aus Badische Zeitung, 4. 12. 2013
Tödliche Anekdote - Kulturhistoriker Egon Friedell im Porträt
Über Bernhard Viels Biographie des legendären Wiener Kulturhistorikers Egon Friedell.
von Ludger Lütkehaus
Am 16. März 1938, vier Tage
nach dem Einmarsch deutscher Truppen in Österreich, einen Tag nach
Hitlers frenetisch bejubelter Ansprache auf dem Wiener Heldenplatz,
klingeln gegen 22 Uhr zwei SA-Uniformierte an der Wohnungstür des
weithin bekannten Autors Egon Friedell. Sie wollen wissen, "ob da der
Jud’ Friedell" wohne. Friedells Haushälterin antwortet: "Wenn Sie Herrn
Dr. Friedell meinen, der wohnt hier." Plötzlich steht Friedell in der
Tür seiner Bibliothek. Er verlangt eine Erklärung. Für einen Moment wird
die Aufmerksamkeit der Schergen abgelenkt. Friedell verschließt die Tür
hinter sich, eilt ins angrenzende Schlafzimmer und tritt auf ein
Fensterbrett der im dritten Stock liegenden Wohnung. Dann stürzt er sich
hinunter.
Dieser Suizid hat Aufnahme in Karl S. Guthkes und Werner Fulds Lexika
"letzter Worte" gefunden. Freilich mit einer atemverschlagenden
Zuspitzung: "Vorsicht bitte!" oder auf Wienerisch: "Obacht bitte!" habe
Friedell im Fallen gerufen, um keinem Passanten Schaden zuzufügen.
Der Literaturkritiker und Autor Bernhard Viel mag das Zitat in seiner
Biographie Friedells nicht wortwörtlich bestätigen. Wie aber auch die
Details gewesen sein mögen – es ist in der Tat eine der makabersten und
zugleich bewegendsten Selbsttötungen der Geschichte.
Friedells Leben läuft wiederholt auf einen Suizid zu, einmal sogar mit
einem fingierten autobiographischen Nachruf auf sich selbst. In den
letzten Monaten vor dem "Anschluss" Österreichs, als der Wiener
Antisemitismus sich weiter radikalisiert, schlägt der gerade sechzig
Jahre alt Gewordene alle Aufforderungen seiner Freunde in den Wind, sich
den Nazis durch Flucht zu entziehen. Er verbrennt einen Teil seiner
Manuskripte. Sich selber diskreditiert er als "feige", weil er den
Suizid den drohenden Verhören und Foltern vorzieht. Seine letzte Geste
freilich ist nichts weniger als feige. Der abgründige Witz, der Friedell
ausgezeichnet hat, findet hier seinen Höhepunkt.
Das verzweifelt komische Ende verdient auch aus schriftstellerischen
Gründen Beachtung. Als Autor zweier riesiger Hauptwerke, der
"Kulturgeschichte der Neuzeit" und der des Altertums, hat Friedell statt
dürrer Chroniken aussagekräftige Anekdoten gewählt: Sie sind zugleich
unterhaltsam und pointiert, zeigen das bedeutsame Detail und das
scheinbar Abseitige. Freilich leben sie auch von der Hoffnung, dass sich
das große Ganze von ihnen her erschließe. Deshalb sind die Anekdoten im
Werk Friedells Legion.
Keine Rolle ist ihm fremd
Seine weitgespannten Begabungen kommen hier zusammen. Er ist Dramatiker,
Schauspieler, Kabarettist, Theaterkritiker, Essayist, Erzähler,
Journalist, Historiker – und alles das in außergewöhnlichem Maß. Keine
Rolle ist ihm fremd. Im anerkennenden Sinn Goethes ist er ein umfassend
belesener, universal gebildeter "Dilettant". Er ist alkohol- und
fresssüchtig – und im buchstäblichen wie im übertragenen Sinn ein
Workaholic.
Aber natürlich haben seine unübersehbaren Symptome auch ihre tieferen
Gründe. Der Verlust seiner Mutter, die mit ihrem Geliebten durchbrennt,
als der 1878 in Wien geborene Sohn gerade einmal ein Jahr alt ist, und
die ihn später juristisch auf Begleichung ihrer Erbschaftsansprüche
verklagt, gehört gewiss zu den bleibenden Traumata seines Lebens. Nicht
weniger als viermal besteht der spätere Universalhistoriker der
Kulturgeschichte der Menschheit seine Matura nicht, bevor er schließlich
doch nach Studien bei Kuno Fischer reüssiert und mit seiner
Dissertation über den romantischen Dichterphilosophen Novalis nach
Fichte eine bleibende Identifikationsfigur seines intellektuellen Lebens
findet.
Der seinem Judentum entfremdete, aber unablässig gottsuchende Friedell
konvertiert früh zum Protestantismus, bekennt sich indes in seinen
religiösen Überzeugungen eher als Katholik. Das die Neuzeit prägende
Trauma der schwarzen Pest findet in seiner Kulturgeschichte eine
sinnstiftende Deutung: Über allen Leiden, Martern und Katastrophen
erhebt sich die Kathedrale des Mittelalters. Friedells Sinnbedürfnis
sucht allerdings auch in einer chauvinistischen Weltkriegsbegeisterung
Befriedigung.
In mindestens einem Punkt aber hat dieser Universalhistoriker – mit
einem seiner unübertrefflichen Bonmots – zweifellos ins Schwarze
getroffen: "Kultur ist Reichtum" – und zwar "Reichtum an Problemen, und
wir finden ein Zeitalter um so aufgeklärter, je mehr Rätsel es entdeckt
hat." An diesen Problemen hatte Egon Friedell selbst genug.
Bernhard Viel: Egon Friedell. Eine Biographie. C.H.Beck Verlag, München 2013. 352 Seiten, 24,95 Euro.
Egon Friedells "Kulturgeschichte des Altertums" und "Kulturgeschichte der Neuzeit" sind in diversen Ausgaben greifbar.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen