Montag, 9. Dezember 2013

Egon Friedell.

aus Badische Zeitung, 4. 12. 2013


Tödliche Anekdote - Kulturhistoriker Egon Friedell im Porträt
Über Bernhard Viels Biographie des legendären Wiener Kulturhistorikers Egon Friedell. 

von Ludger Lütkehaus

Am 16. März 1938, vier Tage nach dem Einmarsch deutscher Truppen in Österreich, einen Tag nach Hitlers frenetisch bejubelter Ansprache auf dem Wiener Heldenplatz, klingeln gegen 22 Uhr zwei SA-Uniformierte an der Wohnungstür des weithin bekannten Autors Egon Friedell. Sie wollen wissen, "ob da der Jud’ Friedell" wohne. Friedells Haushälterin antwortet: "Wenn Sie Herrn Dr. Friedell meinen, der wohnt hier." Plötzlich steht Friedell in der Tür seiner Bibliothek. Er verlangt eine Erklärung. Für einen Moment wird die Aufmerksamkeit der Schergen abgelenkt. Friedell verschließt die Tür hinter sich, eilt ins angrenzende Schlafzimmer und tritt auf ein Fensterbrett der im dritten Stock liegenden Wohnung. Dann stürzt er sich hinunter.

Dieser Suizid hat Aufnahme in Karl S. Guthkes und Werner Fulds Lexika "letzter Worte" gefunden. Freilich mit einer atemverschlagenden Zuspitzung: "Vorsicht bitte!" oder auf Wienerisch: "Obacht bitte!" habe Friedell im Fallen gerufen, um keinem Passanten Schaden zuzufügen.

Der Literaturkritiker und Autor Bernhard Viel mag das Zitat in seiner Biographie Friedells nicht wortwörtlich bestätigen. Wie aber auch die Details gewesen sein mögen – es ist in der Tat eine der makabersten und zugleich bewegendsten Selbsttötungen der Geschichte.

Friedells Leben läuft wiederholt auf einen Suizid zu, einmal sogar mit einem fingierten autobiographischen Nachruf auf sich selbst. In den letzten Monaten vor dem "Anschluss" Österreichs, als der Wiener Antisemitismus sich weiter radikalisiert, schlägt der gerade sechzig Jahre alt Gewordene alle Aufforderungen seiner Freunde in den Wind, sich den Nazis durch Flucht zu entziehen. Er verbrennt einen Teil seiner Manuskripte. Sich selber diskreditiert er als "feige", weil er den Suizid den drohenden Verhören und Foltern vorzieht. Seine letzte Geste freilich ist nichts weniger als feige. Der abgründige Witz, der Friedell ausgezeichnet hat, findet hier seinen Höhepunkt.

Das verzweifelt komische Ende verdient auch aus schriftstellerischen Gründen Beachtung. Als Autor zweier riesiger Hauptwerke, der "Kulturgeschichte der Neuzeit" und der des Altertums, hat Friedell statt dürrer Chroniken aussagekräftige Anekdoten gewählt: Sie sind zugleich unterhaltsam und pointiert, zeigen das bedeutsame Detail und das scheinbar Abseitige. Freilich leben sie auch von der Hoffnung, dass sich das große Ganze von ihnen her erschließe. Deshalb sind die Anekdoten im Werk Friedells Legion.

Keine Rolle ist ihm fremd Seine weitgespannten Begabungen kommen hier zusammen. Er ist Dramatiker, Schauspieler, Kabarettist, Theaterkritiker, Essayist, Erzähler, Journalist, Historiker – und alles das in außergewöhnlichem Maß. Keine Rolle ist ihm fremd. Im anerkennenden Sinn Goethes ist er ein umfassend belesener, universal gebildeter "Dilettant". Er ist alkohol- und fresssüchtig – und im buchstäblichen wie im übertragenen Sinn ein Workaholic.

Aber natürlich haben seine unübersehbaren Symptome auch ihre tieferen Gründe. Der Verlust seiner Mutter, die mit ihrem Geliebten durchbrennt, als der 1878 in Wien geborene Sohn gerade einmal ein Jahr alt ist, und die ihn später juristisch auf Begleichung ihrer Erbschaftsansprüche verklagt, gehört gewiss zu den bleibenden Traumata seines Lebens. Nicht weniger als viermal besteht der spätere Universalhistoriker der Kulturgeschichte der Menschheit seine Matura nicht, bevor er schließlich doch nach Studien bei Kuno Fischer reüssiert und mit seiner Dissertation über den romantischen Dichterphilosophen Novalis nach Fichte eine bleibende Identifikationsfigur seines intellektuellen Lebens findet.

Der seinem Judentum entfremdete, aber unablässig gottsuchende Friedell konvertiert früh zum Protestantismus, bekennt sich indes in seinen religiösen Überzeugungen eher als Katholik. Das die Neuzeit prägende Trauma der schwarzen Pest findet in seiner Kulturgeschichte eine sinnstiftende Deutung: Über allen Leiden, Martern und Katastrophen erhebt sich die Kathedrale des Mittelalters. Friedells Sinnbedürfnis sucht allerdings auch in einer chauvinistischen Weltkriegsbegeisterung Befriedigung.

In mindestens einem Punkt aber hat dieser Universalhistoriker – mit einem seiner unübertrefflichen Bonmots – zweifellos ins Schwarze getroffen: "Kultur ist Reichtum" – und zwar "Reichtum an Problemen, und wir finden ein Zeitalter um so aufgeklärter, je mehr Rätsel es entdeckt hat." An diesen Problemen hatte Egon Friedell selbst genug.

Bernhard Viel: Egon Friedell. Eine Biographie. C.H.Beck Verlag, München 2013. 352 Seiten, 24,95 Euro.

Egon Friedells "Kulturgeschichte des Altertums" und "Kulturgeschichte der Neuzeit" sind in diversen Ausgaben greifbar.

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