aus scinexx
Gehirnwäsche im Schlaf
Nachts schwemmt das Gehirn molekularen Abfall aus
Im Schlaf regeneriert sich nicht nur unser Körper, auch das Gehirn
benötigt diese Ruhepause. Wozu, ist bisher allerdings nur in Teilen
geklärt. US-Forscher haben nun eine neue Antwort auf die alte Frage
gefunden: Unser Denkorgan nutzt den Schlaf zur Müllentsorgung. Es
schwemmt während der Nacht molekulare Abfallstoffe aus. Möglicherweise
ist es daher sogar das Bedürfnis nach Entsorgung, das unsere Müdigkeit
und unser Schlafbedürfnis auslöst, mutmaßen die Wissenschaftler im
Fachmagazin "Science".
Ob
Maus oder Mensch, Wal oder Giraffe: Nahezu jedes Tier schläft in
irgendeiner Form – und stirbt, wenn ihm die Nachtruhe lang genug
verwehrt wird. Bei unserer Spezies gelten chronische Schlafstörungen als
Risikofaktor für allerlei Krankheiten, von Epilepsie über Alzheimer bis
hin zum Schlaganfall. Schon eine schlaflose Nacht reicht, um uns das
Hirn zu vernebeln: Wer müde ist, ist weniger aufmerksam und trifft
schlechtere Entscheidungen. Doch warum ist Schlaf so wichtig für uns?
Bekannt ist bereits, dass unser Hirn die Nachtruhe benötigt, um neue
Erinnerungen zu konsolidieren. Was aber unsere grauen Zellen sonst so
treiben, wenn uns die Augen zufallen, war bisher unbekannt.
Entweder aufpassen oder aufräumen
Forscher um Lulu Xie von der University of Rochester haben nun bei
Mäusen einen weiteren Mechanismus entdeckt, der Schlaf unabkömmlich
macht: Nachts werden schädliche Stoffwechselprodukte im Gehirn
weggeschafft. „Das Hirn hat nur eine begrenzte Menge an Energie zur
Verfügung, und es scheint, als müsse es sich zwischen zwei funktionellen
Zuständen entscheiden – entweder ist es wach und passt auf, oder es
schläft und räumt auf“, sagt Koautorin Maiken Nedergaard. „Man kann es
sich so vorstellen, als würde man eine Party bei sich zu Hause
schmeißen. Entweder man unterhält die Gäste oder man räumt auf, aber man
kann kaum beides zur gleichen Zeit machen.“
Die Müllabfuhr im Gehirn bedient sich eines Systems, das die Forscher
bereits im vergangenen Jahr aufgespürt hatten. Das glymphatische System
ist ein Netzwerk aus winzigen Kanälen, die Hirnwasser transportieren.
Kontrolliert wird dieses Netzwerk nicht von Nerven-, sondern von
Gliazellen, den Stütz- und Hüllzellen des Gehirns. Ähnlich wie das
Lymphsystem im Rest unseres Körpers ist es für den Abtransport von
Abfällen zuständig. Der gesammelte Unrat wandert aus dem Hirnwasser
zurück in den Blutkreislauf und wird fortgewaschen.
Abflusskanäle erweitern sich im Schlaf
Um die Aktivität des glymphatischen Systems im schlafenden und wachen
Hirn vergleichen zu können, brachten die Wissenschaftler Mäusen bei,
unter einem speziellen Mikroskop einzuschlafen. Waren die Nager
eingedöst, injizierten die Forscher grünen Farbstoff ins Hirnwasser und
beobachteten, wie er sich verteilte. Nachdem sie die Mäuse wieder
aufgeweckt hatten, injizierten sie rote Farbe und beobachteten wiederum,
was mit ihr geschah.
Sie stellten fest, dass der Fluss des Hirnwassers im Schlaf und unter
Narkose tief ins Gewebe hineinreichte. Bei wachen Mäusen reduzierte er
sich um 95 Prozent und blieb auf die Oberfläche des Gehirns beschränkt.
Auch extra markierte β-Amyloide wurden im Schlaf doppelt so schnell
weggeschafft wie im Wachzustand. Diese Proteine sind Bestandteil der
krankhaften Ablagerungen im Hirn von Alzheimer-Patienten.
Der effizientere Abtransport von molekularem Müll ging mit erstaunlichen
Veränderungen der Gewebestruktur einher. Bei wachen Mäusen machte der
Zellzwischenraum lediglich 14 Prozent des Hirnvolumens aus, bei
schlafenden Tieren waren es hingegen 23 Prozent. Die Forscher vermuten,
dass der Neurotransmitter Noradrenalin eine wichtige Rolle bei der
Ausdehnung und Kontraktion der Zellen spielt. Das Hormon wird verstärkt
ausgeschüttet, wenn wir wachsam sein müssen – etwa in
Gefahrensituationen. Im Schlaf sinkt seine Konzentration im Gehirn.
Bestimmt die Müllabfuhr unser Schlafbedürfnis?
Die Forschungsergebnisse werfen eine Reihe weiterer Fragen auf – etwa
die, ob die Ansammlung von Müll im Hirn auch unser Schlafbedürfnis
beeinflusst. Denkbar wäre, dass uns die Müdigkeit überfällt, sobald die
Unordnung zu groß wird. Möglicherweise drängt uns das Hirn zu einem
Nickerchen, damit es mit dem Reinemachen beginnen kann. Die zweite Frage
ist, ob und zu welchem Ausmaß das Phänomen der nächtlichen Hirnwäsche
bei anderen Arten auftritt.
Suzana Herculano-Houzel von der Universidade Federal do Rio de Janeiro
schlägt in einem begleitenden Kommentar vor, der Mechanismus könne eine
Erklärung für das unterschiedliche Schlafbedürfnis verschiedener Tiere
liefern. Denn während Fledermäuse 20 Stunden am Tag ratzen, kommen
Giraffen und Elefanten mit drei bis vier Stunden aus. Haben sie dank
ihrer großen Hirne einfach größere Zellzwischenräume voller Hirnwasser,
die Schadstoffe zwischenspeichern können? Ein Rätsel, das nicht einfach
zu lösen sein wird, wie Herculano-Houzel weiß: „Wenn
Neurowissenschaftler lebende Tiere mit großem Hirn doch nur so einfach
ins Labor holen könnten.“ (Science, 2013; doi: 10.1126/science.1241224)
(Science, 21.10.2013 - NSC)
aus diePresse.com, 17.10.2013 | 16:17 |
Wozu Schlaf? Zum Entsorgen des Hirnmülls!
Eines der größten
Rätsel des Lebens ist gelöst: das, warum alle schlafen, obwohl das
gefährlich ist. Es muss sein. Das Gehirn entsorgt dann seine Abfälle,
die oft so giftig sind, dass sie Leiden wie Alzheimer auslösen.
Schlafen ist, zumindest in der freien Natur, eine riskante Sache – viele
Raubtiere nützen das Dunkel –, und doch schlafen alle, von der
kleinsten Mücke bis zum größten Elefanten, sie tun es nur
unterschiedlich lang. Fledermäuse verschlafen 20 Stunden des Tages,
Elefanten kommen mit vier Stunden aus. Und wir? Ein Drittel unseres
Lebens verbringen wir in diesem eigenartigen Zustand, in dem in Wahrheit
fast nichts schläft, das Herz pumpt, gottlob, das Gehirn ist auch
aktiv, nur die Sinnesorgane sind eingelullt, und die Skelettmuskeln
stellen ihre Aktivität weithin ein, sonst würden wir im Schlaf
herumspringen und uns und andere verletzen.
Wozu tun wir und all die
anderen das, wo doch Gefahr droht (für uns: über die längste Zeit der
Gattungsgeschichte drohte)? Man weiß es nicht, es gibt bzw. gab nur
Hypothesen, etwa die, dass das Gehirn im Schlaf Müll entsorgt, giftige
Stoffwechselprodukte der Tagesarbeit; oder die, dass das Gehirn im
Schlaf den Tag durchgeht, unwichtige Erinnerungen ausscheidet, wichtige
verfestigt: lernt. Das ist auch so, wie man in den vergangenen Jahren
gezeigt hat, aber es wiegt das Risiko der minimierten Wahrnehmung der
Umwelt nicht auf. Wozu also? Bisher kannte man nur eine höchst
unzureichende Antwort ex negativo: Wenn man Ratten den Schlaf entzieht,
sind sie nach spätestens 14 Tagen tot, Hunger halten sie länger aus; und
wenn man Menschen den Schlaf entzieht, brechen sie bzw. ihre
Willenskräfte in kürzester Zeit zusammen – das machten und machen sich
die Folterer aller Zeiten zunutze.
Zellen machen Platz für Kanalisation
Aber
was sorgt im Gehirn dafür, dass Schlaflosigkeit noch viel riskanter ist
als Schlaf? Die (dann fehlende) Müllabfuhr, diese Hypothese hat sich
nun bestätigt. Und zwar eine Müllabfuhr, die Maiken Nedergaard
(Rochester) erst im Vorjahr entdeckt hat. Zuvor war völlig unklar, wie
das Gehirn entsorgt, was es nicht mehr braucht und was ihm gefährlich
werden kann. Im restlichen Körper ist dafür das Lymphsystem zuständig,
aber das endet an der dichten Grenze des Gehirns, der
Blut/Hirn-Schranke. Zwar fließt auch im Gehirn etwas –
Zerebrospinalflüssigkeit vulgo Nervenwasser –, und es spült auch Abfall
aus, aber viel zu langsam und viel zu wenig. Doch das Gehirn hat ein
zweites Entsorgungssystem, es wird von Gliazellen gebildet und erhielt
deshalb – in Anlehnung an die Lymphe – den Namen glymphatisches System.
Er stammt von Nedergaard, sie konnte das Phänomen nur entdecken, weil
man es nur am lebenden Gehirn sieht und erst neueste Mikroskoptechnik
diesen Blick ermöglicht.
Nun kommt die Forscherin mit der nächsten
Überraschung, sie hat – wieder an Mäusen, wie im Vorjahr – bemerkt, dass
das glymphatische System im Schlaf aktiver ist, um die zehnmal so aktiv
wie im Wachzustand: 95 Prozent des Gehirnmülls werden dann entsorgt.
Möglich wird das dadurch, dass im Schlaf die Gehirnzellen schrumpfen,
und wie: um 60 Prozent, das schafft Raum für die Abwasserkanäle
(Science, 342, S. 372). Durch die werden dann etwa toxische Proteine
entsorgt, die hinter vielen Krankheiten des Gehirns stehen, etwa hinter
Alzheimer: „Unsere Befunde haben signifikante Implikationen für die
Behandlung von Krankheiten des ,verschmutzten Gehirns‘“, schließt
Nedergaard.
Vielleicht haben sie auch Bedeutung weit darüber hinaus:
Dass wir ein Drittel unseres Lebens verschlafen, ist schon lange nicht
mehr wahr, die Schlafdauer hat sich in den vergangenen Jahren verkürzt,
parallel dazu haben nicht nur die Alterskrankheiten des Gehirns
zugenommen, es kam auch zur von der Weltgesundheitsorganisation WHO so
genannten „Epidemie der Verfettung“, auch andere Leiden werden mit dem
mangelnden Schlaf bzw. der Lichtverschmutzung in Verbindung
gebracht. (jl)
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