Der zu Unrecht Vergessene
Unabhängig von Charles Darwin entdeckte Alfred Russel Wallace am anderen Ende der Welt dasselbe Evolutionsprinzip
Unabhängig von Charles Darwin entdeckte Alfred Russel Wallace am anderen Ende der Welt dasselbe Evolutionsprinzip
Seine Bescheidenheit und eine Absprache
alteingesessener Wissenschafter kosteten Alfred Russel Wallace wohl den
Ruhm, den er verdient hätte. Er starb vor 100 Jahren.
von Martin Amrein
Die natürliche Selektion ist eine
der bedeutendsten wissenschaftlichen Theorien der Geschichte. Sie stiess
den Menschen als Krone der Schöpfung von seinem selbst errichteten
Sockel. Ein Name - Charles Darwin - wird fast schon als Synonym der
Theorie verwendet, obwohl sie ihm nicht alleine gehört: Auch Alfred
Russel Wallace erkannte, unabhängig von Darwin, das Prinzip der
natürlichen Selektion. Während Wallace zu seinen Lebzeiten ein bekannter
Naturforscher war, ist sein Ruhm mittlerweile verblasst. Nach seinem
Tod am 7. November 1913 rückte er immer mehr in den Schatten Darwins und
geriet allmählich in Vergessenheit - zu Unrecht.
Verarmte Familie
Anders als Darwin, der genug Geld
geerbt hatte, um sein ganzes Leben der Wissenschaft zu widmen, stammte
der 1823 in Wales geborene Wallace aus bescheidenen Verhältnissen. Als
seine Familie verarmte, musste er mit 14 Jahren die Schule verlassen und
sich bezahlte Arbeit suchen. Seine Kenntnisse über die Natur stammten
aus den Büchern grosser Naturforscher. Begeistert von den Schriften
Humboldts und Darwins, brach er 1848 im Alter von 25 Jahren selber auf,
um die Weiten des Amazonas-Gebietes zu erkunden. Die Expedition
finanzierte er, indem er in Regionen, die noch kein Europäer zuvor
betreten hatte, seltene Tiere sammelte und als Präparate nach England
schickte.
Unzählige Schachteln mit
Überresten von exotischen Tieren, die ausserhalb Südamerikas noch
niemand gesehen hatte, stapelten sich auch auf dem Schiff, mit dem
Wallace zurückkehrte. Als sich dieses jedoch mitten im Atlantik befand,
weckte der Kapitän Wallace eines Morgens mit den unheilvollen Worten:
«Ich befürchte, das Schiff steht in Flammen.» Dem jungen Forscher blieb
nichts anderes übrig, als seine wichtigsten Habseligkeiten - sein
Reisetagebuch und einige Kleidungsstücke - zusammenzusuchen und sich mit
der Besatzung in ein Beiboot zu retten. Aus sicherer Entfernung sah
Wallace, wie seine gesamte Sammlung sowie etliche Forschungsnotizen und
Zeichnungen mit dem Schiff verbrannten.
Zurück in der Heimat, gerettet von
einem englischen Handelsschiff, war Wallace am Boden zerstört: «All der
Lohn für vier Jahre Entbehrung und Gefahren: verloren», schrieb er
einem Freund. Alles war aber nicht weg. Wallace blieb sein reicher
Erfahrungsschatz, der ihn immer mehr über die Entstehung von Arten
grübeln liess.
5000 neue Arten
Während die konventionellen
Naturforscher jener Zeit neue Spezies noch als scheinbar zufällige
Kreationen eines Schöpfergottes betrachteten, war Wallace bereits davon
überzeugt, dass die geografische Verteilung der Tiere einem natürlichen
Gesetz folgen müsse. Er war fasziniert von Konzepten der Evolution, die
damals - noch lange bevor Darwin etwas zur Evolution publizierte -
bereits kursierten, von der wissenschaftlichen Welt aber in der Luft
zerrissen wurden. Wallace wollte das nach seinen Worten «schwierigste
und interessanteste Problem der Naturgeschichte» lösen: den Ursprung der
Arten. Dazu stach er 1854 erneut in See. Der Malaiische Archipel, eine
Inselgruppe zwischen Malaysia und Papua-Neuguinea, schien ihm ein gutes
Ziel, um Neues zu entdecken.
Im Verlauf der folgenden acht
Jahre besuchte er jede bedeutende Insel des Archipels und schickte 110
000 Insekten, 7500 Muschelschalen und Schneckenhäuser, 8050 Vogelhäute
und 410 Präparate von Säugetieren und Reptilien nach England. Dabei
entdeckte Wallace nicht weniger als 5000 neue Tier- und Pflanzenarten.
Im Verlauf seiner Reise erkannte er zudem, dass eine tiefe Meeresstrasse
Indonesien in zwei Hälften teilt, die sich in Flora und Fauna
unterscheiden. Noch heute wird diese Grenze als Wallace-Linie
bezeichnet.
Immer wieder brütete Wallace am Mechanismus des Artenwandels. Einmal mehr im Februar 1858, als ihn eine durch Malaria ausgelöste Fieberattacke zwang, einige Tage in einer brüchigen Hütte auf der Insel Gilolo, westlich von Papua-Neuguinea, zu verbringen. Während seine Gedanken im Fieberwahn um die Artenfrage kreisten, erinnerte er sich an einen Essay des britischen Ökonomen Thomas Malthus, der bereits Jahre zuvor auch Darwin inspiriert hatte. Malthus beschrieb darin, dass Hungersnöte und Krankheiten die starke Wachstumstendenz des Menschen in Grenzen hielten. «Plötzlich durchfuhr es mich wie ein Blitz», so erinnerte sich Wallace später an jenen Moment: «In jeder Generation würde der Unterlegene wegsterben und der Überlegene erhalten bleiben - das bedeutet, der am besten Angepasste würde überleben.» Wallace hatte unabhängig von Darwin das Prinzip der natürlichen Selektion erkannt. Zur selben Zeit mühte sich Darwin seit 20 Jahren mit der Ausarbeitung seiner Theorie, ohne sie je veröffentlicht zu haben.
Verschollener Originalbrief
Wallace brachte seine Gedanken
eiligst zu Papier. Bereits früher hatte er Abhandlungen über die
Lebenswelt Südostasiens zur Veröffentlichung nach England geschickt.
Diesmal allerdings, seine Ideen schienen ihm allzu bedeutend, wollte er
erst die Meinung eines anderen Naturalisten einholen. Es war der
vielleicht grösste Fehler seines ganzen Lebens: Wallace schickte sein
Manuskript ausgerechnet an Darwin, mit dem er seit wenigen Jahren in
Briefkontakt stand. Die turbulenten Ereignisse, die darauf folgten,
sorgen bei Historikern noch immer für Kopfzerbrechen.
Fest steht, dass Wallace den fünfzigjährigen Darwin auf dem falschen Fuss erwischte: «Eine verblüffendere Duplizität der Ereignisse habe ich noch nie erlebt. Hätte Wallace das Manuskript meines Entwurfs in der Hand gehabt, er hätte keine treffendere Kurzfassung davon schreiben können», schrieb der um die Priorität seines Lebenswerks besorgte Darwin seinem Freund, dem Geologen Charles Lyell noch am selben Tag. Weil jedoch der Originalbrief von Wallace verschollen und Darwins Brief an Lyell nur ungenügend datiert ist, bleibt bis heute nicht ganz geklärt, wann Wallaces Brief bei Darwin eingetroffen ist. Während einzelne Experten mutmassen, Darwin habe bewusst die Ankunft des Briefes verschleiert, um Gedanken daraus in die eigene Evolutionstheorie einfliessen zu lassen, sprechen andere Darwin von jeglichem Ideendiebstahl frei.
Fest steht, dass Wallace den fünfzigjährigen Darwin auf dem falschen Fuss erwischte: «Eine verblüffendere Duplizität der Ereignisse habe ich noch nie erlebt. Hätte Wallace das Manuskript meines Entwurfs in der Hand gehabt, er hätte keine treffendere Kurzfassung davon schreiben können», schrieb der um die Priorität seines Lebenswerks besorgte Darwin seinem Freund, dem Geologen Charles Lyell noch am selben Tag. Weil jedoch der Originalbrief von Wallace verschollen und Darwins Brief an Lyell nur ungenügend datiert ist, bleibt bis heute nicht ganz geklärt, wann Wallaces Brief bei Darwin eingetroffen ist. Während einzelne Experten mutmassen, Darwin habe bewusst die Ankunft des Briefes verschleiert, um Gedanken daraus in die eigene Evolutionstheorie einfliessen zu lassen, sprechen andere Darwin von jeglichem Ideendiebstahl frei.
Unabhängig davon erwies sich
Darwin in diesen Tagen nicht als der Ehrenmann, der er sonst stets war.
Um seine Priorität zu sichern, stimmte er dem Plan von Lyell zu,
Wallaces Aufsatz gemeinsam mit einer alten Niederschrift von Darwins
Theorie zu veröffentlichen. Dies geschah am 1. Juli 1858, ohne dass
Wallace davon in Kenntnis gesetzt worden war.
Arrangierte Veröffentlichung
Hätte Wallace seine auf Gilolo
verfasste Abhandlung direkt veröffentlichen lassen, würden wir heute
vielleicht von «Wallacismus» statt von «Darwinismus» sprechen. Dazu kam
es aber nicht. Angestachelt von der Erkenntnis, dass ihm andere
zuvorkommen könnten, stellte Darwin auf schnellstem Weg das seit Jahren
geplante Artenbuch fertig. «On the Origin of Species» erschien im
November 1859. Damit erreichte das Konzept der natürlichen Selektion die
breite Öffentlichkeit und war unwiederbringlich mit Darwins Namen
verbunden. Als Wallace 1862 nach England zurückkehrte, ertrug er die
Situation mit Demut. Zeit seines Lebens übte er keine Kritik am delikat
arrangierten Veröffentlichungsverfahren. Die Anerkennung, die ihm als
vermeintlich beiläufigem Mitentdecker des Prinzips der natürlichen
Selektion entgegengebracht wurde, schien dem bescheidenen Waliser
auszureichen.
Insgeheim wusste Wallace aber um
den Wert seiner Leistung. «Ich weiss nicht, ob du das wunderbare Buch
von Herrn Darwin gesehen hast», schrieb Wallace einige Jahre nach dem
Erscheinen von «On the Origin of Species» seinem Bruder John: «Ich habe
selber einen kleinen Anteil daran, weil ich das Hauptprinzip entdeckt
habe, auf dem das Werk beruht.»
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