«Wir müssten die Gedanken aus den Hirnfasern zerren»
Georg Büchner als Hirnforscher und Anatom.
Von Michael Hagner
Als Dichter sezierte Georg Büchner die menschliche Gesellschaft und Psyche, als Naturforscher nahm er sich das Gehirn vor: Das der Barbe sollte Aufschluss auch über das des Menschen geben.
Im Juni 1836 schrieb Karl Gutzkow
an Georg Büchner, der seine Doktorarbeit über das Nervensystem der Barbe
gerade abgeschlossen hatte und seinen Umzug von Strassburg nach Zürich
vorbereitete: «Seien Sie nicht ungerecht gegen dies Studium [der
Medizin]; denn diesem scheinen Sie mir Ihre hauptsächliche Force zu
verdanken, ich meine, Ihre seltene Unbefangenheit, fast möcht' ich
sagen, Ihre Autopsie, die aus allem spricht, was Sie schreiben.» Die von
Gutzkow diagnostizierte Autopsie bedeutet, die Dinge selbst in
Augenschein zu nehmen und, mehr noch, mit dem anatomischen oder dem
literarischen Skalpell ins Fleisch des Körpers oder der Gesellschaft zu
schneiden, um die unter der Oberfläche verborgenen Ursachen der
Phänomene hervorzukehren. So gesehen war Büchner ein Anatom in doppelter
Hinsicht. Und der einzige anatomische Gegenstand, dem er sich in seinem
kurzen Leben widmen konnte, das Gehirn, steht nicht nur im Zentrum
seiner Dissertation und seiner Zürcher Probevorlesung «Über die
Schädelnerven», sondern taucht auch an einigen wenigen, jedoch
eklatanten Stellen seiner Dramen auf.
Der Hintergrund
Den Zusammenhang von Büchners
anatomischen und literarischen Hirnsektionen zu verstehen, setzt voraus,
sie vor dem Hintergrund der Hirnforschung des frühen 19. Jahrhunderts
zu betrachten, die zwei grundlegend unterschiedliche Zugänge zum
Verständnis des Gehirns erlaubte. Der eine ging von der am höchsten
entwickelten Form aus, also vom menschlichen Gehirn. Repräsentativ dafür
war die damals verbreitete Hirnlehre von Franz Joseph Gall, die eine
erste psychologisch motivierte Lokalisationstheorie darstellte und in
ihren Grundannahmen bis zum heutigen Tag in den Neurowissenschaften
Gültigkeit hat. Sie besagt, dass die verschiedenen kognitiven,
emotionalen und triebhaften Qualitäten des Menschen ihren Sitz und
Ursprung im Gehirn haben. Demzufolge wird das Gehirn im Hinblick auf
diese verschiedenen funktionalen Regionen untersucht. Das wäre, wenn man
so will, ein Top-down-Ansatz.
Beim zweiten Ansatz ging man von
den einfachsten Strukturen des Nervensystems aus und untersuchte, darauf
aufbauend, komplexere Strukturen, bis man dann irgendwann beim
menschlichen Gehirn ankam. Das war der Weg, den romantische
Naturforscher wie Carl Gustav Carus und vor ihm bereits Lorenz Oken
gewählt hatten. Beide stellten für Büchner den Ausgangspunkt seiner
eigenen Forschungen dar. Oken äusserte kurz nach 1800, als er Professor
in Jena wurde, den provozierenden und revolutionären Satz: «Der Mensch
ist ein Wirbelbein.» Damit wollte er programmatisch verdeutlichen, dass
die Entwicklung vom Einfachen hin zum Komplexen stattfindet - und wenn
man dieses verstehen will, muss man bei jenem beginnen. Das wäre der
Bottom-up-Ansatz.
Büchner hat in seinen
Hirnlektionen beide Wege beschritten: In der Anatomie geht er den Weg
von unten nach oben. Er beschränkt sich auf das einfache Gehirn der
Barbe - eines Süsswasserfisches, der auch den Rhein bevölkerte und damit
leicht zu beschaffen war - und hofft, auf diesem Wege vielleicht
irgendwann zum Verständnis des menschlichen Gehirns vorzudringen. In der
Dichtung beschreitet er den umgekehrten Weg von oben nach unten. Damit
ist nicht gemeint, das tierische Gehirn lasse sich vom menschlichen
Gehirn aus erschliessen, doch sobald Büchner von diesem redet, geht es
um Brutalität und Bestialität des menschlichen Geistes, also
Eigenschaften, die in der Logik des 19. Jahrhunderts - auch vor Darwin -
mit einer tierischen Natur assoziiert wurden. Büchner hing dieser Logik
nicht unbedingt an, aber gemeinsam mit dem naturphilosophischen
Entwicklungsgedanken bildete sie den Rahmen für seine Beschäftigung mit
dem Gehirn.
Den Maximalanspruch der
Hirnforschung hat Büchner gleich in seinem ersten Stück, «Dantons Tod»,
thematisiert. In einer so bekannten wie rabiaten Formulierung schlägt er
vor, Gedanken direkt am Ort ihrer Entstehung zu fassen: «Wir müssten
uns die Schädeldecken aufbrechen und die Gedanken einander aus den
Hirnfasern zerren.» Danton, dem Büchner diesen Satz in den Mund legt,
reagiert mit der Forderung auf die Vergeblichkeit der Versuche, einen
anderen Menschen wirklich zu kennen: Das Authentische findet sich nicht
in den Worten und Blicken, Gesten und Taten, sondern nur im Gehirn
selbst; als ob sich die Gedanken in der Hardware befänden und, wenn sie
tatsächlich da wären, auch noch verstehen liessen; als ob die
Hirnfasern, die jenseits von Gut und Böse, Lüge und Wahrheit sind,
Auskunft über Gedankeninhalte geben könnten.
Büchners martialische Hirnanatomie
lässt sich auf drei Ebenen betrachten, nämlich einer vivisektorischen,
einer topografischen und einer utopischen. Die gewalttätige
Schädelöffnung passt zur Schreckensherrschaft der Guillotine während der
Französischen Revolution, aber die Forderung danach war älter. Schon
Mitte des 18. Jahrhunderts hatte Pierre-Louis Moreau de Maupertuis,
Aufklärer, Philosoph und Mathematiker, gefordert, vivisektorische
Experimente am Gehirn von zum Tode verurteilten Kriminellen vorzunehmen.
Dem kamen die Praktiken unter der Guillotine nach 1793 ziemlich nahe,
denn ausgehend von der Frage, ob es sich hierbei um eine humane
Beförderung vom Leben in den Tod handle, führten Ärzte galvanische
Experimente an frisch guillotinierten Köpfen durch, um zu untersuchen,
ob in diesen Köpfen noch Bewusstsein und Schmerzempfinden vorhanden
waren. Damit war die Guillotine vielleicht nicht der «beste Arzt», wie
es in «Dantons Tod» heisst, aber doch Teil eines Experimentalaufbaus,
der sich den Zusammenhang von Gehirn und Geistesleben in vivo vornahm.
«Unsterblichste Experimente»
Büchner kommt auf ein
vergleichbares Szenario im «Woyzeck» noch einmal zurück, wenn er den
Doktor zum Hauptmann sagen lässt, dieser werde in Kürze einen
Schlaganfall erleiden. Für den gnadenlosen Experimentator, der Woyzeck
monatelang mit Erbsen fütterte, eröffnet das die schönsten Aussichten:
«Wenn Gott will, dass Ihre Zunge zum Teil gelähmt ist, so machen wir die
unsterblichsten Experimente.» An Zynismus ist das kaum zu überbieten,
denn so, wie ein guillotinierter Kopf nicht mehr sagen kann, wie es ist,
nur noch Kopf zu sein, kann auch ein durch Schlaganfall an motorischer
Aphasie oder Sprachlähmung leidender Hauptmann nicht mehr berichten,
welche «unsterblichsten Experimente» mit ihm angestellt wurden. Wo im
19. Jahrhundert ist der furchterregende Zusammenhang von Gehirn, Geist
und Vivisektion klarer und präziser formuliert worden als in diesen
wenigen Sätzen aus «Woyzeck» und «Dantons Tod»?
Die zweite Betrachtungsebene gilt
der topografischen Annäherung an den Ort der Gedankenentstehung. Für die
Hirnforschung jener Zeit war es selbstverständlich, Denken, Erleben und
Empfinden an spezifische Vorgänge im Gehirn zu koppeln. Es ist unklar,
wie gut Büchner mit der Hirnlehre Galls vertraut war, aber jedenfalls
teilte er dessen psychologisch motiviertes Anliegen, den Menschen nicht
mehr als göttliches Wesen anzusehen, sondern in seinen alltäglichen
Verhaltensweisen zu verstehen. Die illusionslosen Psychografien des
Dichters und Galls materialistische Hirnpsychologie ergänzen einander
vortrefflich. Wenn Danton die Frage stellt: «Was ist das, was in uns
lügt, hurt, stiehlt und mordet?», dann konnte er sie 1794, also zu dem
Zeitpunkt, da das Drama spielt, so nicht beantworten. Wenige Jahre
später gab Gall folgende Antwort: Es ist die spezifische Konstellation
unserer Hirnorgane.
Natürlich gab es damals auch
andere Antwortmöglichkeiten, aber in den ersten Jahrzehnten des 19.
Jahrhunderts war Galls Antwort die naheliegendste und populärste. Dass
Büchner die Frage zuerst in dem sogenannten Fatalismusbrief an seine
Verlobte richtete - und einer möglichen Antwort sogleich auswich -,
verführt zumindest zu der Annahme, dass er dabei die phrenologische
Lehre und ihre Konsequenzen im Hinterkopf hatte. Man könnte auch
umgekehrt sagen: Ohne Galls Hirnlehre hätte Büchners Frage auf diese
Weise gar nicht formuliert werden können.
«Urgesetz der Schönheit»
Kommen wir schliesslich zur
utopischen Dimension der Forderung, die Verknotung von Gedanke und
Hirnfaser aufzulösen. In dieser Hinsicht übersteigt Büchner den
anthropologischen Anspruch der damaligen Hirnforschung, denn nicht
einmal Gall ging so weit, durch einen Blick ins lebende Gehirn für jeden
Gedanken und jedes Gefühl das genaue zerebrale Korrelat erfassen zu
wollen. Eine Faser, ein Gedanke. Was sich einerseits wie ein
halsbrecherischer Ausblick auf die Neurowissenschaften des frühen 21.
Jahrhunderts verstehen lässt, die mit den Mitteln digitaler Bildgebung
versuchen, die Gedanken durch die Messung zerebraler Aktivitäten zu
decodieren, hat andererseits historische Bezüge, die bis ins späte 18.
Jahrhundert zurückreichen. Zu jener Zeit nämlich nahm der Sensualismus
an, dass es für jeden einzelnen Sinneseindruck eine spezifische
Hirnfaser gebe. Nach diesem Verständnis war das Gehirn ein Konglomerat
aus zahllosen Fasern, die nach und nach mit Sinneseindrücken aufgefüllt
wurden. Diese Theorie wurde von der zunehmend empirisch orientierten
Hirnforschung erst einmal nicht weiterverfolgt, doch genau zu der Zeit,
als Büchner sich literarisch und anatomisch mit dem Gehirn beschäftigte,
hielt die Nervenfaser Einzug in die Hirnforschung.
1836, ein Jahr nach der
Veröffentlichung von «Dantons Tod», publizierte der Breslauer Anatom
Gustav Gabriel Valentin eine bahnbrechende Abhandlung, in der er die
Struktur des Nervensystems auf Zellen und auf Fasern zurückführte. Mit
diesen beiden anatomischen Strukturen glaubte er den Urtypus gefunden zu
haben, der das Nervensystem aller Lebewesen ausmacht. Es spricht nichts
dafür, dass Büchner Valentins Arbeit noch zur Kenntnis nehmen konnte,
aber zweifellos hätte er sie in ihrem naturphilosophischen Anspruch
begrüsst, den Aufbau des Gehirns «als Manifestation eines Urgesetzes,
eines Gesetzes der Schönheit, das nach den einfachsten Rissen und Linien
die höchsten und reinsten Formen hervorbringt», zu verstehen. Diese
Worte könnten von Valentin stammen, sind aber von Büchner, der
fortfährt: «Alles, Form und Stoff ist für sie [die philosophische
Methode] an dieses Gesetz gebunden.»
In der Zürcher Probevorlesung
gewährte der angehende Privatdozent sich einen ästhetischen Blick auf
den Organismus und so auch auf das Gehirn, wenn er von den «schönsten
und reinsten Formen im Menschen» sprach und von der «Vollkommenheit der
edelsten Organe, in denen die Psyche fast den Stoff zu durchbrechen und
sich hinter den leichtesten Schleiern zu bewegen scheint». Natürlich,
das ist auch Rhetorik, werbend um das Publikum, insbesondere um den
berühmten Lorenz Oken, der damals als erster Rektor der Universität
Zürich wohl mit im Auditorium sass. Doch Büchners Worte sind völlig
kompatibel mit seinem Forschungsprogramm, das eben den langen Weg von
den einfachsten hin zu den komplexesten Nervensystemen beschreitet.
Der Kontrast könnte kaum grösser
sein. Wenn Büchner als Anatom sagt: «Es dürfte wohl immer vergeblich
bleiben gerade bey der verwickeltsten Form, nämlich bey dem Menschen
anzufangen», dann fängt er als Dichter genau beim menschlichen Gehirn
an. Wenn in den anatomischen Schriften, im naturphilosophischen Tonfall,
das Gehirn als Insel der Harmonie beschrieben wird, so erscheint es in
den Dichtungen als Schlachtfeld, auf dem sich Brutalität und Bestialität
austoben.
Es wäre zu billig, das mit der
spekulativen Freiheit begründen zu wollen, die sich der Dichter
gegenüber dem Naturforscher erlauben darf. Erstens war auch Büchners
Hirnanatomie nicht frei von Spekulationen, und zweitens bezog sich auch
seine Hirndichtung auf manifeste historische Ereignisse und Ansichten,
in denen das Gehirn seit dem späten 18. Jahrhundert zu einem
wissenschaftlichen, politischen und kulturellen Gegenstand geworden war.
Insofern ist es angemessener, von zwei Perspektiven auszugehen, die die
Oszillation des Gegenstands Gehirn zwischen Erkenntnis und ästhetischer
Betrachtung, Neugier und Obsession sichtbar werden lassen. Büchner hat
als einer der Ersten bemerkt, dass die Beschäftigung mit dem Gehirn
nicht unschuldig sein kann. Von dieser Irritation, die auch heute noch
den Blick auf das Gehirn bestimmt, handeln Büchners Hirnlektionen.
Prof. Dr. Michael Hagner lehrt Wissenschaftsforschung an der ETH Zürich. Er hat mehrere Bücher zur Geschichte der Hirnforschung verfasst. Kürzlich ist der von ihm herausgegebene Sammelband «Wissenschaft und Demokratie» (bei Suhrkamp) erschienen.
LEBEN UND WERK
rbl. · Georg Büchner wird am 17. Oktober 1813 in Goddelau bei Darmstadt geboren. Ab 1821 besucht er die Schulen in Darmstadt. 1831 immatrikuliert er sich an der medizinischen Fakultät in Strassburg. Hier verlobt er sich 1833 mit Wilhelmine Jaeglé, danach Rückkehr nach Darmstadt und Fortsetzung des Studiums in Giessen. Mitte März 1834 schreibt Büchner den Entwurf zum «Hessischen Landboten», dessen Verbreitung im Juli bei einem konspirativen Treffen beschlossen wird. 1200 Exemplare der Flugschrift werden in Offenbach gedruckt. Nach der Verhaftung eines Mitverschworenen warnt Büchner die übrigen Beteiligten und wird seinerseits zu Verhören vorgeladen. Im Januar 1835 beginnt Büchner mit der Reinschrift von «Dantons Tod», im März flieht er nach Strassburg. 1836 arbeitet Büchner zunächst an seiner Dissertation über das Nervensystem der Barbe und danach am Lustspiel «Leonce und Lena» sowie an Entwürfen für «Woyzeck». Im Herbst 1836 reist er nach Zürich, hält hier eine Probevorlesung und wird als Privatdozent an der Universität zugelassen. Am 2. Februar 1837 erkrankt Büchner an Typhus und stirbt am 18. Februar, am Tag nach der Ankunft seiner Verlobten.
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