Dienstag, 5. November 2013

Risiko und Spiel.

aus NZZ, 1. 11. 2013


Was ist Risiko?
Nachdenken über einen schwer zu fassenden Begriff am International Mountain Summit in Brixen

Der 5. International Mountain Summit in Brixen hat versucht, sich dem Begriff Risiko aus unterschiedlichen Perspektiven anzunähern. Das ist mutig und interessant. Aber auch äusserst schwierig, wie der Verlauf der Diskussion zeigte.

von Walter Aeschimann 

...Risiko ist ein relativer und schwer zu fassender Begriff. Das zeigten schon diese beiden Gäste, die am 5. International Mountain Summit (IMS) in Brixen/Südtirol auf die Bühne traten. Unter dem Titel «Leute, riskiert!», der als Aufforderung, Befehl oder gar als Drohung aufzufassen ist, luden die Macher am 22. Oktober zur Diskussion. Damit die Runde nicht zum Schulterklopfen unter Elite-Alpinisten verkommt, war das Podium richtigerweise interdisziplinär besetzt.

Als Stargast war Richard David Precht eingeladen, der deutsche Philosoph, derzeit einer der besonders Angesagten in den Medien. Er freue sich, begann er seinen «Impulsvortrag», dass die Zuhörer das Risiko eingegangen seien, «etwas Philosophisches anzuhören». Er stemmte das Thema auf die gesellschaftspolitische Ebene. Wir seien eine risikolose Gesellschaft geworden und riskierten dabei einiges: «Gehen wir nicht zu hohe Risiken ein, indem wir nicht auf gesellschaftliche Risiken eingehen?» Die Politik funktioniere heute so. Und das sei falsch. Wir seien latent davor bedroht, führte Precht weiter aus, uns in der «Komfortzone» auszuruhen und «eine Kultur der Leidvermeidung zu etablieren». Die Geschichte lehre aber, dass Gesellschaften, die sich nicht veränderten, untergingen. Wie könnte man dem begegnen? Das fange in der Erziehung unserer Kinder an. Wer sich anpasse und nichts riskiere, komme am besten durch, laute das gängige Modell. Jeder Mensch, der lebe, gehe aber Risiken ein und könne scheitern. «Das Leben ist eine Artistik des Misslingens oder Gelingens.» Wir müssten dabei eine Fehlerkultur entwickeln. Scheitern oder Fehler dürften nicht bestraft werden.

Trotz hoher Eloquenz gelang Precht keine Definition, auf die man im Verlauf der Diskussion hätte zugreifen können. Auch klappte der Übergang zum Thema Risiko im Extremsport nicht optimal. Im alltäglichen Sprachgebrauch wird kaum zwischen Wagnis, Risiko, Gefahr oder Abenteuer unterschieden. Ausdrücke wie «gewagt», «riskant», «gefährlich» oder «abenteuerlich» erscheinen austauschbar. Die Wissenschaft hingegen differenziert. Das Wagnis ist ethisch positiv konnotiert. Das Risiko jedoch ist nach «gängiger Definition ein Ereignis mit der Möglichkeit negativer Auswirkungen». Ein Raser auf der Autobahn riskiert sein Leben, er wagt es nicht.

Risiko als Chance

Es lag deshalb an Oswald Oelz, das Thema in den Kernbereich des IMS zurückzuholen. Der frühere Chefarzt am Stadtspital Triemli in Zürich, der Höhenmediziner und Bergsteiger vermag dem Risiko durchaus Positives abzuringen. Er definiert das als «Chance». Oft werde er gefragt, warum er in die Berge gehe. Die Antwort sei einfach: «Aus Neugier und Vergnügungssucht. Es macht mir Spass.» Die Nullrisikogesellschaft sei zu langweilig. Wir seien nicht dazu gemacht, vor dem Computer Zahlen hin und her zu schieben. «Ich erhole mich am besten, wenn ich meine archaischen Systeme aktiviere.» Sein bester Adrenalintrip sei ein erzwungener gewesen. 1979 war er mit Reinhold Messner in die Südwestwand der Ama Dablam eingestiegen, um Peter Hillary zu retten. Der Neuseeländer war hilflos und schwer verletzt am 6814 Meter hohen Berg im Himalaja blockiert. «Das Klettern in dieser Stein- und Eisschlaghölle war mein intensivstes Ganzheitserlebnis.»

Mit derartigen Wagniskompetenzen konnte Arne Dietrich, der letzte Gast, der auf die Bühne trat, nicht brillieren. Der Professor für Neurowissenschaften, der an der American University in Beirut lehrt, kann allenfalls seinen Lebensentwurf entgegensetzen: «Das Risiko, das ich eingehe, ist beruflich. Ich stelle Theorien auf und muss sie in der Fachwelt verteidigen.» Er befasst sich mit der zentralen Einheit der Nervensysteme, den Neuronen, und analysiert beispielsweise Kreativität oder Gefühle wie Angst und Glück. Vieles basiert auf theoretischen Modellen.

Risikobereitschaft sei eine Charaktereigenschaft. Risikobereitschaft und Risikoeinschätzung seien aber völlig unterschiedliche Dinge, sagte Dietrich. Warum, wollte Precht nun wissen, gebe es Menschen, die höchste Risiken in den Bergen eingingen, aber ein Leben lang in einer durchschnittlich langweiligen Beziehung verharrten. Das würde er auch gerne wissen, meinte Dietrich. Aber da sei die Wissenschaft noch nicht so weit, die einzelnen Areale des Hirns zu untersuchen. Das Risiko in der Liebe sei eine völlig andere Grenzerfahrung als etwa ein Sologang an der Annapurna-Südwand. Auch über eine womöglich andersgeartete Risikobereitschaft von Mann und Frau gab es keine konkreten Antworten aus der Neurowissenschaft.

Undifferenzierter Begriff

Der erste Teil des Abends gestaltete sich durchaus spannend. Umso verwirrender verlief der zweite Teil. Es gelang Moderator Florian Rudig nicht, die differenten Persönlichkeiten in eine kreative Diskussion zu führen. Ohne erkennbaren Zusammenhalt oszillierten die Statements zwischen sozialdarwinistischen Beichten, politisch motivierten Rapporten oder stolz proklamiertem Heldentum. Möglich, dass Prechts lässige Souveränität die Runde etwas hemmte. Der Hauptgrund wahr wohl das Konzept. Es wäre klug gewesen, eine Definition als Basis festzulegen. Den Risikobegriff auf die gestrandeten Menschen in Lampedusa und die europäischen Wohlstandsabenteurer anzuwenden, ohne sorgfältig zu differenzieren, ist unzulässig. Es macht offensichtlich einen Unterschied, ob jemand sein Leben aus existenzieller Not riskiert oder aus unerträglicher Langeweile, aus Geltungs- oder Vergnügungssucht.

Gibt es für Wisnierska und Hellwig eine Risikobereitschaft danach? «Nie wieder!», hatte sich Wisnierska gesagt. Bei den Weltmeisterschaften in Mexiko am 30. Januar 2009 brach sie bei extremen Bedingungen den Wettkampf ab. Sie ist seither keine Konkurrenz geflogen. Der Schweizer Stefan Schmoker kam damals ums Leben. Für Hellwig ist die Frage nicht so klar. Den Angehörigen möchte er alles nicht mehr antun, sagte er. Aber für eine Geschichte, die sich lohne, müsse er weiterhin vor Ort recherchieren.


Nota.

Risikobereitschaft ist erstens ein Spezifikum der Conditio humana. Sie ist zweitens das markanteste Kennzeichen der spezifischen Kindlichkeit von Homo sapiens. Und sie ist drittens der spezifische Beitrag des Männlichen zu unserer Gattungsgeschichte.

Uff, das ist viel, was?

Das lässt sich noch toppen mit Schillers Satz, der Mensch sei "nur da ganz Mensch, wo er spielt".

Wo ist das der Zusammenhang?

Ganz einfach. Der Reiz beim Spiel ist der offene Ausgang. "Spiel ist Risiko, und das Risiko ist sein Zweck." Im Spiel muss man was wagen. Und hofft dabei immer, das Risiko möge Spiel bleiben, aber das tut es nicht, denn dann wäre es kein Risiko. Aber versuchen muss mann's.
JE

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