Die erste Mobilmachung der Wissenschaft
Der Tod kam in den Abendstunden des 22. April 1915 lautlos, in Form einer ziemlich großen Wolke. Deutsche Truppen hatten unter technischer Leitung des Chemikers Fritz Haber nahe der belgischen Kleinstadt Ypern 150 Tonnen Chlorgas freigesetzt. Die sechs Kilometer breite und rund 600 Meter lange Giftwolke trieb auf die französischen Truppen zu.
Die Folgen dieses ersten Giftgaseinsatzes der Geschichte waren dramatisch: Mehr als tausend Soldaten der Alliierten starben qualvoll, noch sehr viel mehr wurden schwer verletzt. Die sofort nachfolgende deutsche Offensive wurde zum Triumph.
Triumph und Tragödie
In Deutschland wurde das Giftgasmassaker prompt als "Tag von Ypern" gefeiert, sogar die Physikerin Lise Meitner gratulierte "zu dem schönen Erfolg". Clara Immerwahr hingegen, die erste Chemikerin Deutschlands und Ehefrau Habers, beging wenige Tage später mit der Dienstwaffe ihres Mannes aus Scham Selbstmord - kurz nachdem der deutsche Kaiser den Chemiker vom Vizewachtmeister zum Hauptmann befördert hatte. Als seine Frau begraben wurde, war Haber bereits in Galizien, um weitere Giftgaseinsätze vorzubereiten.
Die Ypernschlacht vom 22. April 1915 ging nicht nur als der erste Giftgasangriff in die Geschichte ein. Sie trug auch mit dazu bei, dass der Erste Weltkrieg von Historikern im Nachhinein zum "Krieg der Chemie" erklärt wurde. Und der erste Einsatz von Chemiewaffen ist zugleich auch eines der besten Beispiele, wie sich in diesem Krieg erstmals Forscher systematisch mobilisieren ließen, um ihr Wissen in den Dienst des Tötens zu stellen.
Zwar hatten sich Wissenschafter zu allen Zeiten vom Militär einspannen lassen. Schon Archimedes hat angeblich vor mehr als zwei Jahrtausenden Pläne für ein gigantisches Katapult gezeichnet, das Kriegsschiffe der Römer zerstören sollte. Leonardo da Vinci zeigte sich vor 500 Jahren dem Fürsten von Mailand erbötig, Kriegsgeräte zu konstruieren. Und ganze Disziplinen wie die Ballistik entstanden aus einer Allianz zwischen dem Militär und der Gelehrtenwelt - schließlich ging es im Wesentlichen darum, die Flugbahnen von Kanonenkugeln zu berechnen.
Trotz dieser Beispiele spielte die Forschung bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts für die Kriegsführung nur eine Nebenrolle. Mit dem Ersten Weltkrieg wurde die Wissenschaft umso wichtiger. Der Giftgasangriff von Ypern war dabei noch nicht einmal der erste Großeinsatz von Chemikern im Dienste des Völkermordens. Ohne sie wären der deutschen Armee schon wenige Monate nach Kriegsbeginn der Sprengstoff und die Munition ausgegangen, weil der dafür nötige Salpeter aus Chile nicht mehr importiert werden konnte.
Salpeter für Sprengstoffe
Doch die Forscher um Fritz Haber und seinen Kollegen Carl Bosch wussten einen Ausweg: Haber war es einige Jahre vor dem Krieg gelungen, Ammoniak aus Wasser und Luft zu synthetisieren, ab 1913 wurde das sogenannte Haber-Bosch-Verfahren großindustriell zur Düngemittelproduktion verwendet. Als absehbar war, dass Salpeter knapp würde, rüstete man um und produzierte stattdessen Salpeter für Sprengstoffe, um so eine Fortsetzung des Krieges nach 1915 sicherzustellen.
Die Ammoniaksynthese forderte damit indirekt sehr viel mehr Opfer als der Einsatz von Gaskampfstoffen, der nur zu Beginn des Kriegs grauenvoll effektiv war. Da die Heere einander bald in Gasmasken gegenüberstanden, starben bis Kriegsende "nur" 90.000 Soldaten vor allem an Phosgen-Vergiftungen. Eine Million wurde vom Giftgas verletzt.
Die Selbstmobilisierung der Chemiker war freilich nicht der einzige Beitrag der Wissenschafter und Ingenieure zum Ersten Weltkrieg. Viele neue technische Errungenschaften wurden nach 1914 zum Einsatz gebracht: U-Boote samt Torpedos ebenso wie Flugzeuge und nicht zuletzt Panzerfahrzeuge, die den Briten halfen, deutsche Stellungen zu durchbrechen.
Das meiste davon ist international gut erforscht. Erstaunlich wenig weiß man jedoch über die Wechselwirkungen zwischen Technik, Forschung und Gesellschaft in den letzten Jahren der Habsburgermonarchie, wie Juliane Mikoletzky und Wolfgang Reiter erklären. Die beiden haben aus diesem Grund ein Symposion der Ignaz-Lieben-Gesellschaft mitorganisiert, das am 14. und 15. November an der TU Wien eben diesen Querverbindungen in Österreich-Ungarn im Ersten Weltkrieg nachgehen wird.
Der Physiker und Wissenschaftshistoriker Reiter hat trotz der noch eher dünnen Faktenlage den Eindruck, dass Österreich-Ungarn rund um 1914 in Sachen Technologie ein Innovationsnachzügler war. Grund dafür seien vor allem einige strukturelle Unterschiede zu Deutschland gewesen, wo man 1911 mit Unterstützung der Industrie die au- ßeruniversitäre Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (KWG; heute: Max-Planck-Gesellschaft) gegründet hatte. An einem der KWG-Institute arbeitete auch Fritz Haber mit Unterstützung der Industrie an anwendungsnahen Projekten.
"Eine Einrichtung wie die KWG hat in Österreich gefehlt", sagt Juliane Mikoletzky, "und die Hochschulen sind noch nicht so stark auf Forschung ausgerichtet gewesen." Gleichwohl sei auch in Österreich etwa in Sachen Flugzeugbau oder auch für die Kriegsmarine hektisch geforscht worden.
Reiter und Mikoletzky sind sich auch darin einig, dass der Erste Weltkrieg eine Art "Inkubationsphase" für neue Formen der Kooperation zwischen Wissenschaft, Industrie und Militär gewesen sei, die sich erst nach dem Krieg auswirkten. So sind an der Technischen Hochschule Wien nach 1918 wohl auch aufgrund der Kriegserfahrungen Unterabteilungen für technische Physik sowie für Gas- und Feuerungstechnik eingerichtet worden.
Nobelpreisträger für Chemie
Und wie ging es mit Fritz Haber nach dem Krieg weiter? Ein Jahr nach Kriegsende erhielt er den Chemienobelpreis für die Ammoniaksynthese und versuchte bis 1925 erfolglos, Gold aus dem Meerwasser zu extrahieren, um damit die deutschen Reparationsschulden zu bezahlen. Daneben war der Chemiker kurz Reichskommissar für Schädlingsbekämpfung und entwickelte Vergasungsmittel für Ungeziefer.
Eines davon hieß "Zyklon B" und ging aus ganz anderen Gründen in die Geschichte ein. Haber musste wegen seiner jüdischen Herkunft 1933 emigrieren und starb 1934 in der Schweiz.
Der
Erste Weltkrieg wird auch als der "Krieg der Chemie" bezeichnet: Vor
allem in Deutschland boten Wissenschafter ihre Errungenschaften dem
Militär an und trugen damit zum großen Sterben bei
Der Tod kam in den Abendstunden des 22. April 1915 lautlos, in Form einer ziemlich großen Wolke. Deutsche Truppen hatten unter technischer Leitung des Chemikers Fritz Haber nahe der belgischen Kleinstadt Ypern 150 Tonnen Chlorgas freigesetzt. Die sechs Kilometer breite und rund 600 Meter lange Giftwolke trieb auf die französischen Truppen zu.
Die Folgen dieses ersten Giftgaseinsatzes der Geschichte waren dramatisch: Mehr als tausend Soldaten der Alliierten starben qualvoll, noch sehr viel mehr wurden schwer verletzt. Die sofort nachfolgende deutsche Offensive wurde zum Triumph.
Triumph und Tragödie
In Deutschland wurde das Giftgasmassaker prompt als "Tag von Ypern" gefeiert, sogar die Physikerin Lise Meitner gratulierte "zu dem schönen Erfolg". Clara Immerwahr hingegen, die erste Chemikerin Deutschlands und Ehefrau Habers, beging wenige Tage später mit der Dienstwaffe ihres Mannes aus Scham Selbstmord - kurz nachdem der deutsche Kaiser den Chemiker vom Vizewachtmeister zum Hauptmann befördert hatte. Als seine Frau begraben wurde, war Haber bereits in Galizien, um weitere Giftgaseinsätze vorzubereiten.
Die Ypernschlacht vom 22. April 1915 ging nicht nur als der erste Giftgasangriff in die Geschichte ein. Sie trug auch mit dazu bei, dass der Erste Weltkrieg von Historikern im Nachhinein zum "Krieg der Chemie" erklärt wurde. Und der erste Einsatz von Chemiewaffen ist zugleich auch eines der besten Beispiele, wie sich in diesem Krieg erstmals Forscher systematisch mobilisieren ließen, um ihr Wissen in den Dienst des Tötens zu stellen.
Zwar hatten sich Wissenschafter zu allen Zeiten vom Militär einspannen lassen. Schon Archimedes hat angeblich vor mehr als zwei Jahrtausenden Pläne für ein gigantisches Katapult gezeichnet, das Kriegsschiffe der Römer zerstören sollte. Leonardo da Vinci zeigte sich vor 500 Jahren dem Fürsten von Mailand erbötig, Kriegsgeräte zu konstruieren. Und ganze Disziplinen wie die Ballistik entstanden aus einer Allianz zwischen dem Militär und der Gelehrtenwelt - schließlich ging es im Wesentlichen darum, die Flugbahnen von Kanonenkugeln zu berechnen.
Trotz dieser Beispiele spielte die Forschung bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts für die Kriegsführung nur eine Nebenrolle. Mit dem Ersten Weltkrieg wurde die Wissenschaft umso wichtiger. Der Giftgasangriff von Ypern war dabei noch nicht einmal der erste Großeinsatz von Chemikern im Dienste des Völkermordens. Ohne sie wären der deutschen Armee schon wenige Monate nach Kriegsbeginn der Sprengstoff und die Munition ausgegangen, weil der dafür nötige Salpeter aus Chile nicht mehr importiert werden konnte.
Salpeter für Sprengstoffe
Doch die Forscher um Fritz Haber und seinen Kollegen Carl Bosch wussten einen Ausweg: Haber war es einige Jahre vor dem Krieg gelungen, Ammoniak aus Wasser und Luft zu synthetisieren, ab 1913 wurde das sogenannte Haber-Bosch-Verfahren großindustriell zur Düngemittelproduktion verwendet. Als absehbar war, dass Salpeter knapp würde, rüstete man um und produzierte stattdessen Salpeter für Sprengstoffe, um so eine Fortsetzung des Krieges nach 1915 sicherzustellen.
Die Ammoniaksynthese forderte damit indirekt sehr viel mehr Opfer als der Einsatz von Gaskampfstoffen, der nur zu Beginn des Kriegs grauenvoll effektiv war. Da die Heere einander bald in Gasmasken gegenüberstanden, starben bis Kriegsende "nur" 90.000 Soldaten vor allem an Phosgen-Vergiftungen. Eine Million wurde vom Giftgas verletzt.
Die Selbstmobilisierung der Chemiker war freilich nicht der einzige Beitrag der Wissenschafter und Ingenieure zum Ersten Weltkrieg. Viele neue technische Errungenschaften wurden nach 1914 zum Einsatz gebracht: U-Boote samt Torpedos ebenso wie Flugzeuge und nicht zuletzt Panzerfahrzeuge, die den Briten halfen, deutsche Stellungen zu durchbrechen.
Das meiste davon ist international gut erforscht. Erstaunlich wenig weiß man jedoch über die Wechselwirkungen zwischen Technik, Forschung und Gesellschaft in den letzten Jahren der Habsburgermonarchie, wie Juliane Mikoletzky und Wolfgang Reiter erklären. Die beiden haben aus diesem Grund ein Symposion der Ignaz-Lieben-Gesellschaft mitorganisiert, das am 14. und 15. November an der TU Wien eben diesen Querverbindungen in Österreich-Ungarn im Ersten Weltkrieg nachgehen wird.
Der Physiker und Wissenschaftshistoriker Reiter hat trotz der noch eher dünnen Faktenlage den Eindruck, dass Österreich-Ungarn rund um 1914 in Sachen Technologie ein Innovationsnachzügler war. Grund dafür seien vor allem einige strukturelle Unterschiede zu Deutschland gewesen, wo man 1911 mit Unterstützung der Industrie die au- ßeruniversitäre Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (KWG; heute: Max-Planck-Gesellschaft) gegründet hatte. An einem der KWG-Institute arbeitete auch Fritz Haber mit Unterstützung der Industrie an anwendungsnahen Projekten.
"Eine Einrichtung wie die KWG hat in Österreich gefehlt", sagt Juliane Mikoletzky, "und die Hochschulen sind noch nicht so stark auf Forschung ausgerichtet gewesen." Gleichwohl sei auch in Österreich etwa in Sachen Flugzeugbau oder auch für die Kriegsmarine hektisch geforscht worden.
Reiter und Mikoletzky sind sich auch darin einig, dass der Erste Weltkrieg eine Art "Inkubationsphase" für neue Formen der Kooperation zwischen Wissenschaft, Industrie und Militär gewesen sei, die sich erst nach dem Krieg auswirkten. So sind an der Technischen Hochschule Wien nach 1918 wohl auch aufgrund der Kriegserfahrungen Unterabteilungen für technische Physik sowie für Gas- und Feuerungstechnik eingerichtet worden.
Nobelpreisträger für Chemie
Und wie ging es mit Fritz Haber nach dem Krieg weiter? Ein Jahr nach Kriegsende erhielt er den Chemienobelpreis für die Ammoniaksynthese und versuchte bis 1925 erfolglos, Gold aus dem Meerwasser zu extrahieren, um damit die deutschen Reparationsschulden zu bezahlen. Daneben war der Chemiker kurz Reichskommissar für Schädlingsbekämpfung und entwickelte Vergasungsmittel für Ungeziefer.
Eines davon hieß "Zyklon B" und ging aus ganz anderen Gründen in die Geschichte ein. Haber musste wegen seiner jüdischen Herkunft 1933 emigrieren und starb 1934 in der Schweiz.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen