Unser Stammbaum schrumpft
Wissenschaftler aus Georgien haben einen Problem-Schädel ausgegraben: Er will einfach nicht in die bewährten Schubladen der Anthropologie passen. Hat der Mensch vielleicht doch nicht so viele Vorfahren wie bisher gedacht?
 
Von Hubert Filser
 
Die fünf Schädel sehen beeindruckend aus, wie sie so in einer Linie stehen. Als würden sie noch die letzten Details der Strategie besprechen, ehe sie gemeinsam in den Kampf ziehen. Ein wenig stimmt dieser Eindruck tatsächlich, auch wenn es eher eine intensive wissenschaftliche Debatte ist, in deren Zentrum diese fünf Charakterköpfe stehen, die in dem Ort Dmanissi in Georgien gefunden wurden. Verhandelt werden große Fragen, nämlich wie und wo sich die Menschheit vor knapp zwei Millionen Jahren entwickelt hat, wer unsere Vorfahren wirklich waren, wie sie aussahen und ob nicht unser Stammbaum umgeschrieben werden muss.
 
Letzteres fordert das Team um den georgischen Paläontologen Dawit Lortkipanidse nach seinen Untersuchungen der Schädel (Science, Bd. 342, S. 326, 2013). Diese würden trotz ihrer Variationsbreite alle zu einer Art der Gattung Mensch gehören, zum Homo erectus. Die 1,77 Millionen Jahre alten Fossilien wären damit der älteste Beleg für einen Homo erectus außerhalb von Afrika, zugleich zeigten sie, dass die Differenzierung in verschiedene Frühmenschenarten wie Homo rudolfensis, Homo habilis oder eben Homo erectus überflüssig sei. Schon damals hätte es demnach nur eine Menschenart gegeben.


Die fünf Schädel, die das Fachmagazin Science in seiner aktuellen Ausgabe zeigt, sind für sich genommen schon eine Sensation. Sie sind die mit Abstand ältesten Funde in Europa und die frühesten Nachweise der Gattung Mensch außerhalb von Afrika. Zudem sind die Schädel extrem
gut erhalten. So können die Forscher anhand von Merkmalen wie Gehirngröße, Gesichtsform oder den markanten Überaugenwülsten ihre Theorien testen.
 
Gestandene Vertreter der Zunft wie der amerikanische Anthropologe Tim White geraten ins Schwärmen. "Eine Fossilien-Ikone" nennt er den zuletzt entdeckten Schädel Nr. 5 eines erwachsenen Mannes. Der Schädel sei, fügt Ian Tattersall vom American Museum of Natural History in New York an, "unzweifelhaft einer der bedeutendsten jemals entdeckten". Viele andere Funde sind nämlich nur in Teilen erhalten, manche Forscher jubeln bereits über ein paar Backenzähne.
Beute von Säbelzahnkatzen
 
Gefunden hat die Fossilien Lortkipanidse nahe einer mittelalterlichen Burg bei Dmanissi im Kaukasus, etwa 80 Kilometer von der Hauptstadt Tiflis entfernt. Wenn man der Geschichte trauen darf, hat er den letzten und am besten erhaltenen Schädel Nr. 5 ausgerechnet an seinem 42. Geburtstag am 5. August 2005 entdeckt. Dmanissi liegt auf einem abgeflachten Hügel, den unten im Tal liebliche Flussauen umspielen. Die Funde stammen alle aus einer extrem kurzen Zeitspanne von wenigen Tausend Jahren. Die fünf Individuen, ein alter Mann ohne Zähne, zwei erwachsene Männer, eine junge Frau und ein Individuum unbekannten Geschlechts, lagen relativ nah beieinander. Alle fanden sich in ehemaligen Höhlen, die irgendwann nach einem Vulkanausbruch eingestürzt sind.
 

Die Forscher denken, dass die Frühmenschen einst von Raubtieren erlegt wurden, entweder von grimmigen Säbelzahnkatzen oder riesigen Geparden. Jedenfalls schleppten immer wieder Raubtiere menschliche Kadaver in ihren unterirdischen Unterschlupf. Tierische Knochenfunde zeigen, dass die Gegend damals für Menschen extrem gefährlich war.

Unterwegs mit langen Beinen und kleinem Hirn
 
Trotz solcher Bedrohungen ließen sich die Frühmenschen auf ihrer Reise damals nicht aufhalten. Es ist noch nicht geklärt, warum sie ausgerechnet vor 1,9 Millionen Jahren erstmals zu Migranten wurden. Damals zogen sie von Ostafrika aus in Richtung Norden, durchquerten das heutige Äthiopien, sahen erstmals das Mittelmeer, wanderten über Generationen in Richtung Norden und kamen über Israel, Syrien, den Osten der Türkei vor rund 1,8 Millionen Jahren im Kaukasus an, nicht weit entfernt vom Berg Ararat. In 100.000 Jahren überbrückten die Auswanderer eine Entfernung von circa 4300 Kilometern Luftlinie.
 
 
Steinerne Artefakte, vor allem Faustkeile, sind ihre Spuren, die sie zurückgelassen haben, sodass Forscher heute die Wanderwege rekonstruieren können. Die mitgebrachten, überaus einfachen Steinwerkzeuge aus der sogenannten Oldowan-Kultur Afrikas zeigen, welchen Mut sie besessen haben mussten. "Dmanissi zeigt, dass Hominiden kein großes Gehirn und keine ausgeklügelten Steinwerkzeuge brauchen, um sich von Afrika kommend auszubreiten", sagt Lortkipanidse.
 
Die Dmanissi-Frühmenschen hatten lange Beine, kurze Arme und ein kleines Gehirn, Individuum Nr. 5 hatte ein Gehirnvolumen von nur 546 Kubikzentimetern, weniger als ein Drittel des Gehirns heute lebender Menschen. Das Gesicht wiederum war erstaunlich groß, ebenso die mächtigen Kiefer mit den großen Zähnen. Es sei eine überaus erstaunliche Mischung an Merkmalen, schreiben die Forscher. Weshalb auch die Zuordnung zu einer Menschenart nicht einfach sei. Koautor Christoph Zollikofer, Anthropologe an der Universität Zürich, hat deshalb alle fünf Schädel im 3-D-Scanner exakt vermessen. "Da die Variationsbreite bemerkenswert, aber nicht größer als in modernen Arten ist, schließen wir, dass alle Individuen einer Art angehören", sagt Zollikofer.

Langes Gesicht als Artenmerkmal?
 
Vor allem Schädel Nr. 5, dessen Gesicht komplett erhalten ist, steht im Zentrum der Analyse. Sein Oberkiefer müsste nämlich eigentlich dem Homo habilis zugerechnet werden, die markanten Überaugenwülste aber gehören zum Homo erectus. "Beurteilt man die Dmanissi-Individuen nach klassischen Arterkennungsverfahren, müssten einige Spezimen gleichzeitig zwei Arten repräsentieren", sagt seine Kollegin Marcia Ponce de León. "Das zeigt, dass die Artunterteilung nicht funktioniert, sobald sie auf eine neue Stichprobe wie Dmanissi angewandt wird."
 

Die Forscher argumentieren, dass es auch bei heute lebenden Menschen oder bei Schimpansen eine ähnliche Variationsbreite in den körperlichen Merkmalen gebe wie bei den Dmanissi-Menschen. Frühe Vertreter der Gattung Mensch, die man bisher aufgrund fragmentarischer Funde verschiedenen Arten zugeordnet hatte, seien eigentlich Spielarten ein und derselben Art, des Homo erectus.
 
Nicht alle Anthropologen wollen dieser Interpretation folgen. Ian Tattersall etwa denkt, dass die fünf Dmanissi-Menschen zu mehr als einer Art gehören könnten; vor allem Nr. 5 mit seinem lang gezogenen Gesicht sei eine eigene Art. Der südafrikanische Paläoanthropologe Ron Clarke wiederum rechnet Nr. 5 dem Homo habilis zu.
 
Die Kämpfe um die Deutungshoheit der Menschheitsgeschichte werden also weitergehen. Acht Jahre hat das Team um Dawit Lortkipanidse die fünf Schädel eingehend untersucht. Georgien sei nun von der Karte der modernen Anthropologie nicht mehr wegzudenken, sagt der Paläontologe und verweist mit Stolz auf die 50.000 Quadratmeter Ausgrabungsfläche, in denen die Forscher zahlreiche weitere Funde erwarten, bestens konserviert unter der Vulkanschicht. Vielleicht werden sich also noch weitere Schädel in die beeindruckende Phalanx der fünf Dmanissi-Menschen einreihen.

 
 
aus Die Presse, Wien, 17.10.2013 | 16:15 |  (Die Presse)

Gattungsgeschichte: Schädelfund revolutioniert Anthropologie
Ein Fund in Georgien wirft das Wissen über die Ahnen um: Vor 1,8 Millionen Jahren gab es nicht viele verschiedene Arten, wie man bisher vermutete. Sondern nur eine, die viele Gesichter hatte, so wie wir sie auch haben.

von Jürgen Langenbach 
 
Wenn man in der U-Bahn sitzt und die Mitreisenden betrachtet, dann kann man sich nur über die Vielzahl der Formen des Körpers und auch der Köpfe wundern: schmal, breit, lang, rund, Gesicht und Hirnkasten in den verschiedensten Proportionen. Würden Überreste von zwei oder drei dieser Menschen in zwei Millionen Jahren ausgegraben, und gäbe es nur diese Funde, dann würde wohl jeder einer anderen Art zugerechnet. Exakt das ist das Problem der heutigen Anthropologen: Fossilien unserer Ahnen sind rar, und meist sind es Fragmente, ein Unterkiefer, eine Schädeldecke.
 
So war es etwa 2012, als Meavy Leaky – Mitglied einer Anthropologendynastie, die seit Generationen Ostafrika beackert – etwas aus der Erde zog: zwei Unterkiefer, zwei bis drei Millionen Jahre alt. Und so verschieden, dass Leaky sie zwei verschiedenen Menschen zuordnete, Homo habilis und Homo erectus. Andere Anthropologen zählten aus anderen Funden noch mehr, insgesamt fünf frühe Menschen sollen parallel in Afrika gelebt haben, vier sollen dann wieder verschwunden sein, die Erben des fünften sind wir. Das blieb nicht unwidersprochen, manche in der Fachwelt setzten auf nur einen Menschen, der eben viele Gesichter hatte, der Streit war alt, und er zog sich dahin. Das tat er auch, als sich anno 2000 weit weg von Afrika Außerordentliches fand, in Dmanisi in Georgien: Dort kam ein Unterkiefer aus der Erde, der 1,8 Millionen Jahre alt war und so anders aussah als alles Bekannte, dass David Lordkipanidze (Georgisches Nationalmuseum) das neue Mitglied der Menschheit Homo georgicus nannte. 
Winziges Gehirn, großes Gesicht

Später fanden sich in Dmanisi weitere Fossilien, insgesamt fünf von Schädeln, und es fanden sich weitere Anthropologen, Marcia Ponce de Leon und Christoph Zollikofer vor allem, beide an der Uni Zürich, sie haben in ihrer Zunft schon mit vielen Dogmen aufgeräumt. Nun ist das von den vielen Frühmenschen an der Reihe: Einer der Funde von Dmanisi – „Schädel fünf“ – ist einzigartig, er ist komplett, hat alles, vom Unterkiefer bis zum Hirnkasten. Aber er sieht aus, als ob Verschiedenstes zusammengeleimt worden wäre: Das Gehirn dieses Menschen war extrem klein – 540 Kubikzentimeter, Schimpansen haben 450, wir um die 1200 –, sein Gesicht war groß, auch die Kiefer waren es (Science, 342, S. 326).
 
So etwas hatte man noch nicht gesehen. „Wären Hirn- und Gesichtsschädel als Einzelteile gefunden worden, wären sie mit großer Wahrscheinlichkeit zwei verschiedenen Arten zugeordnet worden“, erklärt Zollikofer der „Presse“. „Dieser Fund bringt eine Art Schädeldämmerung, er leitet einen Perspektivenwechsel ein: Es hat damals keine Vielfalt zwischen Arten gegeben, sonder Vielfalt innerhalb einer einzigen Art, so wie bei uns.“
 
Darauf deuten auch die anderen vier Schädelfunde in Dmanisi – so viele nebeneinander gab es noch an keinem Ort der Erde –, diese Menschen waren nur so voneinander verschieden, wie die Reisenden in der U-Bahn es sind, sie alle waren Homo erectus. (Dazu zählen die Forscher nun auch alle in Afrika gefundenen Fossilien aus dieser Zeit.) Die Unterschiede in ihren Physiognomien hatten sie teilweise von Geburt, teilweise vom späteren Leben. Wie das einen Schädel umformt, zeigte sich auch bei einem der Dmanisianer, er hatte gar keine Zähne mehr, sein Unterkiefer hatte sich stark ausgedünnt. Kauen konnte er nichts, die anderen haben ihn mit Vorgekautem durchgefüttert – das Feuer war noch nicht domestiziert, kochen konnte man nichts –, er muss wichtig gewesen sein, vielleicht ein Schamane. 
Winziges Gehirn, große Leistung

Ein Schamane, vor 1,8 Millionen Jahren? Homo erectus ist unser Urahn: Er erhob sich zum aufrechten Gang, in Afrika, vor 1,8 Millionen Jahren. Kurz darauf war eine Gruppe von ihm in Georgien, sie hatte Technik (Steinwerkzeuge), sie muss auch Sozialtechnik gehabt haben, sie hielt sich mindestens 100.000 Jahre in Dmanisi. Und das bei einem Gehirn, das kaum größer war als das eines Schimpansen. Das ist das nächste Rätsel: Wie konnte ein so kleines Gehirn derartige Leitungen erbringen? Und, umgekehrt: Warum ist das Gehirn, das extrem viel Energie verbraucht, dann doch weiter und weiter gewachsen, erst bei Homo erectus in Afrika und dann bei uns?