Dem Menschen fehlt fast gar nichts
Joachim Ritter und die Folgen - eine Tagung in Marbach
von Uwe Justus Wenzel
Joachim Ritter hat mit seinem Münsteraner Collegium Philosophicum Geistesgeschichte geschrieben. Eine Tagung im Deutschen Literaturarchiv Marbach fragte unlängst nach der «Aktualität» seiner Philosophie und derjenigen seiner Schüler.
Joachim Ritter und die Folgen - eine Tagung in Marbach
von Uwe Justus Wenzel
Joachim Ritter hat mit seinem Münsteraner Collegium Philosophicum Geistesgeschichte geschrieben. Eine Tagung im Deutschen Literaturarchiv Marbach fragte unlängst nach der «Aktualität» seiner Philosophie und derjenigen seiner Schüler.
Um Ordnung in die Geistesgeschichte zu bringen, werden gerne Schulen unterschieden und nach ihrem jeweiligen Schulhaupt benannt. Je stärker der ordnende Blick dabei ins Detail geht, desto mehr Schulen wird er freilich finden - und wenn nicht ganze Schulen, so doch wenigstens Zirkel, die sich um Lehrer scharen. Wenn die Schüler dann ihrerseits zu Mittelpunkten werden, um die sich Kreise bilden, wird das Bild bald noch unübersichtlicher, zumal auch Interferenzen zwischen solchen Kreisen zu berücksichtigen wären. Man darf sich die bewegte Oberfläche eines Teiches vorstellen, in den mehrere Steine unterschiedlicher Grösse geworfen werden.
Eine Kantate
Joachim Ritter, der von 1946 bis
1968 an der Universität Münster Philosophie lehrte, war ein geistiges
Zentrum der angedeuteten Art. Als sein Zirkel, das Collegium
Philosophicum, 1957 zehnjähriges Bestehen feiern konnte, verfasste ein
Assistent, der Sinn für gereimte Ironie besass und sich selbst später
«Transzendentalbelletrist» nannte, eine «Fundamentalkantate». Aus ihr
geht auch hervor, was die Schüler von ihrem Lehrer gelernt haben - zum
Beispiel einiges über die moderne, durch politische Revolutionen und
durch Wissenschaft und Technik umgewälzte Welt, die zwischen Herkunft
und Zukunft, Tradition und Fortschritt, aber auch zwischen der
abstrakten Allgemeinheit der lebensbestimmenden Mächte und den
Bedürfnis- und Empfindungswelten der Einzelnen eine Kluft entstehen
lasse. Die Kluft zu überbrücken, ist in Ritters Theorie der Moderne -
grob gesagt - der «Subjektivität» aufgegeben, den aus ihren
geschichtlichen Herkunftswelten befreiten Individuen, die noch
Bildungsbürger genug sind, um den «Reichtum der Überlieferung» bewahren
zu können.
In der «Fundamentalkantate» klingt
das so: «Herkunft kann zusammenstehen / mit der Zukunft ohne Krach. /
Hegel hat das scharf gesehen, / und wir sehen es ihm nach: // die
Entzweiung ist Versöhnung, / Illusion, dass man sich quält; / denn dem
Menschen fehlt fast gar nichts, / nur die Einsicht, dass nichts fehlt.
// Und die Zeit ist in den Fugen, / und die Welt ist wunderschön. / Und
wir alle sind ja Bürger, / die am Freitag hegeln gehen.» Odo Marquard,
der Dichter der Kantate, lässt seine Mitschüler und sich also ins
Collegium und «hegeln» gehen, während andere Bürgersleute sich wohl zum
sich darauf reimenden Kegeln treffen.
Ob die Welt, wenn sie heute durch
die Brille des Ritterschen Hegelianismus betrachtet werde, ihr
wirkliches Antlitz zeige, war eine der Fragen, die unlängst im Deutschen
Literaturarchiv in Marbach (am Neckar) im Raume standen, als über die
«Aktualität Joachim Ritters und seiner Schüler» nachgedacht wurde.
Eingeladen hatten Ulrich von Bülow (vom Archiv) und Mark Schweda
(Göttingen), denen bereits die Edition zweier Ästhetikvorlesungen
Ritters zu verdanken ist. Gekommen waren, neben Ideenhistorikern und
Ritter-Forschern, erste Schüler und letzte Assistenten des 1974
verstorbenen Meisters, aber auch letzte Mitarbeiter des einen oder
anderen seiner Schüler, geistige Kinder und Enkel mithin.
Die «Fundamentalkantate», deren
Schöpfer leider nicht zugegen war, spitzt einen Gedanken formelhaft so
zu, dass sich an ihm sogar die Geister innerhalb der - ohnedies ein
breites Spektrum aufweisenden - Ritter-Schule scheiden. Dass die
Entzweiung, die im Kosmos der Philosophie Hegels der Versöhnung durchaus
bedarf, selbst die Versöhnung sein könne, bezweifelte jedenfalls
Reinhart Maurer, der sein Studium in Münster begann, als Marquard
Ritters Assistent war. Er sah zudem die bürgerliche «Gemütlichkeit», die
sich in der Kantate - wiewohl ein wenig persifliert - Ausdruck
verschafft, in deutlichem Kontrast zur «Ungemütlichkeit» der Sphäre, die
Hegel als die der bürgerlichen Gesellschaft begriffen hatte. Woher,
schliesslich, die Subjektivität die «Kraft» nehmen solle, zwischen
Herkunft und Zukunft zu vermitteln, das sei schleierhaft. Nicht
unähnlich fragte Henning Ottmann - kein Ritter-Schüler zwar -, was denn
die Gegensätze zwischen Herkunft und Zukunft trage, was sie «erträglich»
mache, wenn das, was Hegel «Sittlichkeit» nannte, im modernen Leben
ausfalle.
Joachim Ritter hatte von solcher
Fraglichkeit ein Bewusstsein, wie etwa ein 1955 gehaltener Vortrag über
«Europäisierung als europäisches Problem» zeigt (an den Martin
Ingenfeld, München, erinnerte): «Wo es keine Macht der Versöhnung und
Vermittlung gibt, da gehören die revolutionäre Verneinung der Herkunft
und die reaktionäre Verneinung der Zukunft unlösbar zusammen; die innere
Zerrissenheit nimmt zu und treibt die Versuchung hervor, den
unversöhnten Gegensatz durch die Gewalt zu lösen.» Allerdings ist die
Sentenz auf die sozialen und kulturellen Verwerfungen gemünzt, die die
kemalistische Modernisierung der Türkei mit sich gebracht hat und die
dem Philosophen bei seiner Tätigkeit an der Universität Istanbul (1953
bis 1955) vor Augen geführt wurden. Für die Gesellschaften, von denen
die Europäisierung, sprich: Modernisierung, ausgegangen ist, stellt sich
laut Ritter allein die Frage, ob sie, was ihnen gelungen sei - ebenjene
«Versöhnung und Vermittlung» von Herkunft und Zukunft -, nun für die
gesamte Welt «fruchtbar» zu machen in der Lage seien.
Vermittlungsarbeit leisten in
dieser Sache auch die Geisteswissenschaften, die nach Joachim Ritters
vermutlich bekanntester wie umstrittenster These das «Organ» sein
sollen, das die «Abstraktheit und Geschichtslosigkeit» der modernen
Gesellschaft «kompensiert», indem sie «die geschichtliche und geistige
Welt des Menschen offen und gegenwärtig» hielten - jene Herkunftswelt
also, die die moderne Gesellschaft, andererseits, aus sich ausschliesse.
Dieter Teichert (Konstanz) machte auf eine Doppeldeutigkeit aufmerksam:
Ritter lässt sich auch so verstehen, als ob die historisch orientierten
Geisteswissenschaften bei ihrer Arbeit die «Sinngehalte» der Tradition
nicht nur vergegenwärtigten, sondern sie als solche, als sinnstiftende
Gehalte, auch bewahrten und «irgendwie als doch noch gültige» am Leben
erhielten.
Die Vernünftigkeit dessen, was ist
Eine vielleicht verwandte
Ambivalenz zeichnete sich in den Überlegungen ab, die Josef Früchtl
(Amsterdam) zu Ritters «masshaltender Ästhetik» vortrug. In der
ästhetischen Vergegenwärtigung des verlorenen «Ganzen», des
Weltzusammenhangs, die der modernen, insoweit postmetaphysischen
Subjektivität nach Ritter noch bleibt, erkannte Früchtl ein nüchternes
Weltvertrauen, das der Erlösung und also Weltflucht nicht mehr bedürfe.
Immerhin aber gestand Ritter selbst zu, in der ästhetischen Erfahrung
könne sich so etwas wie eine «momentane» Erlösung ereignen.
Joachim Ritters Philosophie hat in
ihrer politisch pointierten Anverwandlung durch einige seiner Schüler,
namentlich Hermann Lübbe, Odo Marquard und Robert Spaemann, zur
«liberalkonservativen Begründung» der deutschen Bundesrepublik
wesentlich beigetragen, wie Jens Hacke, Autor einer lesenswerten
einschlägigen Studie, noch einmal deutlich machte. Sie selbst aber
scheint ihrerseits nunmehr zu einem der Traditionsbestände der
Geistesgeschichte abgesunken zu sein. Welches wäre ihr eigener, wie auch
immer zu «aktualisierender» Sinngehalt? Hermann Lübbe, dessen Stimme in
Marbach häufig zu hören war, hat ihn als eine Art pragmatisch
verpflichtende, aber «widerlegliche» Vermutung reformuliert: Es gelte,
auf die «Vernünftigkeit dessen, was ist», zu setzen - bis zum Beweis des
Gegenteils.
Nota.
Auf Joachim Ritter geht die von seinem Schüler Odo Marquard systematisierte Auffassung zurück, bei der Ausbildung und dem Bedeutungsszuwachs des Ästhetischen in der Moderne handle es sich um die nostalgische "Kompensation" der in der Aufklärung verlorengegangenen metaphysischen Aussöhnung mit dem Ganzen der Welt. Das beschreibt den Gegenpol zu meiner Auffassung, das Ästhetische habe sich mit den Fortschritten der Ökonomie aus seinen ursprünglichen Verstrickungen in die "Bedürfnisse" herausgearbeitet und frei gemacht. Es ist nicht die Kompensation eines aufgetretenen Mangels, sondern ein genuiner Zugewinn.
Allerdings teile ich die vor- und überphilosophische Grundeinstellung, dass man da, wo es nicht wirklich was zu maulen gibt, auch ruhig mal ja sagen kann.
JE
Nota.
Auf Joachim Ritter geht die von seinem Schüler Odo Marquard systematisierte Auffassung zurück, bei der Ausbildung und dem Bedeutungsszuwachs des Ästhetischen in der Moderne handle es sich um die nostalgische "Kompensation" der in der Aufklärung verlorengegangenen metaphysischen Aussöhnung mit dem Ganzen der Welt. Das beschreibt den Gegenpol zu meiner Auffassung, das Ästhetische habe sich mit den Fortschritten der Ökonomie aus seinen ursprünglichen Verstrickungen in die "Bedürfnisse" herausgearbeitet und frei gemacht. Es ist nicht die Kompensation eines aufgetretenen Mangels, sondern ein genuiner Zugewinn.
Allerdings teile ich die vor- und überphilosophische Grundeinstellung, dass man da, wo es nicht wirklich was zu maulen gibt, auch ruhig mal ja sagen kann.
JE
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