Dienstag, 12. November 2013

Moral nur für Ausgeschlafene.

 
aus Die Presse, Wien, 12.11.2013                                                      Ulla Trampert  / pixelio.de
 
Allenfalls am Morgen ist die Moral munter 
Das Gehirn ist wie ein Muskel, es wird im Lauf des Tages müde. Und das Gewissen wird es auch, sofern es da ist.

 


Dass der Faule am Abend fleißig wird, das weiß man. Aber dass er dann auch noch die Moral fahren lässt – und nicht nur er, sondern der Fleißige auch –, ist doch eine Überraschung. Und sie hat nichts damit zu tun, dass Übeltäter gern den Schutz der Dunkelheit suchen: Diese Taten sind geplant, von Menschen, die auf gesellschaftliche Regeln und göttliche Gebote pfeifen und exakt so handeln, wie es etwa der Philosoph Thomas Hobbes gesehen hat – der Mensch ist des Menschen Wolf –, oder wie die nackte Ökonomie es will, der es um Maximierung des Nutzens und Minimierung des Risikos geht.

In deren Logik mag einer, der auf eine Tankstelle zufährt, darüber nachdenken, wie viel Geld wohl in der Kasse ist, wie viel Gegenwehr er zu erwarten hätte, und wie hoch die Strafe beim Erwischtwerden ist. So denken natürlich die wenigsten, die eine Tankstelle ansteuern, alle anderen können allenfalls in Versuchung kommen, ein harmloses Gesicht zu machen, wenn die Frau hinter der Kasse zu viel Wechselgeld herausgibt.

Diese Versuchung wächst, je älter der Tag ist. In der Früh stehen die meisten mit guten Kräften auf, auch mit guten Moralkräften. Aber beide ermatten, und es gibt schon lange den Verdacht, dass das Gehirn funktioniert wie ein Muskel: Nach Anstrengung braucht es Erholung, das hat sich bisher vor allem in Tests gezeigt, in denen Probanden unter Stress gesetzt wurden. Danach waren sie viel leichter zum Lügen und Betrügen bereit.

Aber es braucht überhaupt keinen besonderen Stress, der ganz normale Alltag reicht, das hat sich gerade in den Labors von Maryam Kouchaki (Harvard) und Isaac Smith (University of Utah) gezeigt. Sie haben getestet, ob und wie das moralische Handeln sich im Lauf eines Tages ändert: Auf einem PC-Schirm war ein Quadrat zu sehen, es war in der Mitte geteilt, in der rechten und der linken Hälfte erschienen Punkte. Die Testpersonen mussten die zählen, für die Mühe gab es Geld.

Aber nicht etwa für die Gesamtzahl der entdeckten Punkte, sondern so: Waren in der rechten Hälfte mehr Punkte, gab es fünf Cent – die Tests liefen über viele Runden, es kam etwas zusammen –, eine Überzahl links brachte hingegen nur 0,5 Cent.

Der Köder wirkte am Nachmittag viel stärker als in der Früh: Probanden meldeten dann häufiger eine Überzahl rechts (Psychological Science, 28.10.).Die Forscher nennen das den „Moraleffekt des Morgens“, aber man kann nicht bei jedem darauf setzen und sich auf der sicheren Seite wähnen, wenn man etwa für Gehaltsverhandlungen oder Gebrauchtwagenkäufe um besonders frühe Termine bittet.

Denn der Effekt zeigt sich nicht bei allen gleich: Mit der Moral lassen nur die nach, die mit ihr aufgestanden sind. Wer bei den Tests morgens schon die Balken sich biegen ließ, tat es am Abend nicht viel mehr.

E-Mails: juergen.langenbach@diepresse.com



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