aus Badische Zeitung, 13. 11. 2013
Sachbuchkritik von "Leibniz, Newton und die Erfindung der Zeit"
In "Leibniz, Newton und die Erfindung der Zeit" berichtet Thomas de Padova von der Wissenschaft des 17. Jahrhunderts.
Was ist Zeit? Meistens knapp. Darauf hätten sich Gottfried Wilhelm Leibniz (1646 – 1716) und Isaac Newton (1642 – 1727) vielleicht einigen können – bevor sie sich zerstritten. Anfangs loben sie in ihrem Briefwechsel noch jeweils das Genie des anderen. Nachher wirft Newton Leibniz vor, dieser habe sein Leben damit vergeudet, Briefe zu schreiben, statt wie er selbst nach der Wahrheit zu suchen. Sogar die Politik schaltet sich 1716 in den Gelehrtenzwist ein. Prinzessin Caroline, später Königin von Großbritannien und Irland, versucht zu vermitteln. Leibniz hält eine Aussöhnung für vorstellbar. Newton weist die Offerte zurück.
In "Leibniz, Newton und die Erfindung der Zeit" erzählt der Wissenschaftspublizist Thomas de Padova vom Leben und Streiten zweier wissenschaftlicher Genies. Ihre Forschungen und sehr unterschiedlichen Lebensläufe bettet er in ein Bild der Epoche ein: In den 1660er Jahren entstehen wissenschaftliche Akademien, die Londoner Royal Society und die Pariser Académie des Sciences. Newton legt die Grundsteine der Mechanik. Leibniz baut erste Rechenautomaten.
De Padova verblüfft auch mit kleinen, alltäglichen Dingen: Chronisten halten es für bemerkenswert, dass Leibniz durchschlafe – nicht, weil damals übermäßig viele Menschen unter Schlafstörungen gelitten hätten. Licht ist teuer, daher sind die Nächte lang. Leibniz’ Zeitgenossen gehen früh zu Bett, stehen nachts allerdings wieder auf. Sie plaudern, beten oder spielen, bevor sie sich zum "zweiten Schlaf" niederlegen.
Von der Sonnenuhr zur Pendeluhr
Wissenschaft bemüht De Padova im richtigen Maß für ein populäres Sachbuch. Schließlich sind viele potenzielle Leser mit Newtons und Leibniz’ Kerndisziplinen, der Mathematik und der Physik, vermutlich nicht sehr vertraut. Mit der Zeit zwar auch nicht, weil sie dauernd davon läuft, aber dazu finden sich leichter Bezüge. So stellt der Autor diese ungreifbare Größe in den Mittelpunkt.
Wie die Zeit verrinnt, wird zuerst mit Sonnenuhren bestimmt. Auf den Wänden von Kirchen und Klöstern werfen Stäbe wandernde Schatten über Felder mit Strichen oder Zahlen. Den Sonnenuhren verdanken wir die Position der Zwölf auf dem Zifferblatt und die Laufrichtung unserer Uhrzeiger. Bald gibt es mobile Sonnenuhren für unterwegs. Die gehen aber nur richtig, wenn ihr Stab parallel zur Erdachse steht. Darum entwickeln Uhrmacher Reisesonnenuhren mit eingebautem Kompass.
Die Zeitmessung verbessert sich 1657 durch Christiaan Huygens’ Pendeluhr immens. Gelehrte pendeln damals eifrig: im Vakuum, auf Schiffen, kreisförmig. Der italienische Jesuitenpater Giambattista Riccioli sucht ein Pendel, das jede Sekunde von einer zur anderen Seite schwingt. Er schätzt die Pendellänge ab und zählt mit Glaubensbrüdern in Schichten die Ausschläge über sechs Stunden – 21706 statt berechneter 21660 – und zweimal über 24 Stunden (rund 88000 statt 86640). Danach verweigern die anderen Padres ihre Mitarbeit. 1675 legt Huygens die Uhr mit Spiralfeder und Unruh vor. Ein Londoner Uhrmacher erfindet gegen 1682 die Stoppfunktion. Für Pferde- und Laufrennen beginnt das Zeitalter des "match against time", des Wettlaufs gegen die Zeit. In der Arbeitswelt verschärfen sich der Takt und die Disziplin. Man spricht neuerdings von "Pünktlichkeit". Gegen Ende des 17. Jahrhunderts wird die Zeit enger.
Gleichzeitig baut sich der Gelehrtenkrieg auf. Es geht um die Infinitesimalrechnung. Mit ihr lassen sich mathematische Funktionen bei unendlich kleinen (infinitesimalen) Veränderungen untersuchen. "Den hässlichen Prioritätsstreit (... ) brechen weder Leibniz noch Newton vom Zaun, sondern Newtons übereifrige Anhänger", schreibt de Padova. Als erster behauptet ein Schweizer Astronom und glühender Newton-Verehrer, Leibniz habe bei dem Briten abgeschrieben, selbst aber nichts zur Infinitesimalrechnung beigetragen. Leibniz kontert ungeschickt. Er veröffentlicht anonym Texte, die Newton Ideenklau unterstellen. Dieser gibt seine Zurückhaltung auf. Zum Präsidenten der Royal Society gewählt, ruft er in der Akademie eine "unabhängige" Kommission ins Leben. Die befindet, Newton sei alleiniger Urheber, Leibniz ein Plagiator.
Leibniz’ Stern sinkt. Der Verfasser von mehr als 15 000 Briefen und 50 000 Abhandlungen verzettelt sich. Ins Grab bringen ihn Gichtattacken. Fast unbeachtet wird Deutschlands berühmtester Mathematiker und Philosoph in der Neustädter Kirche bestattet. Eine Grabplatte erhält seine letzte Ruhestätte laut de Padova erst im 19. Jahrhundert. Newton bekommt ein prunkvolles Staatsbegräbnis. Er wird in der Westminster Abbey beigesetzt, als – elf Jahre nach Leibniz’ Tod – seine Zeit abgelaufen ist.
Von dieser hatten die beiden verschiedene Vorstellungen. Newton betrachtete Zeit als etwas Absolutes, das alles Geschehen umgibt. Für Leibniz war Zeit relativ: Sie hänge vom Betrachter ab, der Ursachen und ihre Wirkungen erkennt und daraus eine Zeitordnung konstruiert. Newton erhielt zunächst – wie im Infinitesimalstreit – mehr Zustimmung. Dann erklärt Albert Einstein Anfang des 20. Jahrhunderts in seiner Relativitätstheorie: Uhren, die sich im Verhältnis zum Betrachter bewegen, laufen schneller oder langsamer. Ein später Triumph für Leibniz. Auch bezüglich der Infinitesimalrechnung rehabilitiert ihn die Fachwelt: Sie geht heute davon aus, dass er und Newton unabhängig voneinander darauf gekommen sind.
Thomas de Padova: Leibniz, Newton und die Erfindung der Zeit. Piper Verlag, München 2013. 352 Seiten, 22,99 Euro
Nota.
Weder Leibniz noch Newton dürften gefunden haben, dass ihre Zeit knapp war; höchstens gegen Lebensende, dass sie knapper wurde. Knapp war die Zeit im siebzehnten Jahrhundert nur für ein paar frühe Londoner businessmen, und die Staatsdiener Leibniz und Newton konnten Wissenschaft treiben, weil sie dafür die Muße hatten. Muße war ein aristokratischer Lebensstil, Eile war vulgär.
Wäre die Zeit schon früher knapp gewesen, wären früher exakte Messinstrumente erfunden worden, weil man sie gebraucht hätte. Das hat man aber nicht. An den gotischen Kathedralen befanden sich mechanische Uhren. Aber sie gingen nicht richtig. Das mussten sie auch nicht. Es war Mittag in der Stadt, wenn die Hauptkirche zwölfmal läutete. In jeder Stadt in einem andern Moment - es verkehrten ja keine Züge, die pünktlich sein mussten. Und so weiter.
Wenn das in dem Buch kein Thema ist, taugt es nicht viel. Aber vielleicht fand es nur der Referent nicht wichtig genug.
JE
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