Dank leistungsfähiger Algorithmen können heutzutage die komplexesten chemischen Reaktionen simuliert und die kompliziertesten Biomoleküle am Bildschirm modelliert werden. (aus FAZ)
aus scinexxChemie-Nobelpreis für Computermodellierer
Preis für Computersimulationen von chemischen Molekülen und ihren Reaktionen
Den Chemie-Nobelpreis erhalten drei Forscher, die die Grundlage legten für etwas, das uns heute selbstverständlich erscheint: Dreidimensionale Computersimulationen von chemischen Molekülen und ihren Reaktionen. Martin Karplus, Michael Levitt und Arieh Warshel entwickelten in den 1970er Jahren erstmals einen Weg, um die komplexen Vorgänge an der Grenze zwischen klassischer Chemie und Quantenphysik per Computer zu modellieren.
Moderne Chemie findet heute längst nicht mehr nur im Reagenzglas statt. Vieles geschieht inzwischen am Rechner. Denn chemische Reaktionen laufen innerhalb von Sekundenbruchteilen ab: Blitzschnell lagern sich Atome um, bilden sich Bindungen oder zerfallen ganze Molekülketten in ihre Einzelteile. Das Ganze passiert viel zu schnell, um es direkt beobachten zu können. Wenn es beispielsweise darum geht, den komplexen Ablauf bei der Photosynthese einer Pflanzen zu entschlüsseln oder die Funktionsweise eines Enzyms, kommen daher auch Chemiker nicht mehr ohne Modelle der Moleküle und Reaktionen aus.
Schwer fassbare Elektronen
Doch lange Zeit war das nur statisch möglich: Die Programme schafften es, die beteiligten Moleküle in ihrem Grundzustand dreidimensional abzubilden. Dadurch bekamen die Forscher zumindest einen Eindruck davon, wie die Atome angeordnet waren. Das Problem dabei: Während einer chemischen Reaktion verändert sich nicht nur der Bindungszustand des Gesamtmoleküls, auch die Atome verlassen ihren Grundzustand und nehmen beispielsweise Energie auf. Dadurch verändern sich die Bahnen der Elektronen in ihren Orbitalen - den entscheidenden Akteur für die chemischen Bindungen.
Doch genau hier beginnt das Problem: Elektronen sind schwer fassbar - und damit auch schwer abzubilden oder zu modellieren. Als Partikel, die sowohl Eigenschaften von Teilchen als auch von Wellen haben, gehorchen sie den Gesetzen der Quantenphysik. Wo sich ein Elektron gerade befindet, lässt sich daher nur in Wahrscheinlichkeiten ausdrücken. Das aber macht ihre Simulation extrem aufwändig und kostet enorme Rechenleistung. In den 1970er Jahren war es daher nur möglich, die Konfiguration sehr kleiner und simpler Moleküle zu simulieren. An diesem Punkt kommen nun die drei Nobelpreisträger ins Spiel.
Klassische Sicht und Quantenphysik kombiniert
Das Ganze begann Anfang der 1970er Jahre, als Arieh Warshel vom Weizman Institute of Science in Israel in die USA kam und am Labor von Martin Karplus und seinem Team an der Harvard University anfing. Dieser hatte bis dahin mit Computermodellen gearbeitet, die versuchten, die quantenphysikalischen Aspekte von chemischen Reaktionen zu simulieren. Warshel dagegen kam aus der klassischen Richtung. Er hatte gemeinsam mit seinem Kollegen Michael Levitt in Israel mit einem leistungsstarken Programm gearbeitet, das die Atomanordnung selbst komplexer Moleküle darstellen konnte - wenn auch nur in Ruhe. Gemeinsam begannen die Forscher nun, beide Welten miteinander zu kombinieren.
Modell eines Moleküls: das reaktive Zentrum ist im Detail nach quantenphysikalischen Prinzipien modelliert, der Rest klassisch.
Der Clou dabei: Das von ihnen entwickelte Computerprogramm vereinte beide Methoden. Die Bereiche eines Moleküls, die an der chemischen Reaktion nicht beteiligt sind oder an denen keine relevanten Veränderungen auftreten, wurden dabei herkömmlich statisch abgebildet. Die Orte aber, an denen Elektronen ausgetauscht werden und sich frei bewegen, modellierte das Programm nach quantenphysikalischen Prinzipien. 1972 stellten sie diese Software erstmals in einer Veröffentlichung vor. Als Beispiel hatten Karplus und Warshel die Reaktion simuliert, die unserem Sehen zugrunde liegt: den lichtbedingten Zerfall des Sehpigments Retinal. Sie waren damit die ersten, die Quantenphysik und klassische Physik kombiniert hatten, um damit eine chemische Fragestellung zu lösen.
Egal wie groß oder komplex
Noch allerdings hatte das Ganze ein Manko: Es funktionierte nur bei Molekülen, die spiegelsymmetrisch aufgebaut waren. Aber auch diese Hürde überwanden die Forscher, in diesem Falle Warshel und sein alter Kollege Levitt. Beide zusammen begannen an einem verbesserten Programm zu arbeiten, das auch komplexere Molekülreaktionen, wie beispielsweise die eines Enzyms, simulieren konnte. Und nach einigen Jahren des Tüftelns und Probierens war es dann soweit: 1976 publizierten sie das erste Computermodell eines Enzymreaktion. Ihr Programm war revolutionär. Denn erstmals ließ sich damit jede Art von Molekül in einer chemischen Reaktion modellieren. Es spielte nun keine Rolle mehr, wie groß oder Komplex es war.
Ein Enzym spaltet eine angelagerte Polypeptidkette. Für die genaue Modellierung ist der reaktive Bereich entscheidend (Auschnitt rechts)
Das Prinzip hinter diesem Programm - die Kombination von klassischer und quantenphysikalischer Modellierung - steckt heute nahezu hinter jedem Molekül- und Reaktionsmodell, mit dem Chemiker arbeiten. Es wird eingesetzt in so unterschiedlichen Gebieten wie der Pharmaforschung, der Entwicklung von Katalysatoren oder der Optimierung von Solarzellen.
(Nobel Foundation, 09.10.2013 - NPO)
Nota.
Die beklagenswertesten Folgen der in den westlichen Ländern verbreiteten Vergötzung "der Wissenschaft" betreffen aber nicht die Stellung der Wissenschaftler in der Gesellschaft und die phantastischen Erwartungen, die an sie gestellt werden. Sie betreffen vielmehr das mystifizierte Weltbild des westlichen Zeitgenosssen: die Vorstellung nämlich, dass das, was wir mit unsern Augen sehen und mit unsern Fingern fühlen, nur der oberflächliche Schein der Dinge sein, während das, was der Wissenschaftler in seinem Labor darstellt, die eigentliche und wahre Wirklichkeit sei.
"Der Naturwissenschaftler beobachtet keines Wegs 'die Natur' so lange, bis sie ihm von allein ein Lied singt. Vielmehr reißt er aus der Natur vorsätzlich ein winziges Stückchen heraus, zwingt es in die Folterkammer seines Labors und quält es kunstvoll so lange, bis es auf seine gezielten Fragen mit Ja oder Nein antwortet." [Die Wendeltreppe, 4]
Dass das wirkliche Laborexperiment nun durch Computerprogramme ersetzt, weil simuliert werden kann, treibt, wie auch die Bildgebenden Verfahren, die Mystifikation auf ihren Gipfel.
Der Vorteil ist freilich, dass sie nun als ein solcher kenntlich wird.
J.E.
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