Freitag, 29. November 2013

"Rationalisierung".


 
aus NZZ, 27. 11. 2013

Der Affe als Gottsucher
Kaspar von Greyerz' Untersuchungen zu Religion, Magie und Wissenschaft in der frühen Neuzeit

von Urs Hafner · Auch wenn die Leute sich ereifern in Glaubensfragen, so ist doch das Religiöse seit dem Säkularisierungsschub der siebziger Jahre in unserer Weltgegend nur mehr schwach und blass präsent. In welchem Ausmass es aus unserem Alltag, aber auch etwa aus der Sphäre der Wissenschaften verschwunden ist, verdeutlicht der vergleichende Blick in die frühe Neuzeit, in eine Epoche also, die stark durch die Kirchen, den Glauben an überweltliche Mächte und durch konfessionelle Auseinandersetzungen geprägt war. Kundig lässt sich dieser Blick mit Kaspar von Greyerz werfen.

Diesseits der Gegensätze

Anlässlich seiner Emeritierung haben zwei seiner Schüler ein gutes Dutzend Aufsätze versammelt, die in den letzten vierzig Jahren publiziert worden sind. Vor allem zeugen sie von der ansteckenden Neugier des Basler Historikers. Unaufgeregt und unprätentiös kehrt er die überraschenden Seiten der von ihm untersuchten Dinge hervor. Was man über die Gegensätze zwischen den Konfessionen, den Gegensatz von - besonders katholischem - Glauben und den Naturwissenschaften oder jenen von religiöser Orthodoxie und - offiziell untersagter - Magie zu wissen glaubte, unterzieht er, bevorzugt für den englischen, elsässischen und Basler Raum, einer kritischen Revision.

Kaspar von Greyerz: Von Menschen, die glauben, schreiben und wissen. 
Ausgewählte Aufsätze. Herausgegeben von Kim Siebenhüner und Roberto Zaugg.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2013. 260 S., Fr. 53.-.

Die Magie etwa, der Glaube also, dass die Materie durch Geister beseelt sei und dass man mit deren Hilfe Menschen und Dinge aus der Ferne manipulieren könne: Sie lässt sich laut Greyerz erst im 18. Jahrhundert, der Zeit der Aufklärung, deutlich von der Religion unterscheiden. Vorher sei sie weit verbreitet gewesen, auch im Protestantismus, der die Magie des Gebets gekannt habe, auch in den Bildungsschichten, unter den Mitgliedern der 1660 gegründeten Royal Society etwa, der ersten naturwissenschaftlichen Gesellschaft Englands, und sogar im Denken Isaac Newtons, des grossen Naturforschers des 17. Jahrhunderts. Dieser habe sich zwar mit Astronomie, Optik und Mathematik beschäftigt, aber viel intensiver mit Prophezeiungen, Theologie, Kirchengeschichte und Alchemie.* Von Letzterer habe er sich neue Einsichten in die Grundfragen der Wissenschaft erhofft.

Ebenfalls keinen systematischen Gegensatz sieht Kaspar von Greyerz zwischen den im 17. Jahrhundert entstehenden Naturwissenschaften, die damals noch als Naturphilosophie firmierten, und der Religion, auch nicht dem angeblich magisch gefärbten und daher tendenziell irrationalen Katholizismus. Der Autor braucht für seine Argumentation nicht einmal die wissenschaftsinteressierten Jesuiten und ihren prominentesten Vertreter, Athanasius Kircher, gross ins Feld zu führen. In den Reaktionen aller Konfessionen auf den Fall Galilei, also auf dessen Verurteilung durch den Vatikan 1633, macht er keine grundsätzliche Ablehnung der Wissenschaft aus, sondern eine skeptische Haltung gegen eine allzu autonome und selbstbewusste Wissenschaft.

Die Trennlinie zwischen Religion und Wissenschaft verläuft also nicht so eindeutig, wie sie später eine enggeführte, rationalistische Wissenschaftsgeschichte gezogen hat. Kaspar von Greyerz betreibt Wissenschaftsgeschichte als eine Kulturgeschichte des Wissens, das er nicht von der Welt des Sozialen isoliert.

Kosmologisch war die frühe Neuzeit eine reichhaltige und vielfältige Epoche. In den Weltbildern und Lehren des Neuplatonismus, der aristotelischen Scholastik oder des Paracelsus, die sich alle nicht präzis von der Sphäre des Religiösen scheiden lassen, seien der menschliche Mikrokosmos und der Makrokosmos der Sterne und Engel eng miteinander verwoben gewesen. Über dieser «great chain of being» (Arthur O. Lovejoy) habe Gott gethront. Auf einer Darstellung dieses Zusammenhangs aus dem frühen 17. Jahrhundert hockt überraschend in der Mitte ein Affe auf der Erdkugel. Der Affe sei hier positiv konnotiert, erläutert der Autor: Er fordere die Menschen auf, die Natur nachzuahmen, sozusagen nachzuäffen, um Fortschritte in den Wissenschaften zu erzielen. Als Nachäffer sei der Affe ein Gottsucher. Bis ins frühe 18. Jahrhundert sei die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Natur primär eine Gottessuche gewesen, die sich nicht nur dem Protestantismus zuordnen lasse.

Max Webers These

Man ahnt es: Eine der Absichten Kaspar von Greyerz' ist die Revision einer zu einfachen Vorstellung von der Rationalisierung der Welt, die laut Max Webers sogenannter Protestantismus-These vom Calvinismus angestossen und dann von den Wissenschaften beschleunigt worden sei. In seiner Analyse der Selbstzeugnisse englischer Puritaner, Webers Paradebeispiel, kommt Greyerz zu dem Schluss, dass diese keine reinen Calvinisten gewesen seien. Weber habe das theologische Dogma verabsolutiert. Freilich möchte man an dieser Stelle den Soziologen vor dem Historiker, der für jeden Fall wissen will, wie es wirklich war, in Schutz nehmen: Weber arbeitete mit kontrafaktischen Idealtypen, um den grossen Entwicklungslinien auf die Spur zu kommen. Auch wenn wir dem umfassenden Anspruch seiner Rationalisierungstheorie heute skeptisch gegenüberstehen: Was für ein intellektueller Verlust, gäbe es sie nicht!


*Nota.

Newtons Leidenschaft für die Alchemie - das Goldmachen - sollte nicht als irrationale Abschweifung ins Okkulte verstanden werden. Dass eine Scheidelinie zwischen organischer und anorganischer Chemie verläuft, war eine Erkenntnis erst des fortgeschrittenen 19. Jahrhunderts. Bis dahin war es selbstvertänd- lich, chemische Reaktionen im Sinne von organischen Stoffwechsel- und Wachstumsprozessen aufzufassen. Dass also etwa Gold aus kristallinen Vorstufen 'herauswuchs', war nichts, was die Vernunft hätte irritieren müssen.
JE

1 Kommentar:

  1. Hallo Jochen, sehr interessanter Artikel über deinen Blickwinkel zum Stichwort "Rationalisierung". Da ich demnächst meine Facharbeit darüber schreibe und leider wenig Infomaterial finde, ist dein Artikel pure Abwechslung :)! Bisher zielten die meisten Artikel darauf ab, dass Rationalisierung das neue Zeitalter Industrie 4.0 (http://www.siemens.de/industrie-4.0/index.html) einläutet. Hät gerne mehr von Artikel wie deinen! Danke :)

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