Der Schweiss der Armen
Vor zweihundert Jahren wurde der Dichter und Revolutionär Georg Büchner geboren (17. Oktober)
Vor zweihundert Jahren wurde der Dichter und Revolutionär Georg Büchner geboren (17. Oktober)
Als Georg Büchner am 19. Februar 1837 23-jährig in Zürich starb, hinterliess er ein schmales, eminentes literarisches Werk. Er gehörte aber auch zu den Stichwortgebern des revolutionären Umbruchs in Hessen. Schuldgefühle wegen der Inhaftierung seiner Gesinnungsfreunde verfolgten ihn bis zuletzt.
von Manfred Koch
«Schwermut und Revolte» heisst ein
brillanter Büchner-Essay des kürzlich verstorbenen Walter Jens aus dem
Jahr 1964. Mit dem Titel «Schwermut oder Revolte» könnte man die gesamte
Büchner-Diskussion der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts
überschreiben. Es tobte, vor allem nach 1968, ein förmlicher
Glaubenskrieg der Interpreten um die Frage, welcher Büchner der wahre
sei: der Melancholiker, der sich kurzfristig in die Politik verirrte,
oder der Frühkommunist, der nach dem Scheitern seines hessischen
Umsturzprojekts in seinen Dramen ungebrochen die Notwendigkeit einer
sozialen Revolution proklamierte? Die Hardliner der beiden Lager
entwarfen konträre Zerrbilder: den «Links-Büchnerianern» war, ohne dass
sie das so recht eingestehen wollten, der «Hessische Landbote» das
Hauptwerk, der Rest - immerhin drei der bedeutendsten Dramen der
deutschen Literatur und eine epochemachende Erzählung - wurde einzig auf
Reflexe der politischen Kampfschrift abgeklopft.
Die «Rechten» neigten dazu, das in
allen Büchnertexten spürbare wütende Aufbegehren gegen die Ausbeutung
und Erniedrigung der Armen im Nebel eines metaphysischen Elends, dem der
Mensch schlechterdings ausgesetzt sei, zu verflüchtigen. Büchners
Botschaft reduzierte sich nach ihnen auf zwei traurige Sätze seiner
Dramenfiguren: «Ich glaube, es gibt Menschen, die unglücklich sind,
unheilbar, bloss weil sie sind» (Lena in «Leonce und Lena»). Und: «Wir
müssen's wohl leiden» (Lucile in «Dantons Tod»).
Dokument der Verzweiflung
Heute sind die Extrempositionen
geräumt, die weltanschaulichen Grabenkämpfe um Büchner gehören der
Vergangenheit an. Man ist sich mehr oder weniger einig, dass gerade die
Widersprüche das Faszinierende Büchners - der Person wie des Werks -
ausmachen. Dann aber stellt sich die Frage, wie genau das Widerspiel von
Schwermut und Revolte zu verstehen ist. Konkret: Wie wurde in etwas
mehr als einem Jahr aus dem 20-jährigen depressiven Medizinstudenten
Georg Büchner (Winter 1833/34) der entschlossene politische Verschwörer
(Sommer/Herbst 1834), der dann, von Verhaftung bedroht, urplötzlich als
genialer Dramenautor hervortrat («Dantons Tod» entstand im
Januar/Februar 1835)?
Im Januar 1834 schrieb Büchner den
berühmten «Fatalismusbrief» an seine Strassburger Verlobte Minna
Jaeglé, ein Dokument der Verzweiflung über sein persönliches Befinden
und den trostlosen Gang der Geschichte. Ein halbes Jahr war er zu diesem
Zeitpunkt wieder in Deutschland, hatte zunächst bei seinen Eltern in
Darmstadt gewohnt und dann in Giessen sein Medizinstudium fortgesetzt,
das er aufgrund einer Hirnhautentzündung sofort wieder unterbrechen
musste. Die Krankheit dürfte auch psychosomatisch bedingt gewesen sein.
Nachdem er nahezu zwei Jahre in Strassburg französische Freiheitsluft
geatmet hatte, war ihm das Klima der hessischen Provinz in jeder
Hinsicht zuwider.
«Hier ist kein Berg, wo die
Aussicht frei sei. Hügel hinter Hügel und breite Täler, eine hohle
Mittelmässigkeit in Allem; ich kann mich nicht an diese Natur gewöhnen
und die Stadt ist abscheulich.» Gemeint ist Giessen, die Kleinstadt, an
deren Universität er als hessisches Landeskind sein Studium abschliessen
musste. Aber auch das nahe gelegene Darmstadt, in dem er aufgewachsen
war, Sitz des Grossherzogs und seiner Administration, kommt in seinen
Texten nicht viel besser weg: Die albernen Zwergkönigreiche «Pipi» und
«Popo» in «Leonce und Lena» sind eine deutliche Verhöhnung von
Darm-Stadt.
Büchner war ein rebellischer
Bürgersohn, sein Herkunftsmilieu - das mit dem Hof und seinem gewaltigen
Beamtenapparat eng verflochtene Besitz- und Bildungsbürgertum der
Residenzstadt - war ihm verhasst. Noch vor dem Mitleid mit den Armen
machte die Aversion gegen diese Gesellschaft ihn zum Aufrührer. Viel ist
in der Büchner-Literatur darüber spekuliert worden, welchen Anteil sein
Vater, der angesehene Medizinalrat Ernst Büchner, am Groll des begabten
Sohnes hatte. Manche Biografen zeichnen ihn in seiner Rigidität und
Strenge geradezu als pädagogisches Monster. Doch so schlimm kann Ernst
Büchner nicht gewesen sein. Immerhin erwirkte er für Georg die
Sondergenehmigung, die das Studium in Frankreich ermöglichte. Er lenkte -
als ehemaliger Militärarzt unter Napoleon - das Interesse des Sohns auf
die Geschichte der Französischen Revolution. Und nicht zuletzt führte
er ihn ein in die Welt der Anatomie und lehrte ihn den physiologischen
Blick, der zu Büchners stärkster literarischer Waffe wurde.
Sprunghafte Entwicklung
Wenn in der Büchner-Biografik mit
leichtem Gruseln an die wunderlichen Experimente des Ernst Büchner
erinnert wird - u. a. fütterte er einen Dackel mit Stecknadeln, um zu
überprüfen, ob Menschen durch Nadelschlucken Selbstmord begehen können
-, sollte stets bedacht werden, wie Georg Büchner die brutale Direktheit
der Sprache, in der sein Vater solche Versuche wiedergab, später
kreativ umsetzte. Auch hier bleibt ein Widerspruch. Offen gegen den
Vater rebelliert hat Büchner nie. Zuletzt, im Strassburger und Zürcher
Exil, hat er sich sogar in einem Mass, das die väterlichen Ansprüche
fast überstieg, für eine naturwissenschaftliche Universitätskarriere ins
Zeug gelegt (von einem «subtilen Selbstmord» durch Überarbeitung sprach
nach Büchners Tod sein Freund Wilhelm Schulz). Aber zwei von Büchners
Helden, Lenz und Leonce, sind Flüchtlinge vor Vätern, die tüchtige
Berufsmenschen aus ihnen machen wollen. Auf den ironischen Vorschlag
seines Gefährten Valerio, «nützliche Glieder der menschlichen
Gesellschaft» zu werden, antwortet Leonce: «Lieber möchte ich meine
Demission als Mensch geben.»
Die Rückkehr ins Vaterland Hessen
empfand Büchner fast wie eine Inhaftierung. Die Folge war eine
Depression, die sich auch zu Zweifeln an den politischen
Befreiungsprojekten, die er in Frankreich kennengelernt hatte, auswuchs.
Umso erstaunlicher die rasche Wandlung zum politischen Aktivisten! Im
März 1834 gründet Büchner die Giessener «Gesellschaft der
Menschenrechte»; vermutlich parallel dazu entsteht die erste Fassung des
«Hessischen Landboten».
Es bietet sich an, diese
sprunghafte Entwicklung als «manisch-depressives Verhalten» zu deuten.
Damit ist aber nicht erklärt, was Büchner eigentlich aus seiner Krise
befreite. Es war, vereinfacht gesagt, die Sprache. Büchner war schon als
Gymnasiast ein talentierter und gut ausgebildeter Rhetor. Auf seine
Giessener Mitverschwörer machte er, glaubt man ihren Zeugnissen, den
überwältigenden Eindruck eines charismatischen Redners. Diese
rhetorische Sprachgewalt prägt auch den «Hessischen Landboten». Mit dem
politischen Engagement entdeckte Büchner die (auch ihn selbst
begeisternde) Wirkungsmacht seiner Sprache. Jenseits der konventionellen
rhetorischen Techniken, die bereits der Schüler beherrschte, zeigt die
Flugschrift schon jene sprachliche Konzentration auf den Körper, die für
das spätere Werk charakteristisch ist.
Bekanntlich hat der «Hessische
Landbote» zwei Verfasser. Die nicht erhaltene erste Niederschrift
Büchners wurde von Ludwig Weidig, dem tapferen Pfarrer und
Hauptorganisator des hessischen Widerstands, überarbeitet und in ihrer
sozialrevolutionären Ausrichtung entschärft. Eindeutig zuordnen lassen
sich die Textanteile nicht mehr. Es spricht aber vieles dafür, dass der
zunehmend im Predigerton gehaltene zweite Teil («Sehet an!»; «Wehe über
euch!») von Weidig stammt, der erste von Büchner. Denn hier wird mit
drastischen Körperbildern agitiert, die auf einen Autor schliessen
lassen, der mit dem Skalpell arbeitete. Die geläufige Rede von den
fürstlichen «Blutsaugern» erweitert der Text auf das ganze Spektrum der
Körperflüssigkeiten. Der Schweiss der Armen, heisst es eingangs, sei
«das Salz auf dem Tische des Vornehmen» (es ist der Schweiss derer, von
denen in der Bergpredigt gesagt wird, sie seien «das Salz der Erde»).
Eine «Legion unnützer Beamten» mäste sich an ihrem Schweiss, die schönen
Kleider der Reichen seien «gefärbt in ihrem Schweiss», die fürstlichen
Lampen «illuminiert mit dem Fett der Bauern».
Die Körpermetaphorik soll das
abstrakte Unrecht - die ungleiche Besteuerung der Untertanen - als
physische Verletzung, als Tortur spürbar machen. Der Höhepunkt ist
erreicht, wo Büchner die Metapher vom «geschundenen Volk» mit einem
Jean-Paul-Zitat wörtlich nimmt - als Hautabziehen: «Das Volk ist ihre
Herde, sie sind seine Hirten, Melker und Schinder; sie haben die Häute
der Bauern an [. . .], die Tränen der Witwen und Waisen sind das
Schmalz auf ihren Gesichtern.» Immer geht es um den Einschnitt in die
Haut und die Entwendung der intimsten Körperflüssigkeiten: Blut, Fett,
Tränen, Schweiss.
Ein Dreivierteljahr später, in
«Dantons Tod», taucht dieses Schinden wieder auf, diesmal in umgekehrter
Richtung. Nun ist es ein namenloser Pariser Revolutionär, der sich mehr
als blutig an den Aristokraten rächen will: «Wir wollen ihnen die Haut
von den Schenkeln ziehen und uns Hosen daraus machen, wir wollen ihnen
das Fett auslassen und unsre Suppen mit schmelzen. Fort! Totgeschlagen,
wer kein Loch im Rock hat!» Die Agitationssprache des «Landboten»
erscheint in «Dantons Tod» als Moment einer fatalen Radikalisierung der
Französischen Revolution, die am Ende, im Hochleistungsbetrieb der
Guillotine, Aristokraten und Revolutionären gleichermassen das Leben
kostet. Dass Büchner sich auf diese Weise selbst zitiert, die
Tödlichkeit seiner eigenen Rhetorik andeutet, verweist auf einen tiefen
Zwiespalt, der dem Drama zugrunde liegt.
Schuldkomplex
Hermann Kurzke hat in seiner
grossen Büchner-Biografie, der wichtigsten Neuerscheinung zum Gedenkjahr
2013, nachdrücklich daran erinnert, dass «Dantons Tod» um einen
Schuldkomplex kreist. Büchner schrieb das Stück unmittelbar vor seiner
Flucht nach Frankreich, von Verhaftung bedroht, in panischem Entsetzen
angesichts der Nachrichten über befreundete Mitverschwörer, die in den
herzoglichen Gefängnissen furchtbare Qualen litten. Nicht dass er seinem
politischen Engagement, dem hessischen Freiheitsversuch, nun
grundsätzlich die Legitimität abgesprochen hätte. Die Verhältnisse waren
unerträglich, die Empörung dagegen berechtigt, und wie anders als
gewaltsam konnte denn eine Veränderung herbeigeführt werden? Aber hatte
er nicht doch ein praktisch aussichtsloses Unternehmen initiiert und
vorangetrieben, hatte er nicht - selbst mitgerissen von seinen
rhetorischen Fähigkeiten - die Freunde zu Aktionen begeistert, für die
sie nun grausam gestraft wurden?
Im Stück ist es laut
Personenverzeichnis «Georg Danton» (nicht Georges), den seine
Verantwortung für die Septembermorde nicht zur Ruhe kommen lässt. Georg
Büchner kam nach dem Zeugnis seines Bruders Ludwig immer wieder auf
seine «Mitschuld» am «grässlichen Unglück» der inhaftierten Freunde zu
sprechen. Noch auf dem Sterbebett in der Zürcher Spiegelgasse galt sein
letztes Aufbäumen - das berichtet Wilhelm Schulz, der ihn pflegte - den
«politischen Schlachtopfern», die in den Gefängnissen in den Wahnsinn
getrieben oder zu Tode gequält würden. Büchner war entkommen. Danton
hingegen geht mit seinen politischen Weggefährten ins Gefängnis und
gemeinsam mit ihnen auch in den Tod. Seine letzten Worte, gerichtet an
den Henker, der sie unters Fallbeil legt, lauten: «Kannst du verhindern,
dass unsere Köpfe sich auf dem Boden des Korbes küssen?» «Dantons Tod»
ist ein Revolutionsdrama, gewiss, im Kern aber wohl eher ein
Gefangenendrama, eine Selbstbestrafungs- und Versöhnungsphantasie
zugleich.
Vergegenwärtigung des Leids
Dantons Gegenspieler Robespierre
und St. Just sind Doktrinäre, die unbeirrbar ihren Weg gehen, überzeugt
vom geschichtlichen Ziel, das die Menschenopfer rechtfertigt.
Robespierre immerhin lässt sich im Gespräch mit Danton für einen
Augenblick erschüttern; er ahnt die niedrigen, selbstsüchtigen Wurzeln
seiner «Tugend». Doch das Töten geht weiter, angetrieben vom Rhetor St.
Just, der Worte wie Guillotinenmesser einzusetzen weiss. Solche
Figuren, die mit sich im Reinen sind, hohe Ideale predigen und zugleich
die hilflosen Hungerleider für ihre Zwecke instrumentalisieren,
verfallen in Büchners Werk der bösesten Kritik, gleichgültig ob sie
fanatische Jakobiner oder saturierte, selbstgefällige Bürger sind (wie
der Doktor im «Woyzeck»).
Von Utopien mit umfassendem
Erlösungsanspruch hielt Büchner nichts, allgemeine Aufrufe zum
Widerstand finden sich in seinem literarischen Werk keine mehr. Umso
eindringlicher wird dafür seine Vergegenwärtigung des konkreten Leids
der Armen und Kranken, das mehr und mehr nur noch als sprachloser
Körperausdruck erscheint, als Stammeln, Zucken, Schrei. Kunst machen,
schreibt Kurzke, wollte Büchner nicht, vielmehr den Schmerz mitteilen,
ohne ihn zu stilisieren, ihn in schöne oder pathetische Worte zu
kleiden. Unsentimental sollte sein Schreiben sein, in der Wirkung nicht
ergreifend, sondern einschneidend. Weil ihm dies gelang, geht von
Büchners Werk noch auf heutige Leser ein heftiger Impuls zur
Solidarisierung aus, ein Appell zu «retten, retten», wie ihn der
geschundene Dichter Lenz verzweifelt herausschreit.
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