Donnerstag, 31. Oktober 2013

Irgendwo muss sie doch sein.

 
Wenn die Dunkle Materie warm ist; konzentriert sich das Gas in filamentartigen Strukturen, in denen dann explosionsartig die ersten Sterne entstehen. 
aus Die Presse, Wien, 31. 10. 2013

Physik: Der dunklen Materie auf der Spur  
In den USA hat ein Teilchensensor seine Arbeit aufgenommen, der empfindlicher als alle bisherigen nach dem sucht, woraus das Weltall zu 25 Prozent besteht und was man doch nicht sieht. 

von Jürgen Langenbach 

Seit 80 Jahren ist sie eines der größten Rätsel der Physik, die dunkle Materie, von der man nicht viel mehr weiß, als dass es fünf Mal so viel geben muss wie von der für uns sichtbaren. Ihre Existenz steht seit 1933 fest, damals bemerkte der Schweizer Astronom Fritz Zwicky an fernen Galaxien eine starke Diskrepanz zwischen dem von ihnen ausgesandten Licht und den Gravitationskräften, die in ihnen wirkten. Letztere waren viel größer, und sie konnten nur von etwas herrühren, was Masse hat, aber keine Strahlung aussendet. Zwicky postulierte eine dunkle Materie, seine Kollegenschaft schüttelte den Kopf.

Aber es fand sich immer mehr Bestätigung, vor allem in den Sechzigerjahren, und seitdem ist man auf der Suche bzw. auf der Jagd. Es gab und gibt viele Kandidaten, ganz oben rangieren hypothetische Teilchen, „weakly interacting massive particles“, WIMPs. Sie interagieren mit der uns vertrauten Materie nur über die schwache Kernkraft und eben über die Gravitation, und man sucht sie allerorten, am Himmel – dort sollen sie hochenergetische Gammastrahlen auslösen, wenn sie miteinander kollidieren und sich auslöschen, ein Nasa-Satellit hat 2009 so etwas gesichtet – und auf Erden. Bzw. tief in ihr, in alten Bergwerken etwa. Das darüberliegende Gestein soll andere Teilchen abschirmen, vor allem die der sogenannten kosmischen Strahlung, deren Teilchen leicht mit WIMPS verwechselt werden könnten.

„Entdeckt? Wetten Sie nicht darauf!“

In diesen Kavernen ruhen Detektoren, die darauf warten, dass WIMPs auf ein Ziel treffen („target“) und mit einem seiner Atome kollidieren. Das Ziel besteht aus extrem gekühlten Xenon (oder Germanium oder Silizium), es ist umgeben von Detektoren, die auf Lichtblitze lauern, die bei einer Kollision mit WIMPs freigesetzt würden. Aber solche Kollisionen sind so extrem selten, dass Science Ende 2009 gewarnt hat: „Dunkle Materie entdeckt? Wetten Sie nicht darauf!“ Zu dieser Zeit war das Internet voll mit Gerüchten, in der Soudan-Mine in Minnesota, 750 Meter unter der Erde, hätten Fermi-Forscher WIMPs-Signale gesichtet. Es blieb bei den Gerüchten, und Science wusste, warum es warnte: Jahre vorher waren aus einem Labor im Gran Sasso Erfolgsmeldungen gekommen, die bis heute umstritten sind.

Aber die dunkle Materie reizt, und seit das Higgs-Teilchen bestätigt ist, gibt es auf dem dortigen Feld keine Nobelpreise mehr zu gewinnen, wenigstens nicht so rasch. Deshalb schießen allerorten WIMPs-Labors aus dem Boden bzw. eben in ihn hinein – sie sind relativ billig, um die zehn Millionen Dollar –, in China wird gerade eines in 2500 Metern Tiefe unter dem Jin-Pin-Berg gebaut („PandaX“), in den USA ist eines seit drei Monaten im Probebetrieb, LUX (Large Underground Xenon), in 1478 Metern Tiefe in einem ehemaligen Goldbergwerk. Dort lagern 350 Kilo flüssiges Xenon, dieser Sensor ist derzeit der empfindlichste von allen.

Zumindest das wurde bekannt, als LUX am Donnerstag seine Arbeit mit großer Gebärde der Öffentlichkeit präsentierte. „Wir haben diese ersten drei Monate damit verbracht, uns anzusehen, wie gut der Detektor arbeitet, und wir sind sehr zufrieden mit dem, was wir sehen“, erklärte LUX-Sprecher Rick Gaitskell. „Wir haben eine höhere Sensitivität als alle früheren Experimente, die direkt nach dunkler Materie suchen.“

Gefunden hat man nichts. Aber das ist durchaus auch etwas: Die Schätzungen der Masse von WIMPs reichen von leicht (in der Größenordnung von ein paar Protonen) bis schwer (hunderte Protonen). Im April meldete ein Labor Verdacht auf drei WIMPs, leichte, von der Art waren auch die im Gran Sasso. LUX hätte mit seiner Empfindlichkeit 1300 sehen müssen. Es sah nichts.

Mittwoch, 30. Oktober 2013

Dem System beim Emergieren zugeschaut.

aus scinexx


1, 2, 3, viele: Aus wenigen Teilchen wird ein Haufen
Physiker beobachten im Experiment die Entstehung eines Vielteilchensystems

Ein Paar, ein Dutzend, eine Hand voll, ein Haufen: zahlreiche Sammelbegriffe existieren für verschiedene Mengen von Dingen. Manche davon sind fest definierte Zahlen, andere sind in ihrer Größe nur ungenau bestimmt. In der Physik ist bedeutend, ab welcher Anzahl von Atomen in einem System die physikalischen Regeln gelten, die sich dann auf ein beliebig großes System anwenden lassen. Entscheidend ist dabei der Übergang von einem System aus wenigen Einzelteilchen zu einem durch unendlich viele Teilchen beschriebenen System. Heidelberger Physikern ist es in Experimenten mit ultrakalten Atomen gelungen, einen solchen Übergang zu beobachten. Ihre Forschungsergebnisse veröffentlichten sie im Magazin „Science“. 

Wie groß muss eine Ansammlung von Teilchen sein, damit die genaue Teilchenzahl unwichtig wird? Dieses physikalische Problem ist in der Philosophie als sogenanntes Sorites-Paradoxon bekannt. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, ab wann eine Ansammlung von Elementen einen ‚Haufen‘ bildet. Das Paradoxon wird häufig mit Hilfe von Sandkörnern verdeutlicht: Ein einzelnes Sandkorn ist eindeutig noch kein Haufen. Zwei ebenfalls noch nicht. Aber drei, oder fünf, oder doch erst zehn oder hundert? Umgekehrt stellt sich die Frage, wie viele Sandkörner man von einem Haufen entfernen muss, damit es kein Haufen, sondern nur noch eine Ansammlung weniger Einzelteilchen ist.

„Systeme, die aus vielen Teilchen bestehen, lassen sich in der Regel nur sehr schwer mikroskopisch exakt beschreiben. Wissenschaftler arbeiten daher häufig mit effektiven Theorien, mit denen nicht mehr die einzelnen Teilchen wie zum Beispiel Gasmoleküle in der Luft betrachtet werden, sondern makroskopische Größen wie Druck oder Temperatur“, erläutert Selim Jochim vom Max-Planck-Institut für Kernphysik.

Ausreichend viele Teilchen für Durchschnittswert

So beschreibt zum Beispiel die Temperatur die durchschnittliche Geschwindigkeit aller Teilchen im System, nicht die exakte Geschwindigkeit jedes einzelnen Teilchens. In einem komplexen System aus unendlich vielen Teilchen ist es unmöglich, jedem einzelnen Teilchen einen Wert zuzuweisen, der Durchschnitt muss zwingend verwendet werden. Bei nur zwei Teilchen dagegen liegt der Durchschnittswert genau dazwischen und beschreibt damit jedes der beiden Teilchen nur ungenau. Wie viele Teilchen muss ein System also enthalten, damit ein solcher Durchschnittswert das ganze System ausreichend genau beschreibt?

Ein einzelnes Atom (blau) dient als Sonde, um die Energie des Teilchen um Teilchen (grün) entstehenden Vielteilchensystems zu messen   

Ausgangspunkt der aktuellen Experimente war ein von den Heidelberger Forschern entwickeltes Teilchensystem, das so klein war, dass es noch exakt beschrieben werden konnte. Dieses System ermöglicht es, alle Eigenschaften reproduzierbar zu kontrollieren, darunter die exakte Anzahl der Teilchen, deren Bewegungszustand und ihre Wechselwirkungen. In einem so genannten eindimensional gefangenen Gas begannen die Wissenschaftler mit einem einzigen in die Nähe des absoluten Nullpunkts abgekühlten Lithiumatom. Schritt für Schritt erhöhten sie dann die Zahl der Atome im gemessenen System. Dabei wurde immer wieder die Energie des gesamten Systems gemessen.

Quartett bildet Haufen

Die Untersuchungen zeigten schließlich, dass für das hier untersuchte System bereits bei sehr wenigen Atomen die für ein unendlich großes System hergeleitete Theorie anwendbar wird. „Bereits ab etwa vier Atomen ist, in einfachen Worten gesprochen, das von uns untersuchte System ein ‚Haufen‘ im Sinne des Sorites-Paradoxon“, so der Heidelberger Physiker. Der physikalische Haufen ist im Falle der Lithiumatome also ein Quartett. „Die nun publizierten Ergebnisse verwirklichen zum ersten Mal unsere Vision, mit diesen Experimenten einen tiefen Einblick in die Natur fundamentaler Wenigteilchensysteme zu gewinnen, um beispielsweise Atomkerne besser zu verstehen.“
(Science, 2013; doi: 10.1126/science.1240516)

(Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg , 28.10.2013 - AKR)


Nota.

Daraus erhellt, wie irreführend es ist, jede Ansammlung von Einzelteilen, die eine funktionale Einheit bilden, wahllos mit dem Wort System zu bezeichnen. Damit ist keine zusätzliche Erkenntnis gewonnen, aus der man ihrerseits Schlüsse ziehen kann. Denn welche die neue Eigenschaft ist, die sie als System funktionieren lässt, und welche Bedingungen z. B. der Menge erforderlich sind, ist prinzipiell in jedem Fall verschieden (und nur zufällig gleich). In diesem simplen physikalische Fall reichen vier Elemente aus, um einen Durchschnittswert* "emergieren" zu lassen, der die neue Systemeigenschaft ausmacht. Durch die ganze Teilchenphysik werden sowohl die (qualitativen) Eigenschaften andere sein als auch die erforderliche Quantität. Und wie nun erst beim Übergang in die belebte Materie! Nicht zu reden von animalischen Gesellungsformen - arbeitsteiligen Gesellschaften etwa -, in denen nicht nur 'Eigenschaften' zu Durchschnitten vermittelt werden, sondern persönliche Absichten einander durchkreuzen und kumulieren. 

Man mag immer von 'System' reden - aber im Wissen, dass das so gut wie nichts bedeutet. Eben nur dies: dass 'das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile'; nämlich die emergierte Durchschnittseigenschaft.

Wenn aber einer nicht nur mit dem Wort System klingelt und klappert, sondern ihm auch noch das Beiwort autopoietisch anheftet, ist das nicht nur kein Erkenntniszuwachs, sondern Erkenntniszersetzung; nämlich Hokuspokus.

*) Ob es sich um einen von einem künstlichen Messgeräten ermittelten oder um einen von unserm natürlichen Sinnesapparat bemerkten Wert handelt, ist wissenslogisch egal.
JE

Der Beitrag der Schlange zur Menschwerdung des Affen.

aus Die Presse, Wien, 30.10.2013

Haben die Schlangen den Menschen (mit) erschaffen?
Warum wir große Gehirne haben und den Blick direkt nach vorn gerichtet, ist ein altes Rätsel. Eine Hypothese vermutet, es komme daher, dass Primaten immer schon die Gefahr früh sehen mussten.


Kein anderes Tier hat es in den Mythen zu so einer Rolle gebracht wie die Schlange, für manche Kulturen war sie die Inkarnation des Bösen, die Midgardschlange etwa, für andere war sie heilig. Und das seit Beginn der Zeiten, zumindest denen der Kultur: In einer Höhle in Botswana ruht seit 60.000 Jahren ein gewaltiger, von Menschen behauener Stein, sechs Meter lang, er sieht aus wie ein Python; noch älter sind, auch in Afrika, Ockerstücke und Eierschalen, in die Muster eingeritzt sind, vielleicht Ornamente, vielleicht aber auch – Schlangenlinien. Woher das alles?

Es gibt natürlich noch einen Mythos, den der Genesis, und den kann man auch so lesen, dass der Mensch erst Mensch wurde, als die Schlange kam mit ihrer vergifteten Gabe. Durch deren Verzehr erkannten sie einander – und den Sex und die Moral –, und dann mussten sie hinaus in die Sterblichkeit und in die Welt, unter Schmerzen gebären, im Schweiß des Angesichts arbeiten, sich auseinandersetzen mit Objekten und sich bilden.

Steckt in dieser Schlüsselrolle der Schlange etwas, was man in der Schöpfungsgeschichte zuletzt vermuten würde: ein zentraler Schritt der Evolution? Das postuliert die „Snake Detection Theory“, sie wurde 2004 von der Anthropologin Lyne Isbell (UC Davis) entwickelt und sollte erklären, warum Primaten direkt nach vorn gerichtete Augen haben, und warum es bei manchen Primaten, unseren Ahnen, zu einer starken Vergrößerung des Gehirns kam. In der herkömmlichen Sicht wurden Augen so nach vorn gerichtet, weil Primaten mit ihren Händen nach etwas greifen – Futter –, aber man fand keine entsprechenden Nervenzellen im Gehirn.

Deshalb setzte Isbell auf die Schlange, die ist die älteste Bedrohung der Säugetiere: Vor 100 Millionen Jahren kamen die Würgeschlangen, vor 60 Millionen die mit den Giften, und manche Säuger, Nager, reagierten mit Immunisierung gegen die Gifte. Andere, Primaten, stellten den ganzen Körper um: Sie schärften die Augen und fuhren im Gegenzug den Geruchssinn herunter; sie bildeten im Gehirn ein putatives Zentrum zur Erkennung von Gefahren („fear module“), und beides sorgte mit dafür, dass das Gehirn größer wurde (Journal of Human Evolution, 51, S.1).

So weit die Hypothese. Die gefiel dem japanischen Hirnforscher Hisao Nshijo (Toyama), er tat sich mit Isbell zusammen, sie testeten das Ganze im Experiment an zwei Makaken, denen sie Elektroden in die Gehirne einpflanzten und dann auf PC-Schirmen Bilder vorführten, Bilder von Schlangen, ausgestreckten oder eingerollten, Bilder von Artgenossen mit verärgerten Gesichtern, Bilder von geometrischen Mustern.

Auf alle Bilder schlug im Gehirn eine Region an, das Pulvinar, es ist Teil des Thalamus – dort wird entschieden, welche Information wichtig ist –, es ist auch direkt mit der Netzhaut verbunden. Aber die Reaktionen waren in Quantität und Qualität höchst verschieden: Bei den Schlangen wurden 40 Prozent der Zellen aktiv, beim bedrohlichen Artgenossen 28, beim Muster 12. Zudem kam die Reaktion auf Schlangen extrem schnell, 15 Millisekunden rascher als auf das Gesicht, 25 rascher als auf die Muster (Pnas, 28.10.). „Das unterstützt die Perspektive, dass Schlangen in der Evolution unsere Primatenlinie schon lange mit geformt haben“, schließen die Forscher, sie fügen noch einen indirekten Beleg hinzu: Auf Madagaskar gibt es keine Giftschlangen – und die dortigen Primaten, die Lemuren, haben im Gehirn überhaupt kein Pulvinar.

Dienstag, 29. Oktober 2013

Maschinen lesen Gedanken.

aus Die Presse, Wien, 29.10.2013

Das (maschinelle) Gedankenlesen kommt rasant voran
Hirnforscher sind beim Sichtbarmachen von Gedanken schon so weit, dass sich die Polizei und Firmen wie Daimler-Benz dafür interessieren

 

„Die Gedanken sind frei, wer kann sie erraten? [...] Es bleibet dabei, die Gedanken sind frei!“ Der alte Volksliedtraum der Deutschen war nie ganz wahr, weder als er von Walther von der Vogelweide verdichtet wurde („joch sind iedoch gedanke fri“), noch als er 1806 in „Des Knaben Wunderhorn“ stand. Es gab zu allen Zeiten besonders Einfühlsame, die sich in andere hineinversetzen konnten – Handleserinnen etwa –, und ein Stück weit können wir es ja alle.

Aber im Großen und Ganzen hielt die revolutionäre Emphase weit ins 20. Jahrhundert, dann erodierte sie: Erst fiel Hirnforschern auf, dass unsere Gehirne Entscheidungen treffen, bevor wir sie bewusst treffen, damit kam die Freiheit (des Willens) in Zweifel.

Und dann kamen Maschinen, die die Vorgänge im Gehirn sichtbar machten, bildgebende Verfahren wie das der Magnetresonanz, das zeigt, welche Region aktiv ist. Damit kann man ablesen, was Testpersonen sehen oder was sie beschließen. Ersteres gelang 2001 Jim Haxby (New Hampshire): Er zeigte Probanden Objekte – eine Schere, eine Flasche etc. –, und hielt die Hirnaktivitäten fest. Dann baute er daraus ein Computerprogramm, das konnte in der nächsten Runde aus den Hirnaktivitäten auf gesehene Gegenstände rückschließen.

Das zweite Mirakel begab sich 2007 bei John-Dylan Haynes (Leipzig): Er bat Probanden, in Gedanken nach Belieben zwei Zahlen entweder zu addieren oder voneinander abzuziehen. Auch diese Wahl wurde sichtbar, lange bevor die Probanden sie bewusst trafen. Das waren natürlich ein schlichter Test, aber er weckte Aufmerksamkeit, etwa beim Automobilhersteller Daimler-Benz, er schickte Abgesandte zum Forscher: Ob er verborgene Kundenwünsche erkunden könne? John-Dylan winkte ab: Grundsätzlich gehe das schon, aber die herkömmlichen Instrumente der Marktforschung seien feiner, berichtete er Nature (502, S.428).

Das wird sich ändern: Im Labor von Jack Galland (Berkeley) sehen die Testpersonen Filme – etwa eine Doku über Seekühe –, dann interpretiert ein Computerprogramm das Gehirn und spuckt „Wal“ und „schwimmen“ aus. Beide bzw. ihre Muster im Gehirn kennt das Programm schon, und „Wal“ ist einfach dem neuen Objekt am ähnlichsten. Dass das eine Seekuh ist, wird das Programm in der nächsten Runde wissen. Und in Japan ist es im Frühjahr gelungen, Träume von Testpersonen sichtbar zu machen.

Das machte sogar den nüchternen „Economist“ hellhörig – er mahnte die Leser zur „Furcht“ – auch Kriminalisten spitzten die Ohren, vor allem über Haynes' jüngstes Experiment: In dem wurden Probanden Bilder von Innenräumen gezeigt, und dem Hirn ließ sich ablesen, ob die Person schon einmal in dem Raum war. Wenn also etwa in einem Raum ein Mord begangen wurde und die Polizei hätte einen Verdächtigen, der alles abstreitet!

Ähnliches wird schon kommerzialisiert, von Lügendetektorfirmen, aber vielleicht fehlt bei der Rechnung der Wirt: Wieder bei Galland spielten Probanden „Counterstrike“,ein Videospiel um Leben und Tod. Der Forscher wollte Informationen über geplante Bewegungen. Er bekam sie nicht, die Emotionen waren zu stark und überdeckten alles andere. „Es bleibet dabei“? Ja, das aufmüpfige Lied muss nur mit der richtiggen Emphase gesungen werden!

E-Mails: juergen.langenbach@diepresse.com

Wissenschaft ist öffentliches Wissen; II.




Frage ich einen Wissenschaftler, wodurch sich Wissenschaft von andern Arten des Wissens unterscheidet, wird er mir sagen: Wissenschaft ist begründetes Wissen. Wenn ich ihn dann frage, was das bedeutet, fangen die Probleme überhaupt erst an… Es wird sich finden, dass er „im Grunde“ der Überzeugung ist, nichtwissenschaftliches Wissen sei „eigentlich“ überhaupt kein Wissen (sondern bloßes “Meinen“)… Dann wird er Wissenschaft immanent zu erklären versuchen, anhand ihrer Verfahren, und es läuft darauf hinaus: Wissenschaft ist „wahres“ Wissen, anderes Fürwahrhalten ist kindisch…

Montag, 28. Oktober 2013

Allnächtliche Gehirnwäsche.

aus scinexx

Gehirnwäsche im Schlaf
Nachts schwemmt das Gehirn molekularen Abfall aus  

Im Schlaf regeneriert sich nicht nur unser Körper, auch das Gehirn benötigt diese Ruhepause. Wozu, ist bisher allerdings nur in Teilen geklärt. US-Forscher haben nun eine neue Antwort auf die alte Frage gefunden: Unser Denkorgan nutzt den Schlaf zur Müllentsorgung. Es schwemmt während der Nacht molekulare Abfallstoffe aus. Möglicherweise ist es daher sogar das Bedürfnis nach Entsorgung, das unsere Müdigkeit und unser Schlafbedürfnis auslöst, mutmaßen die Wissenschaftler im Fachmagazin "Science". 

Ob Maus oder Mensch, Wal oder Giraffe: Nahezu jedes Tier schläft in irgendeiner Form – und stirbt, wenn ihm die Nachtruhe lang genug verwehrt wird. Bei unserer Spezies gelten chronische Schlafstörungen als Risikofaktor für allerlei Krankheiten, von Epilepsie über Alzheimer bis hin zum Schlaganfall. Schon eine schlaflose Nacht reicht, um uns das Hirn zu vernebeln: Wer müde ist, ist weniger aufmerksam und trifft schlechtere Entscheidungen. Doch warum ist Schlaf so wichtig für uns? Bekannt ist bereits, dass unser Hirn die Nachtruhe benötigt, um neue Erinnerungen zu konsolidieren. Was aber unsere grauen Zellen sonst so treiben, wenn uns die Augen zufallen, war bisher unbekannt.

Entweder aufpassen oder aufräumen

Forscher um Lulu Xie von der University of Rochester haben nun bei Mäusen einen weiteren Mechanismus entdeckt, der Schlaf unabkömmlich macht: Nachts werden schädliche Stoffwechselprodukte im Gehirn weggeschafft. „Das Hirn hat nur eine begrenzte Menge an Energie zur Verfügung, und es scheint, als müsse es sich zwischen zwei funktionellen Zuständen entscheiden – entweder ist es wach und passt auf, oder es schläft und räumt auf“, sagt Koautorin Maiken Nedergaard. „Man kann es sich so vorstellen, als würde man eine Party bei sich zu Hause schmeißen. Entweder man unterhält die Gäste oder man räumt auf, aber man kann kaum beides zur gleichen Zeit machen.“

Die Müllabfuhr im Gehirn bedient sich eines Systems, das die Forscher bereits im vergangenen Jahr aufgespürt hatten. Das glymphatische System ist ein Netzwerk aus winzigen Kanälen, die Hirnwasser transportieren. Kontrolliert wird dieses Netzwerk nicht von Nerven-, sondern von Gliazellen, den Stütz- und Hüllzellen des Gehirns. Ähnlich wie das Lymphsystem im Rest unseres Körpers ist es für den Abtransport von Abfällen zuständig. Der gesammelte Unrat wandert aus dem Hirnwasser zurück in den Blutkreislauf und wird fortgewaschen.

Abflusskanäle erweitern sich im Schlaf

Um die Aktivität des glymphatischen Systems im schlafenden und wachen Hirn vergleichen zu können, brachten die Wissenschaftler Mäusen bei, unter einem speziellen Mikroskop einzuschlafen. Waren die Nager eingedöst, injizierten die Forscher grünen Farbstoff ins Hirnwasser und beobachteten, wie er sich verteilte. Nachdem sie die Mäuse wieder aufgeweckt hatten, injizierten sie rote Farbe und beobachteten wiederum, was mit ihr geschah.

Sie stellten fest, dass der Fluss des Hirnwassers im Schlaf und unter Narkose tief ins Gewebe hineinreichte. Bei wachen Mäusen reduzierte er sich um 95 Prozent und blieb auf die Oberfläche des Gehirns beschränkt. Auch extra markierte β-Amyloide wurden im Schlaf doppelt so schnell weggeschafft wie im Wachzustand. Diese Proteine sind Bestandteil der krankhaften Ablagerungen im Hirn von Alzheimer-Patienten.

Der effizientere Abtransport von molekularem Müll ging mit erstaunlichen Veränderungen der Gewebestruktur einher. Bei wachen Mäusen machte der Zellzwischenraum lediglich 14 Prozent des Hirnvolumens aus, bei schlafenden Tieren waren es hingegen 23 Prozent. Die Forscher vermuten, dass der Neurotransmitter Noradrenalin eine wichtige Rolle bei der Ausdehnung und Kontraktion der Zellen spielt. Das Hormon wird verstärkt ausgeschüttet, wenn wir wachsam sein müssen – etwa in Gefahrensituationen. Im Schlaf sinkt seine Konzentration im Gehirn.

Bestimmt die Müllabfuhr unser Schlafbedürfnis?

Die Forschungsergebnisse werfen eine Reihe weiterer Fragen auf – etwa die, ob die Ansammlung von Müll im Hirn auch unser Schlafbedürfnis beeinflusst. Denkbar wäre, dass uns die Müdigkeit überfällt, sobald die Unordnung zu groß wird. Möglicherweise drängt uns das Hirn zu einem Nickerchen, damit es mit dem Reinemachen beginnen kann. Die zweite Frage ist, ob und zu welchem Ausmaß das Phänomen der nächtlichen Hirnwäsche bei anderen Arten auftritt.

Suzana Herculano-Houzel von der Universidade Federal do Rio de Janeiro schlägt in einem begleitenden Kommentar vor, der Mechanismus könne eine Erklärung für das unterschiedliche Schlafbedürfnis verschiedener Tiere liefern. Denn während Fledermäuse 20 Stunden am Tag ratzen, kommen Giraffen und Elefanten mit drei bis vier Stunden aus. Haben sie dank ihrer großen Hirne einfach größere Zellzwischenräume voller Hirnwasser, die Schadstoffe zwischenspeichern können? Ein Rätsel, das nicht einfach zu lösen sein wird, wie Herculano-Houzel weiß: „Wenn Neurowissenschaftler lebende Tiere mit großem Hirn doch nur so einfach ins Labor holen könnten.“ (Science, 2013; doi: 10.1126/science.1241224)

(Science, 21.10.2013 - NSC)



aus diePresse.com, 17.10.2013 | 16:17 |

Wozu Schlaf? Zum Entsorgen des Hirnmülls! 
Eines der größten Rätsel des Lebens ist gelöst: das, warum alle schlafen, obwohl das gefährlich ist. Es muss sein. Das Gehirn entsorgt dann seine Abfälle, die oft so giftig sind, dass sie Leiden wie Alzheimer auslösen.

Schlafen ist, zumindest in der freien Natur, eine riskante Sache – viele Raubtiere nützen das Dunkel –, und doch schlafen alle, von der kleinsten Mücke bis zum größten Elefanten, sie tun es nur unterschiedlich lang. Fledermäuse verschlafen 20 Stunden des Tages, Elefanten kommen mit vier Stunden aus. Und wir? Ein Drittel unseres Lebens verbringen wir in diesem eigenartigen Zustand, in dem in Wahrheit fast nichts schläft, das Herz pumpt, gottlob, das Gehirn ist auch aktiv, nur die Sinnesorgane sind eingelullt, und die Skelettmuskeln stellen ihre Aktivität weithin ein, sonst würden wir im Schlaf herumspringen und uns und andere verletzen.

Wozu tun wir und all die anderen das, wo doch Gefahr droht (für uns: über die längste Zeit der Gattungsgeschichte drohte)? Man weiß es nicht, es gibt bzw. gab nur Hypothesen, etwa die, dass das Gehirn im Schlaf Müll entsorgt, giftige Stoffwechselprodukte der Tagesarbeit; oder die, dass das Gehirn im Schlaf den Tag durchgeht, unwichtige Erinnerungen ausscheidet, wichtige verfestigt: lernt. Das ist auch so, wie man in den vergangenen Jahren gezeigt hat, aber es wiegt das Risiko der minimierten Wahrnehmung der Umwelt nicht auf. Wozu also? Bisher kannte man nur eine höchst unzureichende Antwort ex negativo: Wenn man Ratten den Schlaf entzieht, sind sie nach spätestens 14 Tagen tot, Hunger halten sie länger aus; und wenn man Menschen den Schlaf entzieht, brechen sie bzw. ihre Willenskräfte in kürzester Zeit zusammen – das machten und machen sich die Folterer aller Zeiten zunutze.

Zellen machen Platz für Kanalisation

Aber was sorgt im Gehirn dafür, dass Schlaflosigkeit noch viel riskanter ist als Schlaf? Die (dann fehlende) Müllabfuhr, diese Hypothese hat sich nun bestätigt. Und zwar eine Müllabfuhr, die Maiken Nedergaard (Rochester) erst im Vorjahr entdeckt hat. Zuvor war völlig unklar, wie das Gehirn entsorgt, was es nicht mehr braucht und was ihm gefährlich werden kann. Im restlichen Körper ist dafür das Lymphsystem zuständig, aber das endet an der dichten Grenze des Gehirns, der Blut/Hirn-Schranke. Zwar fließt auch im Gehirn etwas – Zerebrospinalflüssigkeit vulgo Nervenwasser –, und es spült auch Abfall aus, aber viel zu langsam und viel zu wenig. Doch das Gehirn hat ein zweites Entsorgungssystem, es wird von Gliazellen gebildet und erhielt deshalb – in Anlehnung an die Lymphe – den Namen glymphatisches System. Er stammt von Nedergaard, sie konnte das Phänomen nur entdecken, weil man es nur am lebenden Gehirn sieht und erst neueste Mikroskoptechnik diesen Blick ermöglicht.

Nun kommt die Forscherin mit der nächsten Überraschung, sie hat – wieder an Mäusen, wie im Vorjahr – bemerkt, dass das glymphatische System im Schlaf aktiver ist, um die zehnmal so aktiv wie im Wachzustand: 95 Prozent des Gehirnmülls werden dann entsorgt. Möglich wird das dadurch, dass im Schlaf die Gehirnzellen schrumpfen, und wie: um 60 Prozent, das schafft Raum für die Abwasserkanäle (Science, 342, S. 372). Durch die werden dann etwa toxische Proteine entsorgt, die hinter vielen Krankheiten des Gehirns stehen, etwa hinter Alzheimer: „Unsere Befunde haben signifikante Implikationen für die Behandlung von Krankheiten des ,verschmutzten Gehirns‘“, schließt Nedergaard.

Vielleicht haben sie auch Bedeutung weit darüber hinaus: Dass wir ein Drittel unseres Lebens verschlafen, ist schon lange nicht mehr wahr, die Schlafdauer hat sich in den vergangenen Jahren verkürzt, parallel dazu haben nicht nur die Alterskrankheiten des Gehirns zugenommen, es kam auch zur von der Weltgesundheitsorganisation WHO so genannten „Epidemie der Verfettung“, auch andere Leiden werden mit dem mangelnden Schlaf bzw. der Lichtverschmutzung in Verbindung gebracht. (jl)

Sonntag, 27. Oktober 2013

Wo die Reflexion sitzt.

aus derStandard.at, 26. Oktober 2013, 18:00                                           Peter Smola  / pixelio.de


Gehirnareale für die Selbstbeobachtung lokalisiert
Wahrnehmungs- und Erinnerungsreflexion sind zwei getrennte Fähigkeiten

Leipzig/Wien - Menschen können nicht nur Dinge wahrnehmen und Erfahrungen sammeln, sondern diese Wahrnehmung und Erinnerung auch reflektieren und beobachten. Diese allgemeine Fähigkeit zur Selbstbeobachtung (Metakognition) ist im Gehirn an den sogenannten anterioren präfrontalen Kortex (aPFC) geknüpft. Bisher war aber unklar, ob es sich hierbei um eine einzige oder zwei getrennte Fähigkeiten handelt.

Nun konnte ein Forschungsteam um Daniel Margulies vom Leipziger Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften (MPI) die Gehirnareale für Wahrnehmungs- und Erinnerungsreflexion lokalisieren und damit zeigen, dass es sich bei den beiden Arten der Metakognition um zwei getrennte Fähigkeiten handelt. Die Forschungsergebnisse wurden im "Journal of Neuroscience" veröffentlicht.

Arten der Metakognition

Die Fähigkeit, eigene Gedanken, Meinungen und Erinnerungen zu reflektieren – sich quasi selbst zu beobachten –, lässt sich in verschiedene Kategorien einteilen. Eine Art der Metakognition ist beispielsweise das Nachdenken über die eigene Wahrnehmung. Diese kommt dann zum Einsatz, wenn wir Wahrnehmungen aus unserer Umgebung, die wir zum Beispiel beim Spaziergang machen, einschätzen. Eine andere Art ist die Reflexion unserer Erinnerung, die dann aktiv wird, wenn wir unsere Erinnerung bewerten. Bevor ich beispielsweise zum Telefonhörer greife, frage ich mich, ob ich die Telefonnummer auswendig weiß.

Der aPFC mit den lokalisierten Gebieten für Erinnerungs- und Wahrnehmungsreflexion

Die damit verknüpfte Gehirnregion an der Stirnseite ist "ein ungefähr kreditkartengroßer Bereich", sagte Daniel Margulies, Forschungsgruppenleiter am MPI. "Es gab bisher vielfältige Hinweise darauf, dass dieser Gehirnabschnitt wesentlich die Selbstbeobachtung unterstützt." Das Forschungsteam untersuchte an Probanden mit Hilfe der funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRT), ob der aPFC ein homogener Bereich ist, der ganz allgemein die metakognitiven Prozesse unterstützt, oder ob er sich in einzelne Gebiete unterteilen lässt, die bestimmten Arten der Metakognition zuordenbar sind.

Ergebnis: Unterschiedliche Bereiche

Die Forscher fanden heraus, dass beide Fähigkeiten nicht nur getrennt voneinander ablaufen, sondern auch von verschiedenen Netzwerken innerhalb des aPFC unterstützt werden: "Wir konnten zeigen, dass die Fähigkeiten, eigene Wahrnehmungen genau einzuschätzen und eigene Erinnerungen genau zu reflektieren, nicht miteinander korrelierten, sondern eigenständige Anlagen der Selbstbeobachtung sind", sagte Margulies – und fügte hinzu: "Wir hätten eigentlich eine Korrelation erwartet, das Ergebnis war für uns überraschend."


Abstract
Journal of Neuroscience: Medial and Lateral Networks in Anterior Prefrontal Cortex Support Metacognitive Ability for Memory and Perception


Nota.

Zu bedenken: Bei der Reflexion der eigenen Erinnerung handelt es sich um eine Metarepräsentation zweiten Grades: die Reflexion einer Reflexion. Da liegt es doch nahe, dass sie ihre eigene 'Stelle' hat, von  der aus die 'auf die andere blickt'.

Ich weiß nicht, ob Wolf Singer immer noch daran gelegen ist, den 'Sitz des Ich zu finden', oder ob er nichts mehr davon hören mag. Immer bedenkend, dass von einer koordinierenden, kommandierenden 'Zentrale' nicht die Rede ist, sondern nur von einer besonderen Instanz mit einer besonderen Perspektive... - wäre dies doch ein Kandidat, oder?
JE  

Samstag, 26. Oktober 2013

Gedächtnisbildung und Erinnern.

aus derStandard.at, Wien, 26. Oktober 2013, 16:59                            Rainer Sturm, pixelio.de

Wiener Neurowissenschafter schauen dem Gehirn beim Lernen zu
Strukturelle Änderungen im Gehirn von Labortieren "live" beobachtet

Wien - Einem Forscher-Team um den Neurobiologen Simon Rumpel am Wiener Forschungsinstitut für Molekulare Pathologie (IMP) ist es gelungen, am lebenden Gehirn zu beobachten, wie sich Nervenzellen beim Lernen und Erinnern verhalten. Die Forscher verfolgt dabei mit neuartigen mikroskopischen Techniken die Veränderungen in der Verschaltung von Nervenzellen während des Lernprozesses.

"Das Gehirn ist durch eine enorme Plastizität charakterisiert. Es bildet ständig neue Verbindungen zwischen Nervenzellen, sogenannte Synapsen, und baut diese wieder ab", sagte Rumpel, der mit Kaja Moczulska am IMP solche Prozesse erforscht. Bekannt ist, dass lang anhaltende Lernprozesse sowohl zu Änderungen in der Genexpression auf molekularer Ebene führen als auch zu direkten Veränderungen des Aussehens der beteiligten Neuronen im Gehirn - zu strukturellen Änderungen.

Änderungen an Neuronen direkt beobachten

Mit der Zwei-Photonen-Mikroskopie lassen sich seit einiger Zeit strukturelle Änderungen an Neuronen direkt beobachten. Fluoreszierend werden jene "Dornen" auf den neuronalen Fortsätzen dargestellt, die den Verbindungsstellen zwischen Nervenzellen entsprechen. Diese Strukturen sind nur Tausendstel Millimeter groß. Die Methode eröffnet Rumpel und seinen Kollegen buchstäblich einen Blick ins Gehirn der Versuchstiere, in diesem Fall Mäuse. Durch Wiederholung dieser Beobachtungen lassen sich diese Abläufe über einen längeren Zeitraum verfolgen.

Die Versuchsanordnung: Die Wissenschafter riefen bei einem Teil der Mäuse einen konditionierten Reflex als Langzeit-Gedächtnisinhalt hervor. Die Tiere vernahmen zunächst einen Ton, dann folgte ein leichter Schock an einem Bein. Rumpel: "Schon nach fünf Mal regelmäßiger Abfolge waren die Tiere konditioniert. Das Gehirn lernt sehr schnell."

Ähnlich wie bei den Versuchen von Iwan Petrowitsch Pawlow ("Pawlowscher Hund"; Pawlow starb 1936) verbinden die Tiere den Ton und den zu erwartenden Schock. Der Wissenschafter: "Setzt man die Mäuse in eine andere Umgebung als jene, in der die Lernerfahrung erfolgte, reagieren sie auf den Ton genauso wie in der ersten Box. Sie 'frieren ein'." Das ist die klassische Angstreaktion. Erfolgen Ton und Reiz in zu großen Zeitabständen, wird diese Verbindung über das Erlernen des Pawlow-Reflexes nicht hergestellt.

Die Wiener Wissenschafter beobachteten nun die sichtbaren Strukturveränderungen an den Neuronen in der Hörrinde des Gehirns der Versuchstiere. Rumpel: "Bei den Tieren, bei denen der Pawlowsche Reflex auftrat, zeigte sich eine vermehrte Ausbildung von Dornenfortsätzen als mögliches Zeichen des Langzeitgedächt- nisses."

Erinnerung und Langzeitgedächtnis

In einem zweiten Schritt untersuchten die Wissenschafter die Vorgänge bei der Erinnerung an gemachte Erfahrungen. Frühere Arbeiten hatten gezeigt, dass beim Abrufen der Erinnerung ähnliche molekulare Prozesse ablaufen wie bei der Gedächtnisbildung selbst. Diese wurden als Hinweis interpretiert, dass jede Erinnerung zu einer Veränderung der Gedächtnisspur führt. Tatsächlich beobachteten auch die Wiener Forscher eine Aktivierung von "frühen Genen" nach der Erinnerung, ähnlich wie nach der ursprünglichen Gedächtnisbildung.

Doch zwischen Gedächtnisbildung und Erinnerung gibt es offenbar gravierende Unterschiede. Rumpel: "Es zeigte sich, dass einige molekulare Prozesse beim Erinnern denen bei der Bildung des Gedächtnisses ähnlich waren, die sichtbare Struktur der synaptischen Verbindungen jedoch unverändert blieb." Der "Blick ins Gehirn" mit dem Zwei-Photonen-Mikroskop zeigte, dass sich bei den erhaltenen Dornenfortsätzen der Neuronen in der Hörrinde der Versuchstiere keine Neubildungen ergaben, wie die Forscher im Wissenschaftsmagazin "PNAS" schreiben.

In Zukunft wollen die IMP-Neurobiologen diese Untersuchungen vertiefen und analysieren, wie Synapsen durch zwei aufeinanderfolgende Lernerfahrungen beeinflusst werden. Dies könnte dazu führen, dass man besser versteht, wie eine zweite Lernerfahrung im gleichen Schaltkreis abgespeichert wird, ohne die Erinnerung an die erste zu löschen. (APA/red)

Donnerstag, 24. Oktober 2013

Ein Langzeitgedächtnis haben auch Schimpansen.

aus scinexx


Langzeitgedächtnis hilft Schimpansen bei der Futtersuche
Auf der Suche nach ertragreichen Obstbäumen im Regenwald erinnern sich Schimpansen an Vergangenes

Wohin begeben sich Schimpansen, deren Lieblingsobstbaum leer gefressen ist, wenn sie nicht wissen, welche anderen Bäume bereits Früchte tragen? Ein internationales Forscherteam vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig hat untersucht, wie Schimpansen auf der Suche nach Früchten besonders ertragreiche Bäume finden. Die Tiere benutzen dafür ihr Langzeitgedächtnis.

Für ihre Studie haben die Forscher im Taï-Nationalpark an der Elfenbeinküste das Verhalten von fünf weiblichen Schimpansen über Zeitabschnitte von jeweils vier bis acht Wochen kontinuierlich aufgezeichnet. Insgesamt umfassen die Aufzeichnungen 275 komplette Tage, die über mehrere Fruchtsaisons verteilt waren. Die Auswertung der Daten ergab, dass Schimpansen besonders stattliche Bäume einer Art als Nahrungsquelle bevorzugen, vor allem dann, wenn deren Früchte ihren typischen Geruch ausströmen. Interessanterweise besuchen sie diese größeren Bäume auch dann häufiger, wenn sie gerade keine Früchte tragen, die Inspektion also nicht durch die Geräusche fallender Früchte oder deren Geruch ausgelöst wird.

Was ist wo?

Die Wissenschaftler haben darüber hinaus herausgefunden, dass Schimpansen während ihrer Reise durch den Regenwald zwar die meisten Bäume prüfen, aber nur etwa 13 Prozent der Bäume zielgerichtet ansteuern. Dieses gezielte Vorgehen wird nicht durch visuelle Reize ausgelöst und kommt hauptsächlich dann vor, wenn Weibchen den Wald zur Nahrungssuche allein durchstreifen und sich vergleichsweise großen Bäumen gegenüberfinden. Die Ergebnisse zeigen, dass sich die Tiere bei ihren Inspektionen von ihrem “Was-ist-Wo”-Gedächtnis zur Lage stattlicher Obstbäume leiten ließen. Für dieses Ergebnis analysierten die Forscher, welche von fast 16.000 potenziellen Obstbäumen die Schimpansen tatsächlich aufsuchten.

Die Forscher beobachteten ein Schimpansenweibchen drei aufeinander folgende Jahre lang und stellten fest, dass es sich an ihre Nahrungsaufnahme aus vergangenen Fruchtsaisons erinnern konnte. Langjährige Monitoring-Daten zur jahreszeitlichen Entwicklung individueller Bäume haben ergeben, dass das Intervall zwischen aufeinanderfolgenden Fruchtsaisons zwischen zwei Monaten und drei Jahren variieren kann. Für mindestens denselben Zeitraum müssen die Schimpansen also in der Lage sein, sich zurück zu erinnern.

Erinnerungsvermögen ist kein Gegensatz zwischen Mensch und Tier

„Unsere Studie zeigt erstmalig, dass unsere nächsten Verwandten auf der Suche nach neu produzierten tropischen Früchten ihr Langzeitgedächtnis verwenden“, sagt Karline Janmaat vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie. „Sie erinnern sich also an die vergangene Nahrungsaufnahme, lange nachdem die Bäume abgeerntet worden sind.“ Ihr Kollege Christophe Boesch fügt hinzu: „Lange Zeit wurde behauptet, dass sich Tiere im Gegensatz zum Menschen nicht an Vergangenes erinnern können. Unsere Studie belegt, warum Schimpansen und andere Primaten sich über einen längeren Zeitraum hinweg an Ereignisse erinnern müssen, und dass sie das tatsächlich tun.“

(Max-Planck-Gesellschaft, 24.10.2013 - AKR)

Langzeitgedächtnis: Selegieren und komprimieren.

aus derStandard.at, 20. Oktober 2013, 20:19

"ZIP-Dateien" im Gehirn spielen wichtige Rolle für Langzeitgedächtnis
Wiener Wissenschafter klärten wesentlichen Mechanismus für Merkfähigkeit

Wien/Oxford - Erst wenn Gespeichertes im Gehirn oftmals in Erinnerung gerufen wird, wird es sicher im Langzeitgedächtnis verankert. Dieses Wiederholen kann auch unbewusst im Schlaf erfolgen. Wissenschafter des Zentrums für Hirnforschung der MedUni Wien haben gemeinsam mit Kollegen aus Oxford in Großbritannien dazu jetzt einen wichtigen Mechanismus klären können: Das Abspielen von komprimierten Informationsinhalten im Tiefschlaf wird durch einen speziellen Neuronentyp in Gang gesetzt.

"Es gibt bei der EEG-Ableitung (Messung der Gehirnströme; Elektroenzephalogramm; Anm.) im Tiefschlaf das Phänomen von sogenannten Ripple-Komplexen. Das sind hochfrequente Hirnwellen, die nur eine Zehntelsekunde dauern", sagte Thomas Klausberger, einer der Studienautoren. Die Ergebnisse der wissenschaftlichen Arbeiten wurden vom Fachjournal "Nature Neuroscience" publiziert.

Rasches Abspielen von Erinnerungen

Die Wissenschafter fanden nun heraus, dass diese hochfrequenten Wellen von einem ganz speziellen Neuronentyp, den Axo-axonischen Zellen, initiiert werden. Diese Axo-axonischen Zellen wirken dämpfend auf die Aktivität im Gehirn. Im Tiefschlaf können sie allerdings plötzlich und konzertiert ihre Dämpfung für kurze Zeit stoppen. Dadurch starten sie die hochfrequenten Ripple-Komplexe und das rasche Abspielen von Informationen. Dieser Vorgang erfolgt aber in komprimierter Form, man könnte sich das wie ZIP-Dateien in der EDV vorstellen.

Die Wiener Wissenschafter wollen auf den nun publizierten Erkenntnissen aufbauend klären, welche der unzähligen vorhandenen Informationen vom Gehirn als relevant ausgewählt, zu "ZIP"-Dateien verpackt und ins Langzeitgedächtnis überführt werden. Möglicherweise spielt dabei auch das Dopamin-System eine Rolle. (APA/red)

Mittwoch, 23. Oktober 2013

Bewusst und unbewusst.

aus derStandard.at, 22. Oktober 2013, 23:54                                                                                                     Brigitte Kreuzwirth  / pixelio.de

Der bewussten Informations-Verarbeitung im Gehirn auf der Spur
Neurowissenschafter der Universität Tübingen untersuchen die Verarbeitung visueller Reize im Gehirn

Nur ein sehr kleiner Teil jener Information, die unser Hirn verarbeitet, wird von uns bewusst wahrgenommen. Der Rest läuft gleichsam ohne unsere Wahrnehmung im Hintergrund ab. Wo der genaue Unterschied zwischen bewusster und unbewusster Informationsverarbeitung im Gehirn liegt, ist den Neurowissenschaftern noch weitgehend unklar. Mit aktuellen Untersuchungs-Ergebnissen sind Forscher von der Universität Tübingen des Rätsels Lösung nun einen Schritt näher gekommen.
 
In ihrer Arbeit nutzten die Wissenschafter bei ihren Experimenten mit Probanden eine visuelle Illusion, die als "binokulare Rivalität" bekannt ist. Damit lassen sich visuelle Reize unsichtbar machen. Normalerweise sehen beide Augen das gleiche Bild. Binokulare Rivalität entsteht, wenn den Augen verschiedene Bilder gezeigt werden. Dann kann sich das Gehirn zwischen den Alternativen nicht entscheiden, und unsere Wahrnehmung wechselt im Zeitraum von mehreren Sekunden zwischen dem einen und dem anderen Bild ab. Die beiden Bilder sind dann "Rivalen" im Zugang zum Bewusstsein.
 
Diesen Ansatz nutzten die Forscher, um Wahrnehmungswechsel zwischen einem sich bewegenden visuellen Reiz und einem statischen Bild im Bewusstsein der Versuchsteilnehmer herbeizuführen. Gleichzeitig setzten sie Magnetimpulse ein, um gezielt die Vorgänge in einem Hirnareal zu stören, das spezifisch für die Verarbeitung visueller Bewegung verantwortlich ist.
 
Unerwartetes Ergebnis
 
"Das Ergebnis hatten wir nicht erwartet: Die Magnetimpulse im Bewegungsareal hatten keinen Einfluss auf die Wahrnehmungsdauer des bewegten Reizes. Stattdessen verlängerte sich die Wahrnehmungsdauer des statischen Bildes", berichtet Natalia Zaretskaya vom vom Centrum für Integrative Neurowissenschaften.
 
Während der Phasen, in denen der bewegte Reiz unbewusst verarbeitet wurde, hinderten die Störimpulse im Bewegungsareal den Bewegungsreiz daran, ins Bewusstsein zu gelangen. Dagegen hatten die störenden Magnetimpulse aber keinen Effekt, während der bewegte Reiz bewusst verarbeitet wurde.
 
Bewusste neuronale Verarbeitung stabiler
 
"Dieses Ergebnis zeigt, dass es einen beträchtlichen Unterschied zwischen der bewussten und der unbewussten Bewegungsverarbeitung im Hirn gibt", sagt Andreas Bartels, Koautor der in der Fachzeitschrift "Current Biology" veröffentlichten Studie. Eine Bewegung, die unbewusst bleibt, kann in ihrer neuronalen Verarbeitung leicht gestört werden. Sie hat Schwierigkeiten, im Wettbewerb gegen ein rivalisierendes Bild die Oberhand zu gewinnen. Aber sobald der Bewegungsreiz das Bewusstsein erreicht, wird seine Verarbeitung offenbar widerstandsfähiger gegenüber äußeren Störeinflüssen. Eine Eigenschaft der bewussten neuronalen Verarbeitung scheint daher eine stabilere und weniger störungsanfällige Repräsentation der Reize zu sein. Das werfe die Frage auf, wie diese neuronale Stabilität erreicht wird, so die Wissenschafter. (red, derStandard.at)



Abstract
Current Biology: Perceptual effects of stimulating V5/hMT+ during binocular rivalry are state specific



Nota

Aber was den Unterschied zwischen bewusst und unbewusst ausmacht, wissen wir nun um keinen Deut besser. J.E.

Dienstag, 22. Oktober 2013

Die Erinnerung bewirtschaften.

aus scinexx

Antiallergikum reduziert negative Erinnerungen
Ziele für erinnerungsverändernde Medikamente können durch Genom-Analyse gefunden werden

Es klingt nach unheimlicher Science fiction: Man schluckt eine Pille, und die Erinnerungen verblassen. Neuropsychiatrische Krankheiten wie posttraumatische Belastungsstörung ließen sich damit behandeln oder ganz verhindern. Schon bald könnten solche Medikamente tatsächlich entwickelt werden. Ein Team von Wissenschaftlern in der Schweiz hat nun in den "Proceedings of the National Academy of Sciences" eine Studie veröffentlicht, die eine solche Möglichkeit beschreibt.

Die Idee, nicht nur die Symptome, sondern die Ursachen von posttraumatischem Stress mit Medikamenten zu behandeln, ist an sich nicht neu. Die posttraumatische Belastungsstörung entsteht aus besonders traumatischen negativen Erinnerungen. Amerikanische Wissenschaftler haben bereits vor Jahren in Mäusen ein Enzym gefunden, das gewissermaßen die Erinnerungen an Ängste speichert. Fehlt dieses Enzym oder wird es gehemmt, verringert sich die Angst.

Mindestens 20 Gene beeinflussen negative Erinnerungen

Um weitere solcher Mechanismen zu entdecken und mit Medikamenten gezielt anzusteuern, untersuchte das Team um Andreas Papassotiropoulos und Dominique de Quervain von der Universität Basel genetische Daten von über 2.500 Freiwilligen. Sie interessierten sich dabei besonders für Gene, die beim Erwerb negativer Erinnerungen wichtig sind. 20 solcher Gene identifizierten die Forscher schließlich mit einem komplizierten Algorithmus in einer auf Gen-Netzwerken basierenden Analyse. Das Produkt jedes dieser Gene könnte ein Ziel für neue oder bereits existierende Medikamente sein, mit denen das negative Erinnerungsvermögen beeinflusst werden kann.


Ob sich durch diese Art der Genomanalyse tatsächlich Ansatzstellen für eine solche Therapie finden lassen, überprüfte die Gruppe aus Schweizern und Deutschen mit einer klinischen Studie. Als Ziel wählten sie aus den 20 gefundenen Genen den Histamin-1-Rezeptor, codiert im Gen HRH1. Dieser ist bereits als Ziel für antipsychotische und antiallergene Medikamente bekannt..

Klinische Studie soll Konzept bestätigen

Das in der Schweiz zugelassene und in Apotheken erhältliche Diphenhydramin bindet an diesen Rezeptor und diente daher als Beispielmedikament für die Studie. Diphenydramin ist ein verbreitetes Antiallergikum und überwindet außerdem die Blut-Hirn-Schranke. In Deutschland wird es weniger gegen Allergien verwendet, sondern vor allem als Beruhigungsmittel und gegen Übelkeit. Es ist außerdem verschreibungspflichtig. Es gab bisher noch keine Untersuchungen darüber, wie sich Diphenhydramin auf das Erinnerungsvermögen auswirkt.

An der klinischen Studie nahmen 40 Freiwillige teil. Sie bekamen entweder eine Dosis Diphenhydramin oder ein Placebo verabreicht und bekamen danach Bilder vorgelegt, die negative, positive oder neutrale Assoziationen wecken sollten. Im Anschluss mussten sie die Inhalte dieser Bilder beschreiben und bewerten. Diejenigen Probanden, die Diphenhydramin erhalten hatten, konnten sich deutlich weniger an negativ assoziierte Bilder erinnern als die Kontrollgruppe. Das Erinnerungsvermögen für positive und neutrale Inhalte blieb dabei unverändert.

Unterdrücktes Erinnerungsvermögen lässt auf Therapie hoffen

Nach Ansicht der Forscher könnte dieses Ergebnis für die Behandlung der posttraumatischen Belastungsstörung von Bedeutung sein. Eine tatsächliche Therapie ergibt sich daraus jedoch noch lange nicht. Die Studie untersuchte lediglich den Effekt auf die während der Wirkungsdauer des Medikaments gesammelte Erinnerungen. Ob sich Erinnerungen auch rückwirkend beeinflussen lassen, ist noch unklar.

Die Forscher konnten mit dieser Studie allerdings erstmals zeigen, dass mit Hilfe genetischer Untersuchungen Zielmechanismen und geeignete Medikamente gefunden werden können. "Die rasante Entwicklung von innovativen genetischen Analysemethoden hat diesen neuen und viel versprechenden Ansatz ermöglicht", so Papassotiropoulos. Viel versprechend sind dabei vor allem die Daten aus dem Human-Genom-Projekt, das im letzten Jahrzehnt eine Fülle an Erkenntnissen über die genetische Grundlage von Erkrankungen geliefert hat. Vorteilhaft ist, dass diese Daten direkt vom Menschen kommen. Bislang ist die Entwicklung von Medikamenten gegen neuropsychiatrische Erkrankungen auf Tiermodelle angewiesen.

Nächster Schritt sind gedächtnisverbessernde Medikamente

Basierend ihrem genombasierten Forschungsansatz zur Entdeckung neuer Medikamente haben de Quervain und Papassotiropulos dieses Jahr eine eigene Firma gegründet. Nach der Manipulation des Erinnerungsvermögens planen sie nun weitere Studien mit ähnlich futuristischen Zielen: "In einem nächsten Schritt versuchen wir, gedächtnisverbessernde Medikamente zu identifizieren und zu entwickeln", sagt de Quervain. Das hört sich wie ein Vorstoß in den viel diskutierten Bereich des Hirndopings an. Die Forscher erhoffen sich davon allerdings neue Impulse für die Entwicklung von besseren Medikamenten gegen neuropsychiatrische Erkrankungen.
(PNAS, 2013; doi: 10.1073/pnas.1314478110)

(Universität Basel, 22.10.2013 - AKR)

Montag, 21. Oktober 2013

Büchner, Hirnforscher.

aus NZZ, 19. 10. 2013                                        aus einem französischen Anatomie-Traktat von 1786.

«Wir müssten die Gedanken aus den Hirnfasern zerren»
Georg Büchner als Hirnforscher und Anatom.  


Von Michael Hagner 

Als Dichter sezierte Georg Büchner die menschliche Gesellschaft und Psyche, als Naturforscher nahm er sich das Gehirn vor: Das der Barbe sollte Aufschluss auch über das des Menschen geben.

Im Juni 1836 schrieb Karl Gutzkow an Georg Büchner, der seine Doktorarbeit über das Nervensystem der Barbe gerade abgeschlossen hatte und seinen Umzug von Strassburg nach Zürich vorbereitete: «Seien Sie nicht ungerecht gegen dies Studium [der Medizin]; denn diesem scheinen Sie mir Ihre hauptsächliche Force zu verdanken, ich meine, Ihre seltene Unbefangenheit, fast möcht' ich sagen, Ihre Autopsie, die aus allem spricht, was Sie schreiben.» Die von Gutzkow diagnostizierte Autopsie bedeutet, die Dinge selbst in Augenschein zu nehmen und, mehr noch, mit dem anatomischen oder dem literarischen Skalpell ins Fleisch des Körpers oder der Gesellschaft zu schneiden, um die unter der Oberfläche verborgenen Ursachen der Phänomene hervorzukehren. So gesehen war Büchner ein Anatom in doppelter Hinsicht. Und der einzige anatomische Gegenstand, dem er sich in seinem kurzen Leben widmen konnte, das Gehirn, steht nicht nur im Zentrum seiner Dissertation und seiner Zürcher Probevorlesung «Über die Schädelnerven», sondern taucht auch an einigen wenigen, jedoch eklatanten Stellen seiner Dramen auf.

Der Hintergrund

Den Zusammenhang von Büchners anatomischen und literarischen Hirnsektionen zu verstehen, setzt voraus, sie vor dem Hintergrund der Hirnforschung des frühen 19. Jahrhunderts zu betrachten, die zwei grundlegend unterschiedliche Zugänge zum Verständnis des Gehirns erlaubte. Der eine ging von der am höchsten entwickelten Form aus, also vom menschlichen Gehirn. Repräsentativ dafür war die damals verbreitete Hirnlehre von Franz Joseph Gall, die eine erste psychologisch motivierte Lokalisationstheorie darstellte und in ihren Grundannahmen bis zum heutigen Tag in den Neurowissenschaften Gültigkeit hat. Sie besagt, dass die verschiedenen kognitiven, emotionalen und triebhaften Qualitäten des Menschen ihren Sitz und Ursprung im Gehirn haben. Demzufolge wird das Gehirn im Hinblick auf diese verschiedenen funktionalen Regionen untersucht. Das wäre, wenn man so will, ein Top-down-Ansatz.


Beim zweiten Ansatz ging man von den einfachsten Strukturen des Nervensystems aus und untersuchte, darauf aufbauend, komplexere Strukturen, bis man dann irgendwann beim menschlichen Gehirn ankam. Das war der Weg, den romantische Naturforscher wie Carl Gustav Carus und vor ihm bereits Lorenz Oken gewählt hatten. Beide stellten für Büchner den Ausgangspunkt seiner eigenen Forschungen dar. Oken äusserte kurz nach 1800, als er Professor in Jena wurde, den provozierenden und revolutionären Satz: «Der Mensch ist ein Wirbelbein.» Damit wollte er programmatisch verdeutlichen, dass die Entwicklung vom Einfachen hin zum Komplexen stattfindet - und wenn man dieses verstehen will, muss man bei jenem beginnen. Das wäre der Bottom-up-Ansatz.

Büchner hat in seinen Hirnlektionen beide Wege beschritten: In der Anatomie geht er den Weg von unten nach oben. Er beschränkt sich auf das einfache Gehirn der Barbe - eines Süsswasserfisches, der auch den Rhein bevölkerte und damit leicht zu beschaffen war - und hofft, auf diesem Wege vielleicht irgendwann zum Verständnis des menschlichen Gehirns vorzudringen. In der Dichtung beschreitet er den umgekehrten Weg von oben nach unten. Damit ist nicht gemeint, das tierische Gehirn lasse sich vom menschlichen Gehirn aus erschliessen, doch sobald Büchner von diesem redet, geht es um Brutalität und Bestialität des menschlichen Geistes, also Eigenschaften, die in der Logik des 19. Jahrhunderts - auch vor Darwin - mit einer tierischen Natur assoziiert wurden. Büchner hing dieser Logik nicht unbedingt an, aber gemeinsam mit dem naturphilosophischen Entwicklungsgedanken bildete sie den Rahmen für seine Beschäftigung mit dem Gehirn.

Den Maximalanspruch der Hirnforschung hat Büchner gleich in seinem ersten Stück, «Dantons Tod», thematisiert. In einer so bekannten wie rabiaten Formulierung schlägt er vor, Gedanken direkt am Ort ihrer Entstehung zu fassen: «Wir müssten uns die Schädeldecken aufbrechen und die Gedanken einander aus den Hirnfasern zerren.» Danton, dem Büchner diesen Satz in den Mund legt, reagiert mit der Forderung auf die Vergeblichkeit der Versuche, einen anderen Menschen wirklich zu kennen: Das Authentische findet sich nicht in den Worten und Blicken, Gesten und Taten, sondern nur im Gehirn selbst; als ob sich die Gedanken in der Hardware befänden und, wenn sie tatsächlich da wären, auch noch verstehen liessen; als ob die Hirnfasern, die jenseits von Gut und Böse, Lüge und Wahrheit sind, Auskunft über Gedankeninhalte geben könnten.

Büchners martialische Hirnanatomie lässt sich auf drei Ebenen betrachten, nämlich einer vivisektorischen, einer topografischen und einer utopischen. Die gewalttätige Schädelöffnung passt zur Schreckensherrschaft der Guillotine während der Französischen Revolution, aber die Forderung danach war älter. Schon Mitte des 18. Jahrhunderts hatte Pierre-Louis Moreau de Maupertuis, Aufklärer, Philosoph und Mathematiker, gefordert, vivisektorische Experimente am Gehirn von zum Tode verurteilten Kriminellen vorzunehmen. Dem kamen die Praktiken unter der Guillotine nach 1793 ziemlich nahe, denn ausgehend von der Frage, ob es sich hierbei um eine humane Beförderung vom Leben in den Tod handle, führten Ärzte galvanische Experimente an frisch guillotinierten Köpfen durch, um zu untersuchen, ob in diesen Köpfen noch Bewusstsein und Schmerzempfinden vorhanden waren. Damit war die Guillotine vielleicht nicht der «beste Arzt», wie es in «Dantons Tod» heisst, aber doch Teil eines Experimentalaufbaus, der sich den Zusammenhang von Gehirn und Geistesleben in vivo vornahm.

«Unsterblichste Experimente»

Büchner kommt auf ein vergleichbares Szenario im «Woyzeck» noch einmal zurück, wenn er den Doktor zum Hauptmann sagen lässt, dieser werde in Kürze einen Schlaganfall erleiden. Für den gnadenlosen Experimentator, der Woyzeck monatelang mit Erbsen fütterte, eröffnet das die schönsten Aussichten: «Wenn Gott will, dass Ihre Zunge zum Teil gelähmt ist, so machen wir die unsterblichsten Experimente.» An Zynismus ist das kaum zu überbieten, denn so, wie ein guillotinierter Kopf nicht mehr sagen kann, wie es ist, nur noch Kopf zu sein, kann auch ein durch Schlaganfall an motorischer Aphasie oder Sprachlähmung leidender Hauptmann nicht mehr berichten, welche «unsterblichsten Experimente» mit ihm angestellt wurden. Wo im 19. Jahrhundert ist der furchterregende Zusammenhang von Gehirn, Geist und Vivisektion klarer und präziser formuliert worden als in diesen wenigen Sätzen aus «Woyzeck» und «Dantons Tod»?

Die zweite Betrachtungsebene gilt der topografischen Annäherung an den Ort der Gedankenentstehung. Für die Hirnforschung jener Zeit war es selbstverständlich, Denken, Erleben und Empfinden an spezifische Vorgänge im Gehirn zu koppeln. Es ist unklar, wie gut Büchner mit der Hirnlehre Galls vertraut war, aber jedenfalls teilte er dessen psychologisch motiviertes Anliegen, den Menschen nicht mehr als göttliches Wesen anzusehen, sondern in seinen alltäglichen Verhaltensweisen zu verstehen. Die illusionslosen Psychografien des Dichters und Galls materialistische Hirnpsychologie ergänzen einander vortrefflich. Wenn Danton die Frage stellt: «Was ist das, was in uns lügt, hurt, stiehlt und mordet?», dann konnte er sie 1794, also zu dem Zeitpunkt, da das Drama spielt, so nicht beantworten. Wenige Jahre später gab Gall folgende Antwort: Es ist die spezifische Konstellation unserer Hirnorgane.

Natürlich gab es damals auch andere Antwortmöglichkeiten, aber in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts war Galls Antwort die naheliegendste und populärste. Dass Büchner die Frage zuerst in dem sogenannten Fatalismusbrief an seine Verlobte richtete - und einer möglichen Antwort sogleich auswich -, verführt zumindest zu der Annahme, dass er dabei die phrenologische Lehre und ihre Konsequenzen im Hinterkopf hatte. Man könnte auch umgekehrt sagen: Ohne Galls Hirnlehre hätte Büchners Frage auf diese Weise gar nicht formuliert werden können.

«Urgesetz der Schönheit»

Kommen wir schliesslich zur utopischen Dimension der Forderung, die Verknotung von Gedanke und Hirnfaser aufzulösen. In dieser Hinsicht übersteigt Büchner den anthropologischen Anspruch der damaligen Hirnforschung, denn nicht einmal Gall ging so weit, durch einen Blick ins lebende Gehirn für jeden Gedanken und jedes Gefühl das genaue zerebrale Korrelat erfassen zu wollen. Eine Faser, ein Gedanke. Was sich einerseits wie ein halsbrecherischer Ausblick auf die Neurowissenschaften des frühen 21. Jahrhunderts verstehen lässt, die mit den Mitteln digitaler Bildgebung versuchen, die Gedanken durch die Messung zerebraler Aktivitäten zu decodieren, hat andererseits historische Bezüge, die bis ins späte 18. Jahrhundert zurückreichen. Zu jener Zeit nämlich nahm der Sensualismus an, dass es für jeden einzelnen Sinneseindruck eine spezifische Hirnfaser gebe. Nach diesem Verständnis war das Gehirn ein Konglomerat aus zahllosen Fasern, die nach und nach mit Sinneseindrücken aufgefüllt wurden. Diese Theorie wurde von der zunehmend empirisch orientierten Hirnforschung erst einmal nicht weiterverfolgt, doch genau zu der Zeit, als Büchner sich literarisch und anatomisch mit dem Gehirn beschäftigte, hielt die Nervenfaser Einzug in die Hirnforschung.

1836, ein Jahr nach der Veröffentlichung von «Dantons Tod», publizierte der Breslauer Anatom Gustav Gabriel Valentin eine bahnbrechende Abhandlung, in der er die Struktur des Nervensystems auf Zellen und auf Fasern zurückführte. Mit diesen beiden anatomischen Strukturen glaubte er den Urtypus gefunden zu haben, der das Nervensystem aller Lebewesen ausmacht. Es spricht nichts dafür, dass Büchner Valentins Arbeit noch zur Kenntnis nehmen konnte, aber zweifellos hätte er sie in ihrem naturphilosophischen Anspruch begrüsst, den Aufbau des Gehirns «als Manifestation eines Urgesetzes, eines Gesetzes der Schönheit, das nach den einfachsten Rissen und Linien die höchsten und reinsten Formen hervorbringt», zu verstehen. Diese Worte könnten von Valentin stammen, sind aber von Büchner, der fortfährt: «Alles, Form und Stoff ist für sie [die philosophische Methode] an dieses Gesetz gebunden.»

In der Zürcher Probevorlesung gewährte der angehende Privatdozent sich einen ästhetischen Blick auf den Organismus und so auch auf das Gehirn, wenn er von den «schönsten und reinsten Formen im Menschen» sprach und von der «Vollkommenheit der edelsten Organe, in denen die Psyche fast den Stoff zu durchbrechen und sich hinter den leichtesten Schleiern zu bewegen scheint». Natürlich, das ist auch Rhetorik, werbend um das Publikum, insbesondere um den berühmten Lorenz Oken, der damals als erster Rektor der Universität Zürich wohl mit im Auditorium sass. Doch Büchners Worte sind völlig kompatibel mit seinem Forschungsprogramm, das eben den langen Weg von den einfachsten hin zu den komplexesten Nervensystemen beschreitet.

Der Kontrast könnte kaum grösser sein. Wenn Büchner als Anatom sagt: «Es dürfte wohl immer vergeblich bleiben gerade bey der verwickeltsten Form, nämlich bey dem Menschen anzufangen», dann fängt er als Dichter genau beim menschlichen Gehirn an. Wenn in den anatomischen Schriften, im naturphilosophischen Tonfall, das Gehirn als Insel der Harmonie beschrieben wird, so erscheint es in den Dichtungen als Schlachtfeld, auf dem sich Brutalität und Bestialität austoben.

Es wäre zu billig, das mit der spekulativen Freiheit begründen zu wollen, die sich der Dichter gegenüber dem Naturforscher erlauben darf. Erstens war auch Büchners Hirnanatomie nicht frei von Spekulationen, und zweitens bezog sich auch seine Hirndichtung auf manifeste historische Ereignisse und Ansichten, in denen das Gehirn seit dem späten 18. Jahrhundert zu einem wissenschaftlichen, politischen und kulturellen Gegenstand geworden war. Insofern ist es angemessener, von zwei Perspektiven auszugehen, die die Oszillation des Gegenstands Gehirn zwischen Erkenntnis und ästhetischer Betrachtung, Neugier und Obsession sichtbar werden lassen. Büchner hat als einer der Ersten bemerkt, dass die Beschäftigung mit dem Gehirn nicht unschuldig sein kann. Von dieser Irritation, die auch heute noch den Blick auf das Gehirn bestimmt, handeln Büchners Hirnlektionen.

Prof. Dr. Michael Hagner lehrt Wissenschaftsforschung an der ETH Zürich. Er hat mehrere Bücher zur Geschichte der Hirnforschung verfasst. Kürzlich ist der von ihm herausgegebene Sammelband «Wissenschaft und Demokratie» (bei Suhrkamp) erschienen.

LEBEN UND WERK
 
rbl. · Georg Büchner wird am 17. Oktober 1813 in Goddelau bei Darmstadt geboren. Ab 1821 besucht er die Schulen in Darmstadt. 1831 immatrikuliert er sich an der medizinischen Fakultät in Strassburg. Hier verlobt er sich 1833 mit Wilhelmine Jaeglé, danach Rückkehr nach Darmstadt und Fortsetzung des Studiums in Giessen. Mitte März 1834 schreibt Büchner den Entwurf zum «Hessischen Landboten», dessen Verbreitung im Juli bei einem konspirativen Treffen beschlossen wird. 1200 Exemplare der Flugschrift werden in Offenbach gedruckt. Nach der Verhaftung eines Mitverschworenen warnt Büchner die übrigen Beteiligten und wird seinerseits zu Verhören vorgeladen. Im Januar 1835 beginnt Büchner mit der Reinschrift von «Dantons Tod», im März flieht er nach Strassburg. 1836 arbeitet Büchner zunächst an seiner Dissertation über das Nervensystem der Barbe und danach am Lustspiel «Leonce und Lena» sowie an Entwürfen für «Woyzeck». Im Herbst 1836 reist er nach Zürich, hält hier eine Probevorlesung und wird als Privatdozent an der Universität zugelassen. Am 2. Februar 1837 erkrankt Büchner an Typhus und stirbt am 18. Februar, am Tag nach der Ankunft seiner Verlobten.