Dienstag, 8. Oktober 2013

Wenn sich Wissenschaft rechnet.

aus NZZ, 7. 10. 2013                                                          Ute Bibow, pixelio.de

Der Wissenschafter - dein Freund und Helfer?
Das Bild von den Wissenschaften als die grossen Problemlöser ist kein realistisches
 


Die Schweiz soll eine innovative Wissensgesellschaft sein. Doch das in der Öffentlichkeit vorherrschende Bild der Wissenschaften ist einseitig. Schuld daran sind auch die Wissenschaften selber.

von Urs Hafner

Vor kurzem kam in einer Talk-Sendung des Schweizer Radios ein denkwürdiger Dialog zustande. Danach gefragt, was sein Spezialgebiet sei, antwortete der geladene Philosoph: Phänomenologie. Darauf der Moderator, vom lachenden Publikum begleitet: «Phä-no-me-no-lo-gie? Was ist das?» Nun lachte auch der Philosoph: Wenn er den Begriff erklären würde, dauerte die Sendung viel zu lang; die Phänomenologie sei eine andere Art, die Welt anzuschauen, eine Art Wahrnehmungstheorie. Der Moderator: «Und was bringt das?» Wieder lachte das Publikum. Der Philosoph: Sehr viel, es gehe um die subjektiven Momente unserer Wahrnehmung. Der Moderator: Das könne man also in der Psychologie anwenden?

Irgendwie dubios

Der Dialog bringt das Verhältnis von Geisteswissenschaften und öffentlicher Meinung treffend zum Ausdruck. Der Philosoph ist von Anfang an in der Defensive; er muss sich verteidigen. Der Moderator dagegen greift an; er spricht das Wort «Phänomenologie» wie den Namen einer exotischen Krankheit aus. Zwar ist der Begriff ebenso wenig geläufig wie das, was er bezeichnet, doch hätte der Gast «Quantenphysik» oder «Molekularbiologie» gesagt, hätte der Moderator anders reagiert, wahrscheinlich sachlicher, vielleicht bewundernd.

Der unter Legitimationsdruck stehende Philosoph changiert zunächst zwischen Kapitulation und Koketterie: Die Sache sei zu kompliziert, als dass man sie kurz erklären könne. Damit bestätigt er das Vorurteil, dass seine Tätigkeit irgendwie dubios sei. Dann versucht er, deren Wert hervorzustreichen, kann aber nicht mehr aus der vom Moderator vorgegebenen Spur ausscheren. Dieser biedert sich dem Publikum an: Er will nur den praktischen Nutzen und die Anwendung dieser Wissenschaft kennen. Die Frage, die der Philosoph aufzuwerfen versucht, dass man nämlich die Welt und ihre Gegenstände verschieden wahrnehmen könne, übergeht er. Sich auf sie einzulassen, wäre ihm zu viel an Reflexion gewesen.

Neuerdings erklären die Eliten die Schweiz zur «Wissensgesellschaft». Demnach beruht der Wohlstand des Lands hauptsächlich auf dem Wissen, das an seinen Hochschulen produziert und dann in Dienstleistungsunternehmen, Industriebetrieben und Bildungsinstitutionen verarbeitet wird. Das Schlagwort der Wissensgesellschaft soll die identitäre Leerstelle auffüllen, die entstanden ist, als das Selbstbild von der autarken Agrarrepublik, das in der Schweiz bis zum Ende des Kalten Kriegs kultiviert wurde, zerfiel.

Die Rede von der Wissensgesellschaft suggeriert, dass das über keine Rohstoffe verfügende Land seine führende Position als Forschungsnation weiter ausbauen müsse. Es versteht sich von selbst, dass die Mitglieder der Wissensgesellschaft viel wissen und gebildet, also beispielsweise auch selbstreflexiv sind. Die Bedingung dafür ist natürlich, dass Wissen keine Ware ist, die man einfach konsumieren oder kaufen kann. Unbestreitbar besitzt die Schweiz zwei hochangesehene Eidgenössische Technische Hochschulen sowie ein dichtes Netz guter Universitäten mit einem breiten Fächerkanon. Zudem belegt sie auf den internationalen Innovations-, Patent- und Publikationsranglisten die vordersten Plätze. Unbestreitbar ist aber auch: Die Wissensgesellschaft Schweiz ist, wie der Radiodialog zur Phänomenologie belegt, bildungs- und wissenschaftsskeptisch - wenn man unter Wissenschaft mehr versteht als die technischen Wissenschaften. Ein Grund dafür liegt in der im europäischen Vergleich tiefen Maturaquote. Die unteren sozialen Schichten sind, wie Bildungsstatistiken belegen, praktisch ausgeschlossen von der Gymnasialstufe und der akademischen Welt. Die Schweiz ist denn auch gezwungen, sowohl einen beträchtlichen Teil des akademischen Nachwuchses als auch universitär gebildete Arbeitskräfte zu importieren. Das mag zwar im Moment ökonomisch vorteilhaft sein, ist aber auf die Dauer dem Wohlergehen der Wissensgesellschaft abträglich, die doch auf das Wissen ihrer Mitglieder angewiesen wäre.

Von der Wissenschaftsskepsis betroffen sind jedoch nicht nur die Geisteswissenschaften, die in der Öffentlichkeit ohnehin nicht als richtige Wissenschaften gelten, weil sie keine objektiven Messungen durchführen, sondern auch die Naturwissenschaften. Davon zeugen paradoxerweise die vielen Veranstaltungen, an denen Hochschulen und Wissenschaften sich dem grossen Publikum dialogbereit präsentieren. Um dabei zu punkten, setzen sie vor allem auf ihre Praxistauglichkeit und Nützlichkeit. Doch beides gehört nicht zum wissenschaftlichen Kerngeschäft oder ist zumindest nur ein Aspekt davon.

Kürzlich fand an der Universität Zürich und der ETH Zürich wiederum die Scientifica statt, der grösste populäre Wissenschafts-Event der Schweiz. Dass an den «Zürcher Wissenschaftstagen» jeweils die Naturwissenschaften und die technischen Wissenschaften prominent vertreten sind, ist angesichts des Co-Organisators ETH keine Überraschung. Doch die Geisteswissenschaften und die Sozialwissenschaften sind nahezu inexistent. Offenbar gehen die Veranstalter davon aus, dass sie nicht repräsentativ für «die Wissenschaften» sind - oder dass ihre Präsentation das Publikum langweilen oder gar irritieren würde. Und das darf nicht passieren. Daher werden denn auch die Naturwissenschaften und die wenigen Sozialwissenschaften von ihrer besten Seite gezeigt: Sie dürfen demonstrieren, dass sie den Menschen für die praktische Lösung der drängendsten Probleme dienen. Mit ihnen kann man den Klimawandel bekämpfen und gegen Alterskrankheiten, Frühgeburten, Terrorismus und Erdbeben vorgehen.

Kein Platz für Grübler

Mag sein, dass an den vielen Ständen, an denen Laien und Forschende miteinander ins Gespräch kommen, von Letzteren auch das Faktum des stets unsicheren Erkenntnisgewinns und der Unsteuerbarkeit der Wissenschaften erörtert wird, doch das offizielle Bild vermittelt etwas anderes: Die Wissenschaften sind ein spektakuläres, erfolgreiches Unterfangen, wobei Erfolg mit technischer Beherrschbarkeit in eins gesetzt wird. Auf der Bühne führten Roboter ihre Kunststücke vor, während die sie fernsteuernden Forschenden hinter dem schwarzen Vorhang verborgen blieben und der Moderator die zahlreich anwesenden Kinder infantilisierte, indem er ihnen Naivität und Unwissen unterstellte - ausgerechnet den Kindern, deren Neu- gier jeder Forschung ein Vorbild sein könnte. Im «Science Talk» erzählte ein Westschweizer Astronaut, dass man im Leben alles erreichen könne, wenn man nur wolle. Der ältere Moderator sagte, der Beruf des Militärpilots sei für jeden Buben ein Traum.

Die Scientifica ist kein Einzelfall. In den einschlägigen Museen und an Wissenschafts-Events wird immer wieder das Bild des Wissenschafters als Berufsmann kultiviert, der technische Hindernisse meistert. Die theoretischen, intellektuellen und grüblerischen Seiten der Wissenschaften sind ebenso wenig ein Thema wie ihre Monotonie, ihre Routine und ihr Scheitern. Um in der bildungsfeindlichen Wissensgesellschaft populär zu sein, präsentieren die Wissenschaften dem Publikum ein unrealistisches Selbstbild.

Dieter Schütz, pixelio.de

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