Mittwoch, 16. Oktober 2013

Was wird aus den Köpfen, wenn sie zum Datenspeichern nicht mehr gebraucht werden?

aus NZZ, 16. 10. 2013


Kopflose und Däumlinge
Michel Serres hofft, dass die digitale Revolution tatsächlich eine Befreiung gewesen sein wird

Uwe Justus Wenzel · Die Bilder scheinen Michel Serres zuzufliegen. Der französische Philosoph und Wissenschaftshistoriker sieht, wenn er Zeitgenossen vor aufgeklapptem Notebook sitzen sieht, den ersten Bischof von Paris, Dionysius, wie er seinen Kopf in Händen hält, um den ihn - laut «Legenda aurea» - Soldaten des römischen Imperiums kürzer gemacht haben. Serres erblickt mithin ein Wunder - es ist das Wunder einer Externalisierung: «Unser intelligenter Kopf ist aus unserem knochenbewehrten, neuronalen Kopf herausgetreten. Die Kognitionsbüchse in unseren Händen enthält und hält in der Tat am Laufen, was wir einst unsere 'Vermögen' nannten.»

Intuition, Erfindungsgabe

Der Vergleich wirkt zunächst ein wenig an den Haaren des Dionysius herbeigezogen, zumal nicht ersichtlich ist, welches Martyrium die Kopflosen von heute erleiden, für welchen Glauben sie sterben. Doch Michel Serres will in einem hier anzuzeigenden neuen Essay, einer tastenden Zeitdiagnose, auf etwas anderes hinaus. Er möchte wissen, für was der Kopf des Spätmenschen frei wird, wenn er - dank jederzeit und allerorten zugänglichen elektronischen Archiven - nicht mehr mit dem Erwerb und der Verwaltung von Wissen befasst sein muss.


Von dem enthaupteten Dionysius, wie «der schwülstige Bonnat» ihn auf den Wänden des Pariser Pantheon verewigt hat, lässt Serres sich inspirieren: Dort, wo ehedem der Kopf sass, ist ein Leuchten und Funkeln wahrnehmbar. Die «erfinderische Intelligenz», die «lebendige Intuition» sieht der Autor, der wie stets mit allen Sinnen zu denken versucht, darin erstrahlen. Freilich, zugleich ist es ein «Stumpf aus Abwesenheit», auf den das Auge trifft. Die Abwesenheit regt Serres zu einer versponnenen Meditation an, die die Einkehr in eine «Leere» imaginiert, durch die das «Subjekt des Denkens» sich verwandelt und in ein «Stimmengewirr» eintaucht, in dem es offenbar mit seinesgleichen Austausch pflegt. Die Meditation legt Serres seiner Protagonistin in den Mund, oder er lässt sie ihr durch den - wo auch immer befindlichen - Kopf gehen. Eine Protagonistin nämlich gibt es in dem kurzen, aber abschweifungsreichen Essay. Es handelt sich um die im französischen Original titelgebende «petite poucette», das Däumelinchen (oder den kleinen Däumling).

So nennt der Dreiundachtzigjährige - der verrät, er wäre gerne achtzehn - die Repräsentantin der «digital natives», die mit flinken Daumen sich in anderen Welten und Sprachen bewegen als die Jungen von ehedem, die Alten von heute. Die «vernetzte Generation» ist auch die Adressatin der ins Pamphlethafte geblähten Ermunterung, die die deutsche Ausgabe als Titel ziert: «Erfindet euch neu!» Man darf darin wohl eine Echo von Stéphane Hessels «Empört euch!» hören, ein Echo allerdings, in dem die Empörung kaum noch vibriert.

Nur dort, wo Serres die Däumlinge sich dagegen verwahren lässt, dass man sich über ihre sozialen Netzwerke und den lässigen Gebrauch des Wortes «Freund» lustig mache, ist etwas von Auflehnung spürbar: «Habt Ihr es je vermocht, Euch in Gruppen zusammenzufinden, die von so beträchtlichem Umfang sind, dass die Zahl ihrer Mitglieder sich derjenigen der Menschen nähert? Und ist es nicht klug, sich den anderen zunächst virtuell zu nähern, um sie nicht zu verletzen? (. . .) Unsere Gemeinschaften sollen nicht vom Blut zusammengehalten werden.» Michel Serres erhofft sich mithin nicht wenig von den Enkeln und Urenkeln, auch wenn sie, wie eine melancholische Eröffnungspassage skizziert, der Natur und der Herkunftsgeschichte entfremdet sein mögen. Das virtuelle «Konnektiv», das das - blutige - Kollektiv ersetzen soll, erschöpft sich in Serres' Perspektive nicht in einem zarten Gemeinschaftsgefühl. Der Philosoph setzt auf eine im Entstehen begriffene «Demokratie des Wissens», in der nicht nur eine neue Balance zwischen privatem und öffentlichem Selbst gefunden wird, sondern auch neue Denkformen erblühen. Es sind jene Formen, denen er schon den Vorzug gab, als von der digitalen Welt der Däumlinge sich noch überhaupt nichts abzeichnete.

Blasser «Vorschein»

Serres, der auch Mathematiker und an Shannon geschulter Informationstheoretiker ist, verspricht sich vom «algorithmischen Denken», mit dem er andeutungsweise das Geschichtenerzählen als intellektuellen Habitus verknüpft, eine Zurückdrängung voreiliger begrifflicher Abstraktionen. Die Kasuistik in Jurisprudenz und Medizin nimmt er als Vorläuferin einer Überbrückung von Allgemeinem und Besonderem in Anspruch.

Doch der «Vorschein der Zukunft» bleibt, trotz allen Bildern, die Serres noch ins Spiel bringt, fahl. Liegt es daran, dass auch im Computerzeitalter (wie er in einem Exkurs vermutet) noch immer «die Seite» herrscht: das jahrtausendealte Seitenformat, das unser Wahrnehmen, Denken und Entwerfen einengt? Und wenn die Seite aus unserem Vorstellungsraum verschwände - wäre dies das eigentliche Wunder? Würden wir dann kopflos?

Michel Serres: Erfindet euch neu! Eine Liebeserklärung an die vernetzte Generation. Aus dem Französischen von Stefan Lorenzer. Edition Suhrkamp, Berlin 2013. 77 S., Fr. 12.90.

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