Kopflose und Däumlinge
Michel Serres hofft, dass die digitale Revolution tatsächlich eine Befreiung gewesen sein wird
Michel Serres hofft, dass die digitale Revolution tatsächlich eine Befreiung gewesen sein wird
Uwe Justus Wenzel ·
Die Bilder scheinen Michel Serres zuzufliegen. Der französische
Philosoph und Wissenschaftshistoriker sieht, wenn er Zeitgenossen vor
aufgeklapptem Notebook sitzen sieht, den ersten Bischof von Paris,
Dionysius, wie er seinen Kopf in Händen hält, um den ihn - laut «Legenda
aurea» - Soldaten des römischen Imperiums kürzer gemacht haben. Serres
erblickt mithin ein Wunder - es ist das Wunder einer Externalisierung:
«Unser intelligenter Kopf ist aus unserem knochenbewehrten, neuronalen
Kopf herausgetreten. Die Kognitionsbüchse in unseren Händen enthält und
hält in der Tat am Laufen, was wir einst unsere 'Vermögen'
nannten.»
Intuition, Erfindungsgabe
Der Vergleich wirkt zunächst ein
wenig an den Haaren des Dionysius herbeigezogen, zumal nicht ersichtlich
ist, welches Martyrium die Kopflosen von heute erleiden, für welchen
Glauben sie sterben. Doch Michel Serres will in einem hier anzuzeigenden
neuen Essay, einer tastenden Zeitdiagnose, auf etwas anderes hinaus. Er
möchte wissen, für was der Kopf des Spätmenschen frei wird, wenn er -
dank jederzeit und allerorten zugänglichen elektronischen Archiven -
nicht mehr mit dem Erwerb und der Verwaltung von Wissen befasst sein
muss.
Von dem enthaupteten Dionysius,
wie «der schwülstige Bonnat» ihn auf den Wänden des Pariser Pantheon
verewigt hat, lässt Serres sich inspirieren: Dort, wo ehedem der Kopf
sass, ist ein Leuchten und Funkeln wahrnehmbar. Die «erfinderische
Intelligenz», die «lebendige Intuition» sieht der Autor, der wie stets
mit allen Sinnen zu denken versucht, darin erstrahlen. Freilich,
zugleich ist es ein «Stumpf aus Abwesenheit», auf den das Auge trifft.
Die Abwesenheit regt Serres zu einer versponnenen Meditation an, die die
Einkehr in eine «Leere» imaginiert, durch die das «Subjekt des Denkens»
sich verwandelt und in ein «Stimmengewirr» eintaucht, in dem es
offenbar mit seinesgleichen Austausch pflegt. Die Meditation legt Serres
seiner Protagonistin in den Mund, oder er lässt sie ihr durch den - wo
auch immer befindlichen - Kopf gehen. Eine Protagonistin nämlich gibt es
in dem kurzen, aber abschweifungsreichen Essay. Es handelt sich um die
im französischen Original titelgebende «petite poucette», das
Däumelinchen (oder den kleinen Däumling).
So nennt der Dreiundachtzigjährige
- der verrät, er wäre gerne achtzehn - die Repräsentantin der «digital
natives», die mit flinken Daumen sich in anderen Welten und Sprachen
bewegen als die Jungen von ehedem, die Alten von heute. Die «vernetzte
Generation» ist auch die Adressatin der ins Pamphlethafte geblähten
Ermunterung, die die deutsche Ausgabe als Titel ziert: «Erfindet euch
neu!» Man darf darin wohl eine Echo von Stéphane Hessels «Empört euch!»
hören, ein Echo allerdings, in dem die Empörung kaum noch vibriert.
Nur dort, wo Serres die Däumlinge
sich dagegen verwahren lässt, dass man sich über ihre sozialen Netzwerke
und den lässigen Gebrauch des Wortes «Freund» lustig mache, ist etwas
von Auflehnung spürbar: «Habt Ihr es je vermocht, Euch in Gruppen
zusammenzufinden, die von so beträchtlichem Umfang sind, dass die Zahl
ihrer Mitglieder sich derjenigen der Menschen nähert? Und ist es nicht
klug, sich den anderen zunächst virtuell zu nähern, um sie nicht zu
verletzen? (. . .) Unsere Gemeinschaften sollen nicht vom Blut
zusammengehalten werden.» Michel Serres erhofft sich mithin nicht wenig
von den Enkeln und Urenkeln, auch wenn sie, wie eine melancholische
Eröffnungspassage skizziert, der Natur und der Herkunftsgeschichte
entfremdet sein mögen. Das virtuelle «Konnektiv», das das - blutige -
Kollektiv ersetzen soll, erschöpft sich in Serres' Perspektive nicht in
einem zarten Gemeinschaftsgefühl. Der Philosoph setzt auf eine im
Entstehen begriffene «Demokratie des Wissens», in der nicht nur eine
neue Balance zwischen privatem und öffentlichem Selbst gefunden wird,
sondern auch neue Denkformen erblühen. Es sind jene Formen, denen er
schon den Vorzug gab, als von der digitalen Welt der Däumlinge sich noch
überhaupt nichts abzeichnete.
Blasser «Vorschein»
Serres, der auch Mathematiker und
an Shannon geschulter Informationstheoretiker ist, verspricht sich vom
«algorithmischen Denken», mit dem er andeutungsweise das
Geschichtenerzählen als intellektuellen Habitus verknüpft, eine
Zurückdrängung voreiliger begrifflicher Abstraktionen. Die Kasuistik in
Jurisprudenz und Medizin nimmt er als Vorläuferin einer Überbrückung von
Allgemeinem und Besonderem in Anspruch.
Doch der «Vorschein der Zukunft»
bleibt, trotz allen Bildern, die Serres noch ins Spiel bringt, fahl.
Liegt es daran, dass auch im Computerzeitalter (wie er in einem Exkurs
vermutet) noch immer «die Seite» herrscht: das jahrtausendealte
Seitenformat, das unser Wahrnehmen, Denken und Entwerfen einengt? Und
wenn die Seite aus unserem Vorstellungsraum verschwände - wäre dies das
eigentliche Wunder? Würden wir dann kopflos?
Michel Serres: Erfindet euch neu! Eine Liebeserklärung an die vernetzte Generation. Aus dem Französischen von Stefan Lorenzer. Edition Suhrkamp, Berlin 2013. 77 S., Fr. 12.90.
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