Sonntag, 10. November 2013

Büchner-Ausstellung in Darmstadt.

aus NZZ, 9. 11. 2013

Die Wüste Sahara in allen Köpfen und Herzen
In Darmstadt sind Leben und Werk des vor 200 Jahren geborenen Dichters und Revolutionärs Georg Büchner zu besichtigen.


Von Roman Bucheli

Wie zeigt man das Leben und Werk eines Dichters, wenn sich an Spuren nicht viel mehr als ein paar Manuskripte und eine Haarlocke erhalten haben? In Darmstadt holt man weit aus und inszeniert Georg Büchners Leben und Schaffen im Reflex der Zeitgeschichte. 

Erst gerade 23-jährig war Georg Büchner, als er am 19. Februar 1837 in Zürich an Typhus starb. Drei Monate zuvor hatte er an der hiesigen Universität zur Zulassung als Privatdozent eine Probevorlesung über Schädelnerven gehalten und darin eine These formuliert, die er gewiss in streng anatomischem Sinne verstanden hatte, die aber zugleich als Maxime seines Lebens und Schaffens gelten könnte: «Alles, was ist, ist um seiner selbst willen da.» Waren es das bedingungslose Bekenntnis zur Freiheit und die Abscheu gegenüber der Knechtung grosser Teile der Bevölkerung, die Büchner im Weg der Analogie zu der Auffassung brachten, dass jedes seiner Organe so sehr wie der Mensch insgesamt sich selber Zweck genug sein müsse? Oder waren es umgekehrt die naturwissenschaftlichen und philosophischen Studien, die das revolutionäre Denken des jungen Mannes beförderten?

Ein weltliterarisches Zeugnis

Dass die Frage nicht müssig, aber gleichwohl nicht zu entscheiden ist, ergibt sich allein aus der Kürze von Büchners Leben. In der Zeitspanne zwischen seiner Immatrikulation an der medizinischen Fakultät in Strassburg im November 1831 und seiner Probevorlesung in Zürich nur gerade fünf Jahre später explodiert förmlich ein Lebenswerk. Es ist zwar nicht viel, was Büchner im Februar 1837 hinterlassen hat: ein im Druck erschienenes Drama («Dantons Tod»), die politische Flugschrift «Hessischer Landbote», von der im Einzelnen nicht schlüssig zu sagen ist, was auf Büchner und was auf den Mitverfasser Ludwig Weidig zurückgeht, das fast abgeschlossene Lustspiel «Leonce und Lena» sowie als Fragmente das Stück «Woyzeck» und die Erzählung «Lenz», schliesslich die Dissertation über das Nervensystem der Flussbarbe.

Nein, das ist - gemessen am Umfang - nicht viel, aber es ist Weltliteratur. Und es ist das Zeugnis eines Menschen, der unerschütterlich daran glaubte, dass es unveräusserliche Rechte gebe - und dass zu viele und zu lange davon ausgeschlossen waren. So gründete er 1834 in Giessen und Darmstadt nach französischem Vorbild Sektionen der Gesellschaft der Menschenrechte, gleichzeitig aber liest man in einem seiner Briefe an die Eltern: «Wenn in unserer Zeit etwas helfen soll, so ist es Gewalt.» Er war, so sagte es Wolfgang Hildesheimer, «alles in einer Person, politischer Agitator, Wissenschafter, Schriftsteller, potenzieller Menschenfreund, Menschenverächter aus bitterer Erfahrung».

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass ausgerechnet der in Fragmenten überlieferte «Woyzeck» zum weltweit erfolgreichsten deutschsprachigen Theaterstück werden konnte. Wie kaum eine andere Theatervorlage bietet es lediglich das Material, aus dem sich jede Aufführung nicht nur nach Gusto bedienen kann, sondern geradezu muss. Es zwingt damit zum performativen Nachvollzug dessen, wovon der Inhalt des Stücks u. a. handelt: von der völligen Selbstentfremdung und Entwertung des Subjekts zum blossen Menschenmaterial. Nirgends sonst hat Büchner seine Überzeugung, alles, was ist, sei um seiner selbst willen da, bestürzender ins Gegenteil verzerrt.

Und wie dieser Text gerade als unvollendetes Werk seine Wirkungsmacht umso entschiedener entfaltet, so treten umgekehrt vielleicht an keinem anderen Text die Tragik Büchners und die Tragödie seiner Epoche deutlicher hervor als an dem «Hessischen Landboten». Was wir heute als revolutionäres Gründungsdokument feiern, hat Büchner ins Exil getrieben, den Tod seines Mitverfassers zur Folge gehabt - und gewiss keinem Bauern und Handwerker, zu deren politischer Agitation die Schrift gedacht war, zur Freiheit verholfen. Es war Hans Magnus Enzensberger, der mit beissendem Sarkasmus, der vielleicht weniger gegen Büchner als dessen späte Nachbeter gerichtet war, darauf hingewiesen hatte, dass nicht Flugschriften, aber wissenschaftliche Errungenschaften die Landwirtschaft verändert hatten.

Wie soll ein solches Leben und Werk dargestellt werden, wenn nicht viel mehr als ein paar Manuskripte, ein paar allerdings ebenso bewegende wie aufschlussreiche Briefe überliefert sind? Wie soll man Büchner zeigen, von dem kaum ein authentisches Porträt, aber eine Haarlocke sich erhalten hat? In Darmstadt hat man aus Anlass des 200. Geburtstags entschieden, ein grosses Zeitpanorama auszubreiten. Und weil das Museum auf der Mathildenhöhe derzeit umgebaut wird, fand man im Kongresszentrum Darmstadtium räumliche Voraussetzungen, die zur architektonischen Inszenierung eines in sich verwinkelten und sich auf engstem Raum überlagernden Lebenswegs einluden. So haben die Ausstellungsmacher einen auf mehreren Ebenen angelegten Parcours entworfen, der das Nebeneinander und Miteinander (vielleicht auch: das Durcheinander) dieses Lebens nachvollziehbar, begehbar und lesbar macht.

Der dreidimensional in den hohen Raum hineingebaute Parcours mit Durchblicken in alle Richtungen macht es denn möglich, dass sich alles durchdringen kann, was sich in der kurzen Zeitspanne dieser fünf ereignisreichen Lebensjahre ereignet hat. So steht der Besucher auf einem Balkon, besichtigt Büchners Strassburger Zeit und blickt bereits voraus auf den «Hessischen Landboten», auf die anatomischen Studien, auf das Lustspiel «Leonce und Lena» oder in die Dunkelkammer des «Woyzeck», dessen letzte beide Handschriften in den Zürcher Monaten entstehen. Und wo er über Treppen und Galerien dem Lebensweg nach Zürich folgt (und hier über den Audioguide den Brief von Büchners Mutter eingespielt erhält, in dem sie dem Sohn ihre Erleichterung über dessen Ankunft in der Stadt mitteilt), blickt der Besucher zurück auf die Guillotine im zentralen Ausstellungsraum, die den Schrecken der Revolution wie die Hoffnung auf Beseitigung der Despoten gleichermassen versinnbildlicht.

Ausgangspunkt und Fluchtpunkt dieser Vita finden sich räumlich klar abgegrenzt zu diesem mehrdimensionalen Kernstück der Ausstellung: Der Prolog zur Schau zeigt die Jugend- und Schuljahre in Darmstadt sowie nach den zwei Strassburger Studienjahren die Rückkehr in die Heimatstadt, wo Büchner geistige Ödnis findet, «die Wüste Sahara in allen Köpfen und Herzen», wie es in einem Brief vom August 1833 heisst. Ein Epilog führt ein in das lange Nachleben dieses Werkes mit dessen Rezeption bis in unsere Tage. Und hier begegnet dann der Besucher Klaus Kinskys Woyzeck in Werner Herzogs Verfilmung von 1979. Er blickt nur in ein Gesicht und begreift schlagartig die Worte aus dem «Woyzeck»: «Jeder Mensch ist ein Abgrund, es schwindelt einem, wenn man hinabschaut.»

Zerrissen von den Extremen

Man mag es geschmäcklerisch finden, wenn die Ausstellung nicht nur das Wohnzimmer der Familie Büchner nachbaut, sondern uns geradezu in Büchners Sterbezimmer und dort auf ein Stillleben mit Sektionsbesteck, in Alkohol eingelegten Tierpräparaten und Manuskripten blicken lässt. Trotzdem vermittelt das Bild die Anmutung und Anschauung einer Existenz, in der alles auf engstem Raum und in kürzester Zeit geschah: In seinem Zürcher Zimmer an der heutigen Spiegelgasse soll Büchner nicht nur gewohnt und an seinen vergleichenden anatomischen Studien gearbeitet, sondern auch seine Vorlesungen vor allerdings nur wenigen Studenten abgehalten haben, ehe am 2. Februar 1837 die Typhuserkrankung ausbrach.

Die Komplexität dieses Lebens und die Gedrängtheit von Büchners Schaffen, das sich an den Extremen der Epoche zerreisst, lassen sich in einer Ausstellung nur in solchen bildhaften Kompositionen nachvollziehen. Dass alles, was ist, um seiner selbst willen sei, hat diese Jubiläumsschau indessen aufs Eindrücklichste sich selber zu eigen gemacht: Sachlich, aber nicht ohne Emotion wird den Besuchern der Dichter und Naturwissenschafter, der Revolutionär und Philosoph Büchner vorgeführt. Ludwig Börne stirbt wenige Tage vor Büchner in Paris, und abermals vier Tage später schneidet sich im Darmstädter Arresthaus Ludwig Weidig, der Mitverfasser des «Hessischen Landboten», zermürbt von Haft, Verhören und Folter, mit Glasscherben Pulsadern und Kehlkopf auf. Die Ausstellung sagt nicht, indem sie die Daten nennt, dies sei das Fanal einer gescheiterten Revolution. Sie lässt nur wortlos in den historischen Abgrund blicken.

«Georg Büchner - Revolutionär mit Feder und Skalpell», Darmstadtium, Darmstadt; bis 16. Februar. Der Katalog (Hatje Cantz) kostet 58 Euro.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen