Aktuelle Studie stellt Lehrmeinung zum Langzeitgedächtnis in Frage
Beobachtung von Nervenzellverbindungen im Gehirn über sieben Tage hinweg lieferte überraschende Ergebnisse
Aktuelle Forschungsergebnisse weisen darauf hin, dass das etablierte Erklärungsmodell, wie das menschliche Langzeitgedächtnis funktioniert, möglicherweise so nicht stimmt. Deutsche Wissenschafter haben bei ihren Untersuchungen erstmals die Funktion einzelner Nervenzellverbindungen im Gehirn über sieben Tage hinweg beobachtet. Die Studie liefert dabei außergewöhnliche Einblicke in die Speichermechanismen des Gehirns.
Für langfristige Erinnerungen sind die Hippocampi in den Temporallappen der beiden Großhirnhälften von zentraler Bedeutung. Personen, die Schäden in diesen Gehirnarealen aufweisen, vergessen umgehend Situationen, die sie gerade erlebt haben. "Bisher nahmen wir an, dass die Informationsspeicherung im Hippocampus von der Stärke der dortigen Nervenzellverbindungen, den Synapsen, abhängig ist", sagt Thomas Oertner vom Zentrum für Molekulare Neurobiologie Hamburg (ZMNH).
Gängige Lehrmeinung in Frage gestellt
Synapsen sind die Strukturen, mit denen eine Nervenzelle in Kontakt zu einer anderen Zelle, etwa einer Sinnes-, Muskel-, Drüsen- oder Nervenzelle steht. Sie dienen der Übertragung von Informationen und spielen eine wichtige Rolle bei deren Speicherung. Für ein funktionierendes Langzeitgedächtnis, so die gängige Lehrmeinung, müssen die Zellverbindungen stark sein und unbegrenzt stabil bleiben. Dieser Prozess wird als "long-term plasticity" bezeichnet und ist seit mehreren Jahren ein zentrales Thema der neurobiologischen Forschung.
Das Team um Thomas Oertner ist nun jedoch zu anderen Ergebnissen gekommen. Mit experimentellen Tricks beeinflussten sie synaptische Verbindungen so, dass diese Informations-Autobahnen quasi in Tempo 30-Zonen umgewandelt wurden. "Wir haben die Stärke der Synapsen drastisch reduziert und die Zellverbindungen dann weiter beobachtet", erläutert Oertner. Das Ergebnis nach sieben Tagen war verblüffend. "50 Prozent der manipulierten Synapsen lösten sich auf, die anderen 50 Prozent kehrten in den Ausgangszustand zurück", sagt Simon Wiegert aus dem ZMNH, Erstautor der jetzt veröffentlichten Studie. "Eine stabile Langzeitveränderung der Synapsen gibt es offenbar nicht. Demnach muss das Langzeitgedächtnis auch anders als bislang angenommen funktionieren."
"Analoge" und "digitale" Speicherung im Gehirn
Die Studie legt den Wissenschaftern zufolge den Schluss nahe, dass das Gehirn ähnliche Strategien wie ein digitaler Computer verwendet, um Informationen über lange Zeiträume zu speichern. Dabei speichert der Hippocampus zunächst Information in "analoger" Form, indem die Stärke der Synapsen verändert wird. Doch dieser Zustand ist instabil. Nach wenigen Tagen wird diese analoge Speicherung durch eine "digitale" Form der Speicherung ersetzt – einige Synapsen fallen aus, andere kehren in den Ausgangszustand zurück. "Digitale Speicherung ist wesentlich weniger anfällig für langsamen Zerfall. Das könnte erklären, wieso wir uns an Schlüsselerlebnisse aus Kindheit und Jugend bis ins hohe Altern erinnern", so Wiegert. (red, derstandard.at)
Abstract
PNAS: Long-term depression triggers the selective elimination of weakly integrated synapses
Nota.
Ehrlich gesagt verstehe ich nicht recht, was daran 'digital' sein soll. -
Ich kann mir allerdings vorstellen, dass sie in dieser Meldung mit analog und digital nur den Umstand meinen, dass die Veränderungen hier kontinuierlich 'gleiten', dort in diskreten 'Sprüngen' dargestellt werden. Das ist aber nur eine technische Konsequenz der Digitalisierung, nicht ihr Wesen. Wesentlich unterscheiden sich der analoge und der digitale Darstellungsmodus darin, dass hier Bilder angeschaut und dort mit Bedeutung verknüpfte Zeichen entziffert werden.
Wenn, wie im herkömmlichen Celluloidfilm, viele Bilder sehr schnell hintereinander abgespult werden, wird der Film in tausenden diskreten Sprüngen abgespielt - und trotzdem bleibt die Wiedergabe analog.
Bilder können verschwimmend 'ineinander übergehen'; man sieht immer, was man sieht. Das lässt sich am besten mit dem (digitalen!) Verfahren des morphing veranschaulichen; prominentes Beispiel die Schluss- sequenz in dem Black&white-Video von Michael Jackson: viele Gesichter aus sämtlichen Menschenrassen gehen nahtlos ineinander über - irgendein Gesicht, und sei es noch so 'künstlich', ist in jedem Moment zu erkennen. Arabische Ziffern lassen sich dagegen nicht 'morphen'. Wollen Sie eine 3 in eine 7 verwandeln, ist an irgendeinem Punkt die Drei nicht mehr erkennbar, die Sieben aber noch lange nicht in Sicht. - Ist nicht aber auch dies Gebilde ein 'Zeichen'? - Zeichen wofür? Die Bedeutung ist verloren gegangen. Ein Zeichen wäre es nur in einem anderen (Bedeutungs-)System.*
Dies ist das ganze Mysterium unseres 'Bewusstseins', versteckt in der Frage, ob die Sprache vor dem Denken oder das Denken vor der Sprache 'da war': Unsere Sinneswahrnehmungen - sehen, hören, riechen, tasten - geben uns ein 'anschauliches', analoges Bild der Welt. Wenn wir es wiedergeben - andern mitteilen oder im inneren Gespräch darüber reflektieren -, stellen wir es im digitalen Zeichensystem der Sprache dar. Wo - an welcher 'Stelle' - und wie hat die Übersetzung aus dem einen ins andere stattgefunden? Das wäre nämlich genau die Stelle, wo das Ich auftritt: das Subjekt, das sich im Wahrnehmungsakt von seinem Gegenstand unterscheidet, indem es ihm eine Bedeutung gibt; ihn 'bedeutet'. Mit andern Worten, das wäre der Akt der Symbolisierung.
Das wäre wirklich eine Revolution in der Hirnforschung: wenn im neuronalen Gewebe selbst eine Umwandlung fließender elekrochemischer Ströme in festgestellte Symbolzeichen zu beobachten wäre; etwa im Moment des Übergangs aus dem Arbeits- in das Langzeitgedächtnis.
Aber dazu würde man vielleicht doch noch zwei, drei Versuchsreihen mehr abwarten wollen.
JE
*) Zwischen 3 und 7 entsteht irgendwann /. Auf meiner Tastatur hat es eine virtuelle Bedeutung, je nachdem, oder es könnte eine kursive lateinische I sein. Je nach System eben. Aber außerhalb eines Systems ist es nur ein schräger Strich.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen