aus NZZ, 11. 11. 2013 Luke Fildes, The Doctor
Der menschliche Mediziner
Was Ärzte während ihrer Ausbildung von den Geisteswissenschaften lernen können
von Daniela Kuhn
Was Ärzte während ihrer Ausbildung von den Geisteswissenschaften lernen können
von Daniela Kuhn
Patienten erleben Ärzte oft als wenig kommunikativ und empathisch. Das hat mit Zeitdruck zu tun, aber auch mit einem naturwissenschaftlich reduktionistischen Menschenbild.
Patienten suchen das Spital oder den Arzt auf, weil sie körperlich oder psychisch in Schieflage geraten sind. Oft ist beides zugleich der Fall, und manchmal kommt existenzielle Not als Folge dazu. In dieser Situation benötigen sie eine Diagnose und, so weit möglich, eine Therapie - doch das ist nur das halbe Bild. Denn wer als Notfall seit Stunden in der Augenklinik wartet, sucht in der Person des Arztes auch Qualitäten, die den Menschen vom Roboter unterscheiden: Zuwendung, Empathie und Aufmunterung. Sobald sich ein Patient wahrgenommen fühlt und das Gefühl erhält, im Arzt einen Verbündeten gefunden zu haben, entspannt sich die Gefühlslage. Und das ist viel, zumal Studien gezeigt haben, dass im Prozess der Selbstheilung die Psyche eine grosse Rolle spielt. In diesem Sinne ist das Vertrauen der Patienten vielleicht sogar die wichtigste Arznei.
Der Mensch als Maschine
Selbstverständlich ist diese
Arznei indes nicht. Im Gegenteil: Gespräche zwischen Arzt und Patient,
in denen auch Aspekte zur Sprache kommen, welche die körperlichen
Symptome nur indirekt betreffen, sind eher die Ausnahme. Nicht selten
erhalten Patienten den Eindruck, der Arzt bleibe als Mensch unbeteiligt.
Etwa wenn es darum geht, bedrohliche Diagnosen mitzuteilen oder die
Krankheit in die Lebenssituation des Patienten einzuordnen.
Tendenziell waren empathische
Ärzte wohl nie in der Mehrheit, lässt sich mutmassen, doch in den
letzten Jahren haben zusätzlich die bürokratischen Abläufe zugenommen.
Sie rauben einen grossen Teil der Zeit, die einst nicht am Computer,
sondern im Gespräch mit dem Patienten verbracht wurde. Liegt es somit
vor allem am System, wenn ein kranker Mensch so funktional behandelt
wird wie ein Auto, dessen Motor repariert werden muss?
«Vereinfacht gesagt geht die
Schulmedizin von einem naturwissenschaftlichen, reduktionistischen
Menschenbild aus. Sie sieht den Menschen als chemisch-biologische
Maschine», sagt Christian Hess, der bis zum Sommer letzten Jahres
Chefarzt am Spital Affoltern war. Er und die Psychotherapeutin Annina
Hess-Cabalzar haben dort während über zwanzig Jahren ein Spitalmodell
etabliert, das Schulmedizin und Geisteswissenschaften verbindet. Diese
sogenannte Menschenmedizin trägt körperlichen, geistigen und seelischen
Aspekten Rechnung, das heisst, auch Psychotherapie, Kunst, Philosophie,
Ethik, Theologie und Sozialarbeit spielen darin eine Rolle. «Es braucht
die Bescheidenheit, dass es keinen Wissensprimat gibt und sich das
Entscheidende im Krankheitsverlauf ändern kann», sagt Christian Hess.
Mit anderen Worten: Alle Beteiligten tragen in diesem Modell
Verantwortung, sie sind sich zugleich auch ihrer eigenen Grenzen
bewusst. Christian Hess und Annina Hess-Cabalzar legten auch Wert auf
die körperliche Berührung, die immer mehr aus dem ärztlichen Repertoire
verschwindet, obwohl sie ein grosses Heilpotenzial birgt.
Angesichts der medizinischen
Forschung, die hauptsächlich auf neue Technologien und auf hohe
Spezialisierung setzt, wirkt das ganzheitliche Konzept von Christian
Hess und Annina Hess-Cabalzar wie aus einer anderen Zeit. Doch könnte
dieser Ansatz gerade in den nächsten Jahrzehnten vermehrt in den Fokus
rücken, da es immer mehr alte Menschen geben wird, die an mehreren
Krankheiten leiden. Bei diesen sogenannt multimorbiden Patienten können
nicht alle verfügbaren Therapien addiert eingesetzt werden. Es braucht
die Klärung, was zur Lebenssituation passt. Auch in Bezug auf künftige
Gentest-Analysen dürfte die ganzheitliche Betrachtung wichtiger werden,
zumal Gentests ohne eine Einordnung einem Orakel gleichkommen.
«Bei einem Hirnschlag sehen wir
oft drei Phasen», sagt Annina Hess-Cabalzar: «Dem akutmedizinischen
Handeln folgt die Pflege, die Physio- und Ergotherapie. Danach müssen
die Patienten ihre Krankheit seelisch aufarbeiten. In dieser dritten
Phase von Abschied und Neubeginn, in der wir auch das Umfeld der
Patienten einbezogen haben, spielt Kunst oft eine grosse Rolle.»
Zusammenfassend meint Christian Hess: «Erst die geisteswissenschaftliche
Arbeit macht die Behandlung zu dem, was sie sein kann.»
Kommen angehende Mediziner im
Rahmen ihres Studiums mit Geistes- und Sozialwissenschaften überhaupt in
Berührung? Die Antwort lautet: Ja, wenn auch noch immer zu wenig. Im
Rahmen der Bologna-Reform wurde der aus den USA stammende Begriff
Medical Humanities zwar an den meisten Universitäten eingeführt, die
Gewichtung und der Inhalt der Veranstaltungen variieren jedoch stark. In
der Regel umfassen sie einen Einblick ins Gesundheitssystem, in Ethik,
Recht, Philosophie und Geschichte der Medizin. An den medizinischen
Fakultäten Lausanne, Freiburg und Genf sind Medical Humanities
mittlerweile etabliert. In Zürich werden vier geisteswissenschaftliche
Module angeboten. Sie sind allerdings nicht obligatorisch, da sie im
sogenannten Mantelstudium angeboten werden, das lediglich 15 Prozent des
gesamten Studiums umfasst.
Geschichten erzählen
In Basel geht man einen anderen
Weg. Im Sinne der «narrative-based medicine», die sich als Ergänzung zur
evidenzbasierten Medizin versteht, werden die Studierenden an der
Universität Basel in ihrer narrativen Kompetenz gefördert. «Sie sollen
lernen, einer Geschichte gut zuzuhören und eine Geschichte selber gut zu
erzählen», sagt Alexander Kiss, Chefarzt am Universitätsspital Basel.
Beides sei im Arztberuf wichtig: «Besonders bei chronischen
Erkrankungen, wo sich Arzt und Patient immer wieder begegnen und die
Krankengeschichte daher gemeinsam konstruiert wird.»
Im ersten Jahr besuchen die
Studierenden mindestens zwei von drei Veranstaltungen, in denen ein Film
gezeigt wird, der anschliessend von einem Journalisten und einem
Mediziner kommentiert wird. Nach dem israelischen Animationsfilm «Waltz
with Bashir», der den ersten Libanonkrieg aus der Perspektive eines
israelischen Soldaten zeigt, wurden beispielsweise die historischen
Hintergründe erörtert und das Phänomen der posttraumatischen
Belastungsstörung. Im zweiten Jahr werden den Studierenden Beispiele aus
der Literatur nähergebracht, die mit Medizin zu tun haben. Im vierten
Jahr schreiben sie während des Praktikums bei einem Hausarzt über eine
schwierige Begegnung mit einem Patienten. «Jeder Arzt begegnet
Patienten, die er nicht mag», sagt Kiss: «Die Studierenden sollen sich
fragen, wieso die Interaktion mit dieser Person nicht funktioniert hat
und was die negativen Gefühle bedeuten.» Auf ihren Bericht hin gibt der
involvierte Hausarzt den Studierenden eine Rückmeldung.
«In der Medizin ist alles sehr
eindeutig, aber Geschichten sind vieldeutig. Und genau darum geht es: um
den Umgang mit Mehrdeutigkeit», sagt Alexander Kiss. Er wolle keine
Mediziner «mit kaltem Blick» ausbilden, «die im Musikverein dann zu
Tränen gerührt sind.» Sein Anliegen sei es vielmehr, den angehenden
Ärzten aufzuzeigen, dass die Kunst zu den Themen Tod und Leiden, die
auch den Arztberuf prägen, viel zu bieten hat.
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