Eindeutig uneindeutig
Kulturwissenschaften im digitalen Zeitalter - eine Berner Tagung
Kulturwissenschaften im digitalen Zeitalter - eine Berner Tagung
von Urs Hafner · Man
kann es drehen und wenden, wie man will: Die Hermeneutik ist das
Kerngeschäft der Geistes- und Sozialwissenschaften. Methodengeleitet
betreiben sie, was wir alle unablässig von morgens bis abends tun,
nämlich Handlungen und Texte verstehen, also verborgene Sinnstrukturen
der Welt deuten. Für die Ausübung ihres Berufs braucht die
Kulturwissenschafterin nicht viel: ihre Sinne und ihren Geist, Bücher
und Papier, Schreibwerkzeug - und natürlich das Internet und den
Computer.
Längst durchdringt das Digitale auch den Alltag der Geistes- und Sozialwissenschaften. Welche «Herausforderungen» damit verbunden sind, thematisierte letzte Woche in Bern eine zweitägige Konferenz der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften (SAGW) unter dem Schlagwort «Digital Humanities». Es umfasst vieles: von der Erstellung einer Projektwebsite über die Retrodigitalisierung seltener Handschriften, die nun ortsunabhängig am Bildschirm studiert werden können, bis zur Analyse des sich unter den digitalen Bedingungen verändernden Erkenntnisprozesses.
...
Irritierend war, wie wenig viele der Forscher, die sich als Pioniere sehen, über die methodischen Konsequenzen des Einsatzes des Digitalen nachdenken - der übrigens nicht in allem so neu ist, wenn man etwa an die computergestützten quantifizierenden Arbeiten der «Annales»-Historiker der 1970er Jahre denkt. Bei der Präsentation der rund fünfzehn Forschungsprojekte fragte man sich mehr als einmal, inwiefern denn nun die neuen Techniken dem Kerngeschäft der Geistes- und Sozialwissenschaften dienlich sein sollen.
Da war die Rede von mehr Praxis, mehr Anwendung, mehr Öffentlichkeit, mehr Feedback und mehr Vernetzung - aber nicht von Erkenntnissen. Ein Vortragender meinte, er habe neue Wege zur Erzeugung von Daten gefunden - als ob es nicht schon genug vorhandene gäbe. Dass beispielsweise ein Videospiel die «ethische Selbsterkenntnis» der Probanden fördern soll, wie er behauptete, dürfte mehr als fraglich sein. Ein Historiker reduzierte seine schriftlichen Quellen auf «Inhalte» und «Informationen», die vom Computerprogramm erfasst würden, und bewies damit sein eindimensionales Textverständnis. Unüberseh- bar zeigte sich die Faszination für das Umherschieben und Neugruppieren grosser Datenmengen.
Am Räsonnement fehlte es indes nicht. Wenn die Geisteswissenschaften den Naturwissenschaften nacheiferten, zögen sie den Kürzeren, mahnte der Wissenschaftsforscher Michael Hagner von der ETH Zürich. Die Kunsthistorikerin Margarete Platschke, ebenfalls von der ETH, sagte gar, ihrem Fach drohe ein Rückfall, auch wenn sie den enormen Nutzen der Bilddatenbanken begrüsste: Die «Neurokunst- geschichte», die auf den Computertomografen und dessen Hirnbilder setze, sehe sich als exakte, objektive Wissenschaft, die «uneindeutige Daten» auszuscheiden suche. Doch wie der Hermeneutiker weiss: Wo Menschen am Werk sind, gibt es kaum etwas Eindeutiges.
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