Was ist Risiko?
Nachdenken über einen schwer zu fassenden Begriff am International Mountain Summit in Brixen
Nachdenken über einen schwer zu fassenden Begriff am International Mountain Summit in Brixen
Der 5. International Mountain Summit in Brixen
hat versucht, sich dem Begriff Risiko aus unterschiedlichen
Perspektiven anzunähern. Das ist mutig und interessant. Aber auch
äusserst schwierig, wie der Verlauf der Diskussion zeigte.
von Walter Aeschimann
...Risiko ist ein relativer und schwer zu fassender Begriff. Das zeigten schon diese beiden Gäste, die am 5. International Mountain Summit (IMS) in Brixen/Südtirol auf die Bühne traten. Unter dem Titel «Leute, riskiert!», der als Aufforderung, Befehl oder gar als Drohung aufzufassen ist, luden die Macher am 22. Oktober zur Diskussion. Damit die Runde nicht zum Schulterklopfen unter Elite-Alpinisten verkommt, war das Podium richtigerweise interdisziplinär besetzt.
...Risiko ist ein relativer und schwer zu fassender Begriff. Das zeigten schon diese beiden Gäste, die am 5. International Mountain Summit (IMS) in Brixen/Südtirol auf die Bühne traten. Unter dem Titel «Leute, riskiert!», der als Aufforderung, Befehl oder gar als Drohung aufzufassen ist, luden die Macher am 22. Oktober zur Diskussion. Damit die Runde nicht zum Schulterklopfen unter Elite-Alpinisten verkommt, war das Podium richtigerweise interdisziplinär besetzt.
Als Stargast war Richard David
Precht eingeladen, der deutsche Philosoph, derzeit einer der besonders
Angesagten in den Medien. Er freue sich, begann er seinen
«Impulsvortrag», dass die Zuhörer das Risiko eingegangen seien, «etwas
Philosophisches anzuhören». Er stemmte das Thema auf die
gesellschaftspolitische Ebene. Wir seien eine risikolose Gesellschaft
geworden und riskierten dabei einiges: «Gehen wir nicht zu hohe Risiken
ein, indem wir nicht auf gesellschaftliche Risiken eingehen?» Die
Politik funktioniere heute so. Und das sei falsch. Wir seien latent
davor bedroht, führte Precht weiter aus, uns in der «Komfortzone»
auszuruhen und «eine Kultur der Leidvermeidung zu etablieren». Die
Geschichte lehre aber, dass Gesellschaften, die sich nicht veränderten,
untergingen. Wie könnte man dem begegnen? Das fange in der Erziehung
unserer Kinder an. Wer sich anpasse und nichts riskiere, komme am besten
durch, laute das gängige Modell. Jeder Mensch, der lebe, gehe aber
Risiken ein und könne scheitern. «Das Leben ist eine Artistik des
Misslingens oder Gelingens.» Wir müssten dabei eine Fehlerkultur
entwickeln. Scheitern oder Fehler dürften nicht bestraft werden.
Trotz hoher Eloquenz gelang Precht
keine Definition, auf die man im Verlauf der Diskussion hätte zugreifen
können. Auch klappte der Übergang zum Thema Risiko im Extremsport nicht
optimal. Im alltäglichen Sprachgebrauch wird kaum zwischen Wagnis,
Risiko, Gefahr oder Abenteuer unterschieden. Ausdrücke wie «gewagt»,
«riskant», «gefährlich» oder «abenteuerlich» erscheinen austauschbar.
Die Wissenschaft hingegen differenziert. Das Wagnis ist ethisch positiv
konnotiert. Das Risiko jedoch ist nach «gängiger Definition ein Ereignis
mit der Möglichkeit negativer Auswirkungen». Ein Raser auf der Autobahn
riskiert sein Leben, er wagt es nicht.
Risiko als Chance
Es lag deshalb an Oswald Oelz, das
Thema in den Kernbereich des IMS zurückzuholen. Der frühere Chefarzt am
Stadtspital Triemli in Zürich, der Höhenmediziner und Bergsteiger
vermag dem Risiko durchaus Positives abzuringen. Er definiert das als
«Chance». Oft werde er gefragt, warum er in die Berge gehe. Die Antwort
sei einfach: «Aus Neugier und Vergnügungssucht. Es macht mir Spass.» Die
Nullrisikogesellschaft sei zu langweilig. Wir seien nicht dazu gemacht,
vor dem Computer Zahlen hin und her zu schieben. «Ich erhole mich am
besten, wenn ich meine archaischen Systeme aktiviere.» Sein bester
Adrenalintrip sei ein erzwungener gewesen. 1979 war er mit Reinhold
Messner in die Südwestwand der Ama Dablam eingestiegen, um Peter Hillary
zu retten. Der Neuseeländer war hilflos und schwer verletzt am 6814
Meter hohen Berg im Himalaja blockiert. «Das Klettern in dieser Stein-
und Eisschlaghölle war mein intensivstes Ganzheitserlebnis.»
Mit derartigen Wagniskompetenzen
konnte Arne Dietrich, der letzte Gast, der auf die Bühne trat, nicht
brillieren. Der Professor für Neurowissenschaften, der an der American
University in Beirut lehrt, kann allenfalls seinen Lebensentwurf
entgegensetzen: «Das Risiko, das ich eingehe, ist beruflich. Ich stelle
Theorien auf und muss sie in der Fachwelt verteidigen.» Er befasst sich
mit der zentralen Einheit der Nervensysteme, den Neuronen, und
analysiert beispielsweise Kreativität oder Gefühle wie Angst und Glück.
Vieles basiert auf theoretischen Modellen.
Risikobereitschaft sei eine
Charaktereigenschaft. Risikobereitschaft und Risikoeinschätzung seien
aber völlig unterschiedliche Dinge, sagte Dietrich. Warum, wollte Precht
nun wissen, gebe es Menschen, die höchste Risiken in den Bergen
eingingen, aber ein Leben lang in einer durchschnittlich langweiligen
Beziehung verharrten. Das würde er auch gerne wissen, meinte Dietrich.
Aber da sei die Wissenschaft noch nicht so weit, die einzelnen Areale
des Hirns zu untersuchen. Das Risiko in der Liebe sei eine völlig andere
Grenzerfahrung als etwa ein Sologang an der Annapurna-Südwand. Auch
über eine womöglich andersgeartete Risikobereitschaft von Mann und Frau
gab es keine konkreten Antworten aus der Neurowissenschaft.
Undifferenzierter Begriff
Der erste Teil des Abends
gestaltete sich durchaus spannend. Umso verwirrender verlief der zweite
Teil. Es gelang Moderator Florian Rudig nicht, die differenten
Persönlichkeiten in eine kreative Diskussion zu führen. Ohne erkennbaren
Zusammenhalt oszillierten die Statements zwischen sozialdarwinistischen
Beichten, politisch motivierten Rapporten oder stolz proklamiertem
Heldentum. Möglich, dass Prechts lässige Souveränität die Runde etwas
hemmte. Der Hauptgrund wahr wohl das Konzept. Es wäre klug gewesen, eine
Definition als Basis festzulegen. Den Risikobegriff auf die
gestrandeten Menschen in Lampedusa und die europäischen
Wohlstandsabenteurer anzuwenden, ohne sorgfältig zu differenzieren, ist
unzulässig. Es macht offensichtlich einen Unterschied, ob jemand sein
Leben aus existenzieller Not riskiert oder aus unerträglicher
Langeweile, aus Geltungs- oder Vergnügungssucht.
Gibt es für Wisnierska und Hellwig
eine Risikobereitschaft danach? «Nie wieder!», hatte sich Wisnierska
gesagt. Bei den Weltmeisterschaften in Mexiko am 30. Januar 2009 brach
sie bei extremen Bedingungen den Wettkampf ab. Sie ist seither keine
Konkurrenz geflogen. Der Schweizer Stefan Schmoker kam damals ums Leben.
Für Hellwig ist die Frage nicht so klar. Den Angehörigen möchte er
alles nicht mehr antun, sagte er. Aber für eine Geschichte, die sich
lohne, müsse er weiterhin vor Ort recherchieren.
Nota.
Risikobereitschaft ist erstens ein Spezifikum der Conditio humana. Sie ist zweitens das markanteste Kennzeichen der spezifischen Kindlichkeit von Homo sapiens. Und sie ist drittens der spezifische Beitrag des Männlichen zu unserer Gattungsgeschichte.
Uff, das ist viel, was?
Das lässt sich noch toppen mit Schillers Satz, der Mensch sei "nur da ganz Mensch, wo er spielt".
Wo ist das der Zusammenhang?
Ganz einfach. Der Reiz beim Spiel ist der offene Ausgang. "Spiel ist Risiko, und das Risiko ist sein Zweck." Im Spiel muss man was wagen. Und hofft dabei immer, das Risiko möge Spiel bleiben, aber das tut es nicht, denn dann wäre es kein Risiko. Aber versuchen muss mann's.
JE
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