Donnerstag, 7. November 2013

Camus.


aus NZZ, 7. 11. 2013


Das Glück des Sisyphus
Vor hundert Jahren wurde Albert Camus geboren


A. Bn. · Es hätte nicht des frühen Auto-Unfalltods auf einer Landstrasse nahe Paris im Januar 1960 bedurft, um seinen Rang als überragender Dichter und Denker der Absurdität menschlichen Daseins auf schwer erträgliche Weise zu besiegeln. Am 7. November 1913 wurde Albert Camus im algerischen Mondovi in ein Jahrhundert hineingeboren, das an seinem Ende alle Unschuld verloren haben wird. Im Geiste blinden Machbarkeitsglaubens probt man in Europa die totale gesellschaftliche Mobilmachung, zumal in Form von Erlösungslehren mit utopisch-politischen Heilsversprechen, denen jedes menschliche Mass und jeder Begriff von Gerechtigkeit und Moral abgeht.

Vom multikulturellen Gestade und vom Licht des Mittelmeers herkommend, blieb Camus stets kritisch gegenüber allen heroischen Ideen, das Abstrakte über das Konkrete, die Liebe zur Menschheit über die gelebte Solidarität zu stellen. Mit seiner Skepsis schuf er sich viele Feinde. Statt auf die Vergottung der Geschichte setzte er auf das Individuum und die Erfüllung im Augenblick. Dass man sich Sisyphus glücklich vorzustellen habe, gehört zu seinen tiefsten und heitersten Gedanken.




Albert Camus - Skepsis und Freiheit
Zum 100. Geburtstag des grossen französischen Schriftstellers.


Von Martin Meyer 

Es gab einen Camus-Sound. Wir hörten ihn, lange ist es her, in der Schule und waren gefesselt. Klare, mitunter harte Sätze; starke, mitunter scharfe Rhythmen; und eine Nähe zu Mensch und Ding, die alles Gemachte, künstlich Aufgeblähte, souverän unterspielte. So trat uns der Verfasser des «Etranger» entgegen, der diesen «Fremden» so vorführte, als sei er von einem anderen Stern und doch zugleich ein denkbarer Nachbar. Etwas später kam «La Peste». Auch hier - und nun mächtig ins Epische gezogen - lauerte das Verhängnis. Wie der Fremde, Meursault, unter gleissender Sonne einen unverstandenen Mord begeht, sucht die Seuche - wer wüsste genau, warum? - eine ganze Gemeinschaft heim: ebenfalls im hellen und stürmischen Licht des Mittelmeers. Das gab zu denken, beflügelte die Phantasie und stiess zu Fragen an nach Moral, Schuld und Verantwortung.

Dass sich Albert Camus zuerst in der Schule eingemeindete und von wohlmeinenden Lehrern kommentiert wurde, war nicht anstössig. Es gab den Jungen eine erste Ahnung von Weltliteratur und von der sogenannten condition humaine. Wer dann später wieder zu seinen Büchern griff - zu den Essays, den Kurzgeschichten, den Theaterstücken, den Tagebüchern und politischen Artikeln -, musste vielleicht überrascht lernen: Alles, was hier verhandelt wird, ist noch etwas komplizierter. Philosophie, ja; Geschichte und Zeitgeschichte, natürlich; dazu ein Diesseits von Gut und Böse, dem wir selber zugehören. Und im Gegenzug dazu ein naturnahes Dasein mitsamt den Schönheiten der Landschaft, des Wetters, der Luft aus Freude und Leid. 

Beständig unterwegs 

Solche Dichtung widersetzt sich a priori den Moden und dem Zeitgeist, der schnell aufflammt und ebenso schnell wieder verglüht. Mehr als fünfzig Jahre nach seinem viel zu frühen Unfalltod im Automobil vom Januar 1960 und genau hundert Jahre nach seiner Geburt im algerischen Mondovi in ein Milieu der Arbeiter und kleinen Leute ist Camus - wieder - mitten unter uns. Seit den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts und unter tatkräftiger Regie Jean-Paul Sartres und der Seinen zur persona non grata erklärt, kommt er uns heute wieder entgegen: als ein unabhängiger, unbeirrbarer Geist, der weder Ideologien noch Intrigen oblag, wie sie im Milieu französischer Intellektueller periodisch ins Kraut schiessen. 

 

Freiheit und Vernunft in einer Welt, die von den Gegenkräften der Gewalt und des Absurden beherrscht wird - das war es. Camus kennt die geheimen Verführer. Einpassung in gesellschaftliches Diktat, Erlösungslehren mit politischen Heilsversprechen, die Versuchung der Totalitarismen, die Preisgabe von Mass und Grenzen, Heuchelei und Besserwissen und noch manches mehr mobilisierten den Skeptiker, der er von Anfang an war. Man soll seine Herkunft nicht überschätzen.

Aber dieses Milieu aus Arbeit fürs Überleben und Umgang mit den elementaren Bedingungen - die Mutter konnte weder lesen noch schreiben - machte den Anfang. Fortan hielt der Sohn eines Vaters, den dieser niemals kannte, weil er im Ersten Weltkrieg gefallen war, die Linie. Wer Albert Camus liest, spürt sogleich die Intimität mit dem Nächsten und den Nächsten, welche Solidarität nicht als abstraktes Programm, sondern als selbstverständlichen Dienst begreift.

Er hatte die joie de vivre, o ja. Das früh bemerkte Lungenleiden, das ihn noch Jahrzehnte verfolgte, trieb - dagegen - an zu einer Vitalität, die sich ans Hier und Jetzt verschwendete. Als homme à femmes im Querfeldein zu Beziehungen mit jungen und immer jüngeren Frauen war Camus ein Don Juan. Die Kunstfigur Mozarts faszinierte ihn bis zuletzt. Doch Erfüllung und Lebensart fand er selten in Paris, wo er zwar bald Karriere machte, die ihm anderseits suspekt blieb. Das steinerne Gerüst der Metropole war zu erdulden. Als Kolumnist schon im Widerstand, dann als Lektor bei Gallimard versah er seine Aufgaben mit niemals nachlassendem Pflichtgefühl. Das Herz schlug anderswo. Mit der Summe, die der Nobelpreis im Jahr 1957 einbrachte - Camus meinte damals, André Malraux hätte die Auszeichnung viel eher verdient -, kaufte er sich ein Haus in Lourmarin. Das Dorf, am Fusse des Luberon gelegen und damals noch touristisch völlig unberührt, bot Ersatz für die karge, aber lichtvolle Atmosphäre Algeriens.

Todesmotive 

Der Tod ist im Werk fast allgegenwärtig. Camus akzeptierte unsere Sterblichkeit, während er gleichzeitig jeden Rettungsgedanken verwarf, der auf Abgeltung und Lohn im Jenseits spekuliert. Die Schrift «L'Homme révolté» von 1951 muss als Beitrag zu einer Fundamentalanthropologie verstanden werden. Der Mensch lehnt sich auf gegen eine Schöpfung, die keinen Trost bietet, weil sie ihn ausgesetzt hat und den Wechselfällen des Daseins überlässt. Er bildet dagegen Gemeinschaften und Solidaritäten, die freilich ebenfalls nur von prekärer Dauer sein können. Er konstruiert sich - mit den Hilfsmitteln der Metaphysik - ein grosses Anderes, das wiederum der Skepsis nicht standzuhalten vermag. Schlimm wird es, wenn er die Geschichte zum neuen Gott erhebt, der dafür zu sorgen hat, dass das Paradies auf Erden gleichwohl möglich wird. Für diese Hypertrophie steht die Neuzeit seit der Aufklärung mit ihrer Begeisterung für Revolutionen, Scharfrichter und Grossinquisitoren.

Hier Henker, dort Opfer. Das ist die kürzeste Formel für die Zeitalter totalitärer Ideologien mit der Kulmination im 20. Jahrhundert. Camus ist in Frankreich der Erste, damals die Sprache von Kritik und Empörung gegenüber den Weltbemächtigungsstrategien zumal des Stalinismus gefunden zu haben. Er findet damit kaum Freunde. Sartre und seine Jünger blasen zum Angriff, reklamieren philosophische Kompetenz ausschliesslich für sich selbst und ächten den vermeintlichen Genossen von einst. Noch lange und weit über Camus' Tod hinaus hält sich dieses Verdikt als Skandal, wie einer es wagen konnte, an den Grundfesten marxistisch-kommunistischer Doktrin gerüttelt zu haben.

Camus' letzte Jahre sind nicht vom Glück begleitet. Dazu trägt das vergebliche Engagement für eine friedliche Koexistenz in Algerien bei. Camus muss hinnehmen, dass seine Heimat im Bürgerkrieg zerfällt und dann die von de Gaulle beschlossene Unabhängigkeit den zugewanderten Franzosen den Boden entzieht. Hinzu treten Depressionen und Ängste, nicht mehr schreiben zu können. Trost spendet die Freundschaft mit dem Dichter René Char, einem gleichgesinnten Geist unabhängiger Denkart, den Camus häufig im Luberon besucht, bis er sich schliesslich selbst sein Haus in Lourmarin erwirbt.

Nachdenken, aufzeichnen

In den Tagebüchern begegnet uns ein genauer und unbestechlicher Chronist. Wer Privates sucht, wird zumeist enttäuscht. Wer einen Autor bei der Arbeit belauschen will, findet viel: das harte Brot der Gedanken, der Pläne, des Vorstellens und Verwerfens, der Zwiesprache mit Büchern und Autoren, mit Kunst und Musik und Philosophie - bis daraus eigene Literatur entsteht. Die Mär, dass Camus ein Autodidakt mit unsicherem Wissen gewesen sei, wird seit den ersten Seiten dieser «Cahiers» oder «Carnets» sofort entlarvt. Vor allem auch die Kommentare zur Epoche und zu den politischen Verlogenheiten sind überaus aktuell geblieben.

Bliebe, als grandioses Fragment, der Roman «Le Premier Homme». Also das Unterwegs einer biographie romancée, die tief in die algerische Kindheit zurückgreift, auf den Spuren des nie gekannten Vaters, auf den abenteuerlichen Fährten durch das Haus der Mutter und der Grossmutter, mit Vergegenwärtigungen der Schule und der Ausflüge durch eine wilde Landschaft. Das unvollendete Manuskript konnte im Unfallwagen geborgen werden. Es hätte, als Ganzes, wohl bis in Camus' Gegenwart hinein geleuchtet. So bleibt es das letzte und vielleicht schönste Zeugnis des Erzählers, der sich vorher vor allem den dunklen Seiten unseres Daseins zuwandte - immer im Wissen und mit der Trauer um das Vorläufige menschlicher Existenz; doch immer auch mit der Gewissheit, dass wir nichts anderes haben, was deshalb auch Quelle der Freude und der Erschütterung durch die Erfüllung im Augenblick sein soll.




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