmos der Philosophie Hegels der Versöhnung durchaus bedarf, selbst die Versöhnung sein könne, bezweifelte jedenfalls Reinhart Maurer, der sein Studium in Münster begann, als Marquard Ritters Assistent war. Er sah zudem die bürgerliche «Gemütlichkeit», die sich in der Kantate - wiewohl ein wenig persifliert - Ausdruck verschafft, in deutlichem Kontrast zur «Ungemütlichkeit» der Sphäre, die Hegel als die der bürgerlichen Gesellschaft begriffen hatte. Woher, schliesslich, die Subjektivität die «Kraft» nehmen solle, zwischen Herkunft und Zukunft zu vermitteln, das sei schleierhaft. Nicht unähnlich fragte Henning Ottmann - kein Ritter-Schüler zwar -, was denn die Gegensätze zwischen Herkunft und Zukunft trage, was sie «erträglich» mache, wenn das, was Hegel «Sittlichkeit» nannte, im modernen Leben ausfalle.

Joachim Ritter hatte von solcher Fraglichkeit ein Bewusstsein, wie etwa ein 1955 gehaltener Vortrag über «Europäisierung als europäisches Problem» zeigt (an den Martin Ingenfeld, München, erinnerte): «Wo es keine Macht der Versöhnung und Vermittlung gibt, da gehören die revolutionäre Verneinung der Herkunft und die reaktionäre Verneinung der Zukunft unlösbar zusammen; die innere Zerrissenheit nimmt zu und treibt die Versuchung hervor, den unversöhnten Gegensatz durch die Gewalt zu lösen.» Allerdings ist die Sentenz auf die sozialen und kulturellen Verwerfungen gemünzt, die die kemalistische Modernisierung der Türkei mit sich gebracht hat und die dem Philosophen bei seiner Tätigkeit an der Universität Istanbul (1953 bis 1955) vor Augen geführt wurden. Für die Gesellschaften, von denen die Europäisierung, sprich: Modernisierung, ausgegangen ist, stellt sich laut Ritter allein die Frage, ob sie, was ihnen gelungen sei - ebenjene «Versöhnung und Vermittlung» von Herkunft und Zukunft -, nun für die gesamte Welt «fruchtbar» zu machen in der Lage seien.

Vermittlungsarbeit leisten in dieser Sache auch die Geisteswissenschaften, die nach Joachim Ritters vermutlich bekanntester wie umstrittenster These das «Organ» sein sollen, das die «Abstraktheit und Geschichtslosigkeit» der modernen Gesellschaft «kompensiert», indem sie «die geschichtliche und geistige Welt des Menschen offen und gegenwärtig» hielten - jene Herkunftswelt also, die die moderne Gesellschaft, andererseits, aus sich ausschliesse. Dieter Teichert (Konstanz) machte auf eine Doppeldeutigkeit aufmerksam: Ritter lässt sich auch so verstehen, als ob die historisch orientierten Geisteswissenschaften bei ihrer Arbeit die «Sinngehalte» der Tradition nicht nur vergegenwärtigten, sondern sie als solche, als sinnstiftende Gehalte, auch bewahrten und «irgendwie als doch noch gültige» am Leben erhielten.

Die Vernünftigkeit dessen, was ist

Eine vielleicht verwandte Ambivalenz zeichnete sich in den Überlegungen ab, die Josef Früchtl (Amsterdam) zu Ritters «masshaltender Ästhetik» vortrug. In der ästhetischen Vergegenwärtigung des verlorenen «Ganzen», des Weltzusammenhangs, die der modernen, insoweit postmetaphysischen Subjektivität nach Ritter noch bleibt, erkannte Früchtl ein nüchternes Weltvertrauen, das der Erlösung und also Weltflucht nicht mehr bedürfe. Immerhin aber gestand Ritter selbst zu, in der ästhetischen Erfahrung könne sich so etwas wie eine «momentane» Erlösung ereignen.

Joachim Ritters Philosophie hat in ihrer politisch pointierten Anverwandlung durch einige seiner Schüler, namentlich Hermann Lübbe, Odo Marquard und Robert Spaemann, zur «liberalkonservativen Begründung» der deutschen Bundesrepublik wesentlich beigetragen, wie Jens Hacke, Autor einer lesenswerten einschlägigen Studie, noch einmal deutlich machte. Sie selbst aber scheint ihrerseits nunmehr zu einem der Traditionsbestände der Geistesgeschichte abgesunken zu sein. Welches wäre ihr eigener, wie auch immer zu «aktualisierender» Sinngehalt? Hermann Lübbe, dessen Stimme in Marbach häufig zu hören war, hat ihn als eine Art pragmatisch verpflichtende, aber «widerlegliche» Vermutung reformuliert: Es gelte, auf die «Vernünftigkeit dessen, was ist», zu setzen - bis zum Beweis des Gegenteils.


Nota.

Auf Joachim Ritter geht die von seinem Schüler Odo Marquard systematisierte Auffassung zurück, bei der Ausbildung und dem Bedeutungsszuwachs des Ästhetischen in der Moderne handle es sich um die nostalgische "Kompensation" der in der Aufklärung verlorengegangenen metaphysischen Aussöhnung mit dem Ganzen der Welt. Das beschreibt den Gegenpol zu meiner Auffassung, das Ästhetische habe sich mit den Fortschritten der Ökonomie aus seinen ursprünglichen Verstrickungen in die "Bedürfnisse" herausgearbeitet und frei gemacht. Es ist nicht die Kompensation eines aufgetretenen Mangels, sondern ein genuiner Zugewinn.

Allerdings teile ich die vor- und überphilosophische Grundeinstellung, dass man da, wo es nicht wirklich was zu maulen gibt, auch ruhig mal ja sagen kann.
JE


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